Teil I:

Leben und Werk einer ehemaligen intimen Schülerin Rudolf Steiners

Von Imre Boejtes

Mit dieser Studie möchte der Verfasser eine in anthroposophischen Kreisen wenig bekannte Persönlichkeit darstellen, die sich unter dem Pseudonym Intermediarius verbirgt. Wie verschleiert in ihrer Anonymität steht diese Persönlichkeit auf der großen Bühne der Esoterik. Die vorliegende Arbeit möchte zu ihrer „Entschleierung“ beitragen. In einem ersten Teil wird versucht, die Identität des Intermediarius zu enthüllen, wobei auch ihr Lebenslauf bekannt wird. Im zweiten Teil werden die schweren Einwände der Anhänger Intermediarius gegen die Anthroposophie aufgezeigt. Der dritte Teil ist der esoterischen Lehre des Intermediarius selbst gewidmet. Der vierte und letzte Teil bringt seitens des Verfassers einige Kritiken zum Werk des Intermediarius.

 

Zum ersten Mal tauchte der Name „Intermediarius“ 1949 in anthroposophischen Schriften auf. Damals wurde aus dem Leserkreis der Zeitschrift Studienhefte für Anthroposophie eine Frage über „ein interessantes und bedeutsames Werk“ gestellt. Im Leserbrief wurde die Bitte geäußert, dass der Herausgeber, Maximilian Rebholz, zu diesem Werk Stellung nimmt.[1] Bei diesem Werk handelte es sich um vier Bücher, dessen Autor mit einem Pseudonym „Intermediarius“ (d.h. Vermittler) unterzeichnete. Mit der gestellten Frage wollte der Leser wissen, ob man es hier mit einer originalen christlich-esoterischen Leistung zu tun hatte oder mit einer Art katholischen Geisteswissenschaft, um der Anthroposophie das Wasser abzugraben.

In seinem Antwortschreiben musste M. Rebholz am Schluss seiner ausführlichen Darstellung des Werkes des Intermediarius ein sehr vorsichtiges Urteil äußern. Er meinte aber, dass dieses Werk die größte Aufmerksamkeit der Anthroposophen verdient, weil es viel Parallelen mit dem Werke Rudolf Steiners aufweist. Er schrieb, dass „ein Urteil darüber, ob es sich bei diesen vier Büchern des Intermediarius um ein Plagiat im Dienste der katholischen Kirche handelt oder um eine originale esoterische Leistung, möchten wir uns vorläufig nicht erlauben. Die angeführten Parallelen brauchen nicht unbedingt ein Beweis des Plagiates zu sein.“

Ferner sagte er: „Epochal aber ist und bleibt das Werk auf alle Fälle hinsichtlich seiner Rolle, die es innerhalb des katholischen Glaubenskreises zu spielen bestimmt zu sein scheint. Denn alles, was bisher an christlicher Gnosis von der Kirche herausgestellt oder begünstigt wurde, um ein Gegengewicht zur Anthroposophie zu schaffen, ist bedeutungslos gegenüber dieser christlichen Esoterik des Intermediarius.“

Über die Identität des Intermediarius wusste damals M. Rebholz nur soviel, dass es sich um eine Holländerin mit Namen Johanna van der Meulen handelte, die sich in Locarno-Monti, Schweiz, niedergelassen hatte. Ob sie in irgendwelcher Beziehung zur Anthroposophie gestanden hatte, wusste er nicht. Das Interesse, diese Frage zu verfolgen, schien bei den Anthroposophen nicht vorhanden zu sein, so dass der Name und das Werk des Intermediarius wieder ignoriert wurden. Erst 1986 taucht sie wieder auf, aber indirekt, in einem ganz anderen Zusammenhang. In der durch H. Finsterlin herausgegebenen Zeitschrift Erde und Kosmos (1986, Nr. 1, S. 44), schreibt er am Schluss eines kritischen Aufsatzes über Valentin Tomberg Folgendes über Intermediarius:

„Es gibt Leute, die glauben, es wäre an der Zeit, die Anthroposophie mit dem Katholizismus zu verbinden. Dieser Wirrwarr wird ‚Hermetik‘ genannt. Sie stützen sich außer auf die ‚Grossen Arcana‘ (von Tomberg), auch auf die in den 20er Jahren erschienenen vier Bücher des Intermediarius. Diese vier Bücher enthalten allerlei aus der Geheimwissenschaft im Umriss abgeschriebenes, außer Reinkarnation und Karma, außer Ahriman. In der katholischen Geheimlehre, die Intermediarius verbreitet, wird das Prinzip des Bösen allein durch Luzifer vertreten. Es gibt keine Hinweise auf die Dreigliedrigkeit des Menschen und keine auf dessen unsterblichen Wesenskern = das Ich. Fast ist es unbegreiflich, dass sich Menschen finden, die so etwas der Anthroposophie vorziehen.“

Hier ist zu bemerken, dass Herr Finsterlin die Werke von Intermediarius offen-sichtlich nicht oder nur oberflächlich gelesen hat, sonst hätte er nicht solche falschen Aussagen gemacht!

Die Antwort in Bezug auf diese Stelle über Intermediarius von Prof. M. Kriele, Herausgeber der Werke von V. Tomberg[2], lautete wie folgt: „Von Intermediarius höre ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal […] Wie kommen Sie dazu, ihn mit Tomberg in Verbindung zu bringen?“ (Erde und Kosmos, 1986, Nr. 2, S. 35) – (Meine eigenen Untersuchungen haben keine Beziehung oder Bekanntschaft zwischen Intermediarius und V. Tomberg finden können.)

Im gleichen Heft der Zeitschrift (1986/2, S. 37-43) schreibt H. Finsterlin ferner: „Es ist noch kurz auf [Klaus Johannes] Brackers Zuschrift einzugehen. Er will mir einreden, dass Intermediarius sehr wohl das Ich, den unsterblichen Wesenskern des Menschen sowie Reinkarnation und Karma berücksichtige. Das aber, was er zum Beweis zitiert, sind reine Randbemerkungen ziemlich verklausulierter Art […] In der Anthroposophie stehen gerade diese Begriffe voll im Zentrum […]“[3]

Weiter schreibt er noch: „Bracker nimmt Bezug auf einen Kommentar, den Maximilian Rebholz im Jahre 1950 geliefert hat. […] Ich kannte Rebholz‘ Kommentar nicht, wurde erst durch Bracker darauf aufmerksam. Natürlich konnte und wollte ich in einer kurzen Bemerkung nichts Gleichwertiges beibringen. Die Ausführungen Brackers möchte ich doch nicht in meinem Heft bringen, denn sie sind eine Werbung für Intermediarius, wobei Bracker seinen Standpunkt vertritt und den meinen als auf mangelnden Studium beruhend und deshalb falsch hinstellt. Er kann eigentlich nicht erwarten, dass ich das aufnehme.“

So bringt H. Finsterlin den Text von M. Rebholz in seiner Zeitschrift (S. 45-48) und schreibt dazu: „Als Rebholz diese Besprechungen des Intermediarius schrieb (1950), gab es keine Initiativen von ‚Anthroposophen‘, die ihre Anthroposophie mit ihrem Katholizismus verbinden und solches zu tun auch anderen anraten wollten. Wäre ihm so etwas bekannt geworden, hätte er seinen Vorbehalten mit Sicherheit sehr viel deutlicheren Ausdruck verliehen. Das beweisen seine anthroposophischen Arbeiten! Intermediarius kann für Katholiken von Bedeutung sein, sie zum Begreifen der Anthroposophie vorzubereiten, aber er ist von keinerlei Bedeutung für die Schulung des Anthroposophen! Wer wird schon von einem rationalen Geist wie Rudolf Steiner übergehen wollen zu einer mehr subjektiv bestimmten Seherin?“

Wer war nun eigentlich Intermediarius – Johanna v.d. Meulen? Hatte sie eine Beziehung zur Anthroposophie oder sogar zu Rudolf Steiner? Eine vorläufige Antwort gab mir der deutsche Arzt Dr. Hubert Palm aus Konstanz-Wallhausen. Er hat die Autorenrechte an den Büchern von Intermediarius inne. In einem ersten Brief teilte er mir mit, dass Intermediarius doch während einiger Jahre eine der engsten Mitarbeiterinnen von Rudolf Steiner war. Weil am Goetheanum keine näheren Angaben über eine Frau namens Johanna v.d. Meulen als „enge Mitarbeiterin Rudolf Steiners“ zu finden waren, bat ich erneut Dr. Palm um weitere Auskünfte. Er antwortete, dass er Frl. van der Meulen persönlich gut gekannt habe, so dass er mir allerlei erzählen könnte und lud mich zu einem persönlichen Gespräch ein.

Dr. Palm, Jahrgang 1916, entdeckte das Werk des Intermediarius kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in Deutschland, als Medizinstudent. Dieses Werk beeindruckte ihn tief und erfüllte seine religiöse und okkulte Suche. Er suchte die Autorin persönlich auf. Sie wohnte in Locarno-Monti, Schweiz, wo sie ganz zurückgezogen eine kleine Gruppe von Menschen geistig führte. Es waren einige ehemalige Anthroposophen dabei, so Lew Kobylinskij-Ellis, ein russischer Emigrant, von dem noch ausführlicher zu sprechen sein wird. Dr. Palm wurde Schüler des Intermediarius und hielt sich deshalb öfters in ihrem Haus in Locarno auf. Als 1959 die Geisteslehrerin mit 85 Jahren starb, übernahm er den Nachlass des Intermediarius sowie die Urheberrechte ihres Werkes. Er gründete eine Stiftung und den Ordo-Verlag mit Sitz in Konstanz. Seitdem wurden Die Vier Bücher des Intermediarius zweimal aufgelegt. Ferner sind auch seine eigenen Bücher dort erschienen.[4]

Über die Persönlichkeit hinter dem Pseudonym „Intermediarius“ erfuhr ich, dass sie 1874 in Holland geboren wurde. Johanna van der Meulen, wie sie hieß, entstammte einer reichen und vornehmen Familie aus Amsterdam.

Johanna van der Meulen (1874 – 1959)

 

Die „Casa Fioretti“ in Locarno, wo sie später wohnte, gehörte ihrer Familie. Dieser Wohlstand ermöglichte ihr ein finanziell unabhängiges Leben. Mystisch veranlagt, fühlte sie sich sehr früh mit der katholischen Kirche verbunden, obwohl die Familie protestantisch war. Diese Verbundenheit bedeutete für sie aber keine konfessionelle Sturheit. Ihr höchstes Ideal bestand in dem Bild einer wiedervereinigten ökumenischen Kirche im Sinne Wladimir Solowjews. Durch ihre hellseherische Gabe erkannte sie, dass der alte „Glaube“ heute ergänzt werden muss durch eine neue „Weisheit“. Diese zwei Pole, „Glaube“ und „Weisheit“, sollten harmonisch in einer Synthese verschmelzen und das neue Christentum der Zukunft vorbereiten. Die Suche nach der „Weisheit“ führte sie in die Theosophische Gesellschaft. Sie wurde Mitglied der von Rudolf Steiner geleiteten deutschen Sektion der T.G. in Berlin. Sie fühlte sich zu R. Steiner hingezogen, besonders, weil er als einziger in der T.G. ein tieferes Verständnis für das Mysterium von Golgatha hatte. Sie wurde seine intime Schülerin. Nach einiger Zeit fühlte sie jedoch, dass sie sich von ihm zu distanzieren hätte. Ihre mehr „mystisch“ orientierten Anschauungen stimmten mit dem „Wissenschaftlichen“ von R. Steiner nicht mehr überein. Sie verließ die Gesellschaft, behielt aber lebenslang, wie Dr. Palm mir berichtete, großen Respekt gegenüber Rudolf Steiner und verleugnete ihn nie. Von einer übersinnlichen hohen Wesenheit empfing sie 1913 den Auftrag, ein erstes esoterisches Buch aus der Mysterienweisheit des Heiligen Gral zu schreiben. Bis 1927 sollten noch drei weitere Bücher aus dem Weisheitsschatz der Rosenkreuzer folgen. (Diese sollen in den nächsten Novalis-Ausgaben ausführlich betrachtet werden.) Es sei hier noch erwähnt, dass ihre Bücher bis heute keine große Resonanz gefunden haben – weder bei den Anthroposophen noch bei den Katholiken. Soviel zu den Mitteilungen von Dr. Palm.

 

Das Rätsel der Identität

Die Frage aber, warum „Johanna v.d. Meulen“ in der anthroposophischen Literatur nie erwähnt wird, blieb noch immer offen. Sie war doch immerhin eine „intime Schülerin“ R. Steiners, wie etwa die berühmte Mathilde Scholl oder eine Johanna Mücke!

Das Rätsel löste sich mir 1996 durch die Veröffentlichung von Heide Willichs Dissertation über Leben und Werk eines russischen Symbolisten.[5] In ihrer Arbeit (S. 179) schreibt sie in einem Zusammenhang, der später erläutert wird, dass Johanna van der Meulen in anthroposophischen Kreisen damals den Namen ihres Mannes trug und Johanna Po(o)lman(n) – Mo(o)y hieß! Erst nach ihrer Scheidung, gleichzeitig mit ihrem Austritt aus der Anthroposophischen Gesellschaft, nahm sie ihren Mädchennamen „van der Meulen“ wieder an.

Die gleiche Angabe findet man auch in einem 1997 erschienenen Buch über Andrej Belyj.[6] In dessen Namensregister steht unter dem Namen „Polman-Mooy“ auf Seite 354:

„… geboren van der Meulen, 1874-1959. Holländische Theosophin und Okkultistin, 1909 mit ihrem Mann aus der holländischen in die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft übergetreten und in den folgenden Jahren Teilnahme an Vortragszyklen von Steiner. Mitglied der Esoteric School. Ab 1912/13 begann sie sich gegen Steiner zu wenden und trat 1915 aus der A.G. aus. Sie hatte großen geistigen Einfluss auf (Kobylinskij)-Ellis, mit dem sie verbunden blieb. Veröffentlichte unter dem Pseudonym ‚Intermediarius‘.“

Dieser Hinweis macht es nun möglich, ihre Rolle im Kreis um Rudolf Steiner genauer zu verfolgen. – Der Name Kobylinskij-Ellis ist im Zusammenhang mit der kleinen Gruppe in Locarno schon erwähnt worden. Dieser Russe, der zum eifrigsten Anhänger des Intermediarius wurde, hinterließ durch sein Auftreten überall tiefe Spuren. Die Person Kobylinskij-Ellis liefert außerdem, durch seine enge Verbundenheit mit Johanna Polman-Mooy/Intermediarius, die wichtigsten biographischen Daten über sie. Eine gründliche Studie über Leben und Werk dieses erstaunlichen Mannes bietet das oben erwähnte Buch von Heide Willich. Es sei noch bemerkt, dass in Victor B. Fedjuschins Buch Russlands Sehnsucht nach Spiritualität (Novalis Verlag, 1988) im Kapitel „L. Kobylinskij-Ellis – Ein Wanderer zwischen Katholizismus und Anthroposophie“ ebenfalls beachtliche Angaben zu finden sind.

Wer war aber Lev Livovitsch Kobylinskij-Ellis?

 

Ellis – ein „Rebell“

1879 geboren, studierte er später Ökonomie an der Moskauer Universität und wurde Anhänger des Marxismus. Bald darauf wandte er sich aber von dieser Theorie ab, wurde zum Symbolisten und eifrigen Anhänger Baudelaires. Er entdeckte Dante, mit dessen Werk er sich sein Leben lang beschäftigte. In den von ihm organisierten literarischen Abenden in Moskau zeigte er eine außergewöhnliche Redegabe und einiges an schauspielerischem Talent. Leidenschaftlich in allem, was er unternahm, übertrug sich sein Charisma auf die Zuhörer. Er lernt Andrej Belyj kennen und befreundet sich ihm bald. Beide rufen den Kreis der „Argonauten“ ins Leben. Ihr künstlerisch-literarisches Ideal wollte die Ideen Wladimir Solowjews mit den Philosophien Schopenhauers und Nietzsches verbinden. Mit Belyj war er Mitarbeiter bei der symbolistischen Zeitschrift Vesy (die Waage) und gründete 1909 zusammen mit ihm und E. Metner den Verlag Musaget.

Diese symbolistische Zeit nimmt aber 1910 ein Ende und für Ellis begann ein neuer Lebensabschnitt.

In Moskau lernte er die Werke Rudolf Steiners kennen. Im Jahre 1911 brach er nach Berlin auf, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, um an den Zyklen von R. Steiner teilzunehmen. Dort fand er Quartier in der Motzstraße bei R. Steiner im Gartenhaus. Mit Übereifer stürzte er sich in die Meditationsübungen, die bei ihm dann zu heftigen Herzattacken und nächtlichen Alpträumen führten. Sein neues Ideal sah er auch im Christentum des Mittelalters, welches ihn zum Gedichteschreiben inspirierte („Stigmata“, Moskau 1911; „Argo“, 1914). Er folgte Rudolf Steiner bei allen seinen Vorträgen und wurde zu seinem fanatischen Anhänger. Gegenüber anderen Schülern zeigte er keine Toleranz. Diesbezüglich wird anekdotisch erzählt, dass R. Steiner nach einem Vortrag scherzend zu Ellis sagte: „Und Sie, Herr Ellis, Sie sind ein Rebell“, worauf Ellis antwortete: „O nein, Herr Doktor, ich bleibe Ihr treuer Ritter“ und auf die Menschen im Saale zeigend, sagte er: „Diese aber, diese müsste man alle verbrennen.“ (V. Fedjuschin, S. 191)

Rudolf Steiner, der Ellis’ Problem bezüglich der Freiheit erkannt hatte, äußerte sich 1917 Assja Turgenieff gegenüber folgendermaßen: „Wir leben in einer Zeit, wo alles getan werden muss, um die Freiheit zu wahren, in einer Zeit, die aber am wenigsten Verständnis und Neigung zur Freiheit hat. Hätte ich eine Peitsche genommen und Ellis gesagt, wie Rasputin es tat: Du Hundesohn, leg dich zu meinen Füssen … er wäre bis jetzt mein treuester Anhänger geblieben.“ (H. Willich, S. 133)

Über die Begeisterung von Ellis, die er überall übermäßig zeigte, sagte einmal R. Steiner zu M. Woloschina: „Ellis muss sprechen. Wenn man ihn ins Gefängnis einsperren oder wie Papageno ein Schlösschen an die Lippen hängen würde, fände er doch eine Möglichkeit zu reden.“ (V. Fedjuschin, S. 189)

Andrej Belyj, sein bester Freund, hat in seinen Erinnerungen über diese Zeit ausführlich berichtet.[7] Dort erfahren wir genau, wie es zu der Begegnung zwischen Kobylinskij-Ellis und Johanna Polman-Mooy kam. Belyj schreibt: „Ellis steigerte sich in Hass und Verachtung hinein gegen alle, die des Doktors ‚unwürdig‘ waren; nur er und wir [d.h. die kleine Dornacher russische Kolonie, Anm. d. Verf.], die gerade angereist waren, und noch Frau Polman-Mooy waren Steiners ‚würdig‘; auf Veranlassung Steiners, der ihr nahe gelegt hatte, ihre überschüssigen Kräfte zum Schutz des schutzlosen Ellis einzusetzen, betreute ihn Frau Polman-Mooy.“

Weiter schreibt Belyj speziell über Frau Polman-Mooy: „Die Aufmerksamkeit [Rudolf Steiners] äußerte sich dadurch, dass er Frau Polman-Mooy, seine ‚intime‘ Schülerin, die manchmal in seinem Auftrag gewisse esoterische Stunden durchführte, zu Ellis schickte; wir […] standen alle in engem Kontakt mit ihr; in den ersten Monaten bewährte sie sich als die ausgezeichnete Assistentin eines ‚Professors‘; der Doktor gab uns die Erlaubnis, sie in Fragen der Meditation zu konsultieren und unsere meditativen Erfahrungen mit ihr zu besprechen; sie hatte die Erlaubnis, uns anzuhören, wenn nötig zu helfen […] Außerdem erklärte sich Frau Mathilde Scholl, eine sehr kluge, ebenfalls ‚intime‘ Schülerin des Doktors, überraschenderweise bereit, uns im Deutschen zu unterrichten […]; zu einem regelrechten deutschen Sprachunterricht ist es allerdings nicht gekommen.“

In einem Brief von Belyj an A.A. Blok (10./23. Nov. 1912) schreibt er in gleichem Sinne: „Danach forderte er eine der besten Schülerinnen des Doktors auf, zur gemeinsamen Arbeit in die Nähe von Stuttgart zu kommen“, womit J. Polman-Mooy gemeint war.[8] Bevor wir diese Betrachtungen weiterführen, möchte ich an dieser Stelle eine Anekdote einfügen, die J. Polman-Mooy betrifft und die den gut bekannten Humor R. Steiners zeigt. Bei der Uraufführung der Mysteriendramen in München durfte sie eine kleine Rolle übernehmen. In seinen Erinnerungen über die Proben berichtet der Schauspieler Max Gümbel-Seiling folgendes:

„Für die Rolle des Johannes Thomasius hatte sich Mieta Waller ihre schönen langen Haare abschneiden lassen, ebenso eine andere Mitspielerin, Frau Po(o)lman, die in der mittelalterlichen Rückschau den fünften Bauern zu spielen hatte. Damen mit kurzem Haar waren damals etwas Ungewöhnliches. In einem öffentlichen Vortrag R. Steiners saßen beide in der ersten Reihe. Als der Doktor die Fragezettel auf der Ecke des Rednerpultes las, lautete eine Frage: ‚Es haben sich Damen Ihres Kreises die Haare abgeschnitten. Ist dies empfehlenswert für die okkulte Entwicklung?‘ Sachlich erklang die Antwort: ‚Es haben sich die betreffenden Damen erst seit kurzer Zeit die Haare abgeschnitten, so dass sich okkulter Forschung noch nicht das Resultat ergeben konnte (große Heiterkeit). Wir wollen es aber für die betreffenden Damen von Herzen wünschen!‘“ (schallendes Gelächter)[9] – Weiterhin berichtete A. Belyj in seinem Tagebuch Folgendes:[10]

„Juli 1912. Ankunft in München, Begegnung mit Steiner, Ellis, Polman-Mooy.

November 1912. Weiterreise nach Degerloch (bei Stuttgart); Gespräche und Freundschaft mit Ellis und Polman-Mooy.

Dez. 1912. Letzte freundschaftliche Begegnung mit Ellis und Polman-Mooy.

Jan. 1913. … bei uns saßen am Abend: Ellis und Polman-Mooy; ich zeigte Polman-Mooy meine schematischen Zeichnungen, in Farben (der Mensch als Tempel); wir hatten uns alle kurz vorher bei der Anthroposophischen Gesellschaft, die gegründet wurde, eingetragen und waren zusammen mit Steiner aus der T.G. ausgetreten.

März 1913. … erhalte Briefe sowohl von Blok als auch von Ellis; von letzterem kommen viele Briefe; darin klingt schon deutlich die Abwendung von der A.G. an; ihre Mitglieder kommen ihm karikaturhaft vor; es klingen Zweifel in Bezug auf Steiner an; diese Briefe von Ellis sind für mich sehr quälend; besonders quälend ist für mich, dass auch Polman-Mooy die Zweifel von Ellis teilt: Ellis, Polman-Mooy, ich und Assja waren mir als eine fest geschlossene, intime anthroposophische Gruppe erschienen. Jetzt sehe ich: diese Gruppe ist zum Zerfall verurteilt.

April 1913. … auch mit Ellis intensiver Briefwechsel; von ihm erhalte ich Brief auf Brief, worin er die Gesellschaft einer vernichtenden Kritik unterzieht.

Aug. 1913. Wir erfahren eine traurige Neuigkeit: Ellis ist aus der A.G. ausgetreten.

Okt. 1913. M.J. [Marie Sievers] spricht mit mir über Ellis, über seine Abtrünnigkeit, über Polman-Mooy, die nach Meinung von M.J. hochmütig ist […] da bringen die aus Moskau nach Paris Reisenden die Nachricht, dass in Moskau im Verlag Musaget eine Schmähschrift auf den Doktor erscheint, die Ellis verfasst hat […] Wir eilen zu M.J. Sievers und fragen um Rat: Was ist zu tun?

M.J. Sievers zuckt mit den Schultern und sagt: ‚Lassen Sie‘.

Wir beschließen, zu Ellis und Polman-Mooy nach Stuttgart zu fahren, um mit Ellis eine Aussprache zu führen und von ihm die Zyklen des Doktors und seine Heftchen mit den Bemerkungen des Doktors an den Rändern zu fordern. Wir fahren nach Stuttgart und begeben uns nach Degerloch; Ellis versteckt sich vor uns; wir haben eine Aussprache mit Polman-Mooy und nehmen fast mit Gewalt die Heftchen von Ellis; ich teile Polman mit: ‚Wenn Ellis nicht in diesem Augenblick zu mir herauskommt, um sich zu erklären, dann soll er wissen: ich breche für das ganze Leben alles mit ihm ab…‘ Er – kam nicht heraus: von diesem Tage an brach ich alle Beziehungen zu Ellis ab.“

Assja Turgenjeff, die Lebensgefährtin Belyjs, hat über diese letzten Ereignisse ebenfalls berichtet. In ihren Erinnerungen erzählt sie ergänzend über das geheimnisvolle Heft von Ellis, das den Bruch verursachte:[11] „Danach gingen wir für einige Wochen nach Degerloch, in der Umgebung von Stuttgart, durch dringende Aufforderungen von Bugajeffs [= A. Belyj] Freund Ellis dazu veranlasst. Seine Weltrebellionsstimmung, die nur die Objekte, aber nicht ihre Intensität wechselte, führte ihn zu zerrüttenden Erlebnissen, die in einem schweren Vergangenheitskarma wurzelten. Dr. Steiner tat das Möglichste, um ihm zu helfen. So schrieb Ellis für ihn ganze Hefte voll mit Fragen, die sich auf die verborgensten Erkenntnisse bezogen. Keiner von uns hätte gewagt, solche Fragen zu stellen – und doch schrieb Dr. Steiner eigenhändig die Antworten daneben. Auf den langen Einwand, ob es nicht gefährlich wäre, einem so chaotischen Menschen solche Erkenntnisse in die Hand zu geben, antwortete er nur, dass er es tun müsse.“

Nach dem Bruch mit Belyj unternahm Ellis in Begleitung des Ehepaares Polman-Mooy eine Reise durch Italien: Rom, Neapel und Assisi. In Assisi machte Ellis ein Gelöbnis vor dem Bildnis der Gottesmutter für Askese und Kirchentreue. Nach dieser Reise begann er mit den Exerzitien von Ignatius von Loyola zu arbeiten, die ihn, wie er es später äußerte, vor dem seelischen Zusammenbruch „gerettet“ hatten. Daher stammt das Gerücht, er sei Jesuit gewesen. Dieses schien aber nicht begründet zu sein, denn Heide Willich schreibt diesbezüglich in ihrem Buch: „Die Angabe, dass Ellis Jesuit wurde, konnte die Verfasserin nirgends bestätigt finden.“ (Seite 184) Ellis verfasste noch ein Traktat Vigilemus! gegen R. Steiner. Wir werden auf seine Vorwürfe in Teil II dieser Studie noch zurückkommen. Ende 1913 ließ sich Johanna Polman-Mooy von ihrem Mann scheiden und nahm ihren Mädchennamen ‚van der Meulen‘ wieder an. Sie verließ die A.G. ebenfalls.

Im April 1914 erschien dann ihr erstes Buch Christliche Theologie und Cosmosophie nach dem Zeichen des Heiligen Graal, herausgegeben in Leipzig, unter dem Pseudonym „Intermediarius“. Ellis übersetzte dieses Buch ins Russische und hoffte auf eine Herausgabe im Musaget-Verlag in Moskau. Diese Übersetzung wurde allerdings nie publiziert.

 

Oben: Ersterscheinung des ersten Buches des Intermediarius

Darunter: Neuerscheinung 1933

 

Von 1915 bis 1919 wohnten Ellis und J.v.d. Meulen in Basel. Sie wurde öfters von Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft, die sich in inneren Krisen befanden, um Hilfe gebeten. Ein Zeugnis dafür ist der Brief vom 15.6.1916 von Julia Wernicke. Der Brief klagte über Rudolf Steiners als zweifelhaft empfundenes Verhalten anlässlich einer Probe der Weihnachtsspiele Ende 1915, wo er als Regisseur und Schauspieler mitwirkte. Dieser Brief, vom Verf. gekürzt, lautete:

„Liebe Johanna,

Sie fragten mich neulich, ehe Sie fortgingen, mit Interesse nach Einzelheiten in Bezug auf den Abend vom 31.12.1915. Ich möchte meinen Eindruck davon genau feststellen […] Es folgten nur einige Worte des Doktors über diese Art Spiele […] Dann führte er auch den alten Petrus ‚mimend‘ vor, nahm das ‚zufällig‘ daliegende Szepter des Herodes und sagte dabei: ‚Das ist der Schlüssel des Petrus‘ […] Der Doktor stellte den wackeligen alten Mann vor und darauf, mit dem Stab des Joseph, den bis zur Lächerlichkeit greisen Joseph, der schließlich ‚hintorkelt‘. Solche Dinge mag der Doktor beim Einüben der Mysterienspiele öfters vorgemacht haben. […] Mir machte es nun den Eindruck einer Profanation, ihn so zu sehen! Hauptsächlich der Schlüssel des Petrus und das ‚Hinfallen‘ in des Doktors Gestalt tat mir geradezu weh! Es ist dies aber durchaus mein subjektives Empfinden gewesen. […] Gerade weil ich noch hoffe und glaube, schreibe ich Ihnen dies! Helfen Sie mir auch, so viel Sie noch können! Ihre Ehrlichkeit und Kraft gibt mir Hoffnung! Es grüßt Sie herzlich. Julia Wernicke.“ (in Psychische Studien 1917, Nr. 8/9, Leipzig, S. 404-405

1918 erschien in Basel bei Frobenius das zweite Buch von „Intermediarius“, Homo Coelestis – Das Urbild der Menschheit. Ende Juni 1919 zogen Ellis und J.v.d. Meulen nach Locarno-Monti um. Dort verbrachten beide den Rest ihres Lebens, in der „Casa Fioretti“. 1923 erschien in Basel, ebenfalls bei Frobenius, das dritte Buch des „Intermediarius“, Universum – Der Cosmos und der cosmische Mensch – Liber Mundi. 1927 erschien das vierte und letzte Buch, Das grosse Zeichen – Arcana Sapientiae, im gleichen Verlag.

1929 erschien das Buch von Ellis, Christliche Weisheit, in Basel (Frobenius Verlag), als Kommentar zu den vier Büchern des Intermediarius. Darüber hinaus beschäftigte er sich noch intensiv mit Wl. Solowjew, A. Puschkin und P. Florenskij. Er verfasste zahlreiche Aufsätze, die in katholischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. In den Spuren Solowjews verbreitete er die Ideen einer möglichen Wiedervereinigung der Ost- und Westkirchen. Er pflegte außerdem Kontakte zum russischen Philosophen, Kenner und Kritiker der Anthroposophie, Nikolaj Berdjajew.

Über die enge Bindung, die zwischen Ellis und J.v.d. Meulen bestand, sowie über ihr gemeinsames Leben in Locarno, berichtet Heide Willich in ihrem Buch (S. 179-184): „Die Beziehung zwischen J.v.d. Meulen und Ellis hatte geistigen, rein platonischen Charakter. Ellis als Mensch war … unfähig allein zu leben. Er wird als sehr liebenswürdig, aber absolut weltfremd, unpraktisch und intellektuell beschrieben, als impulsiv und gesprächig […] Johanna v.d. Meulen war durch und durch Christin, von grenzenloser Nächstenliebe und Altruismus beseelt. Den Sinn ihres Lebens sah sie in der Fürsorge für andere Menschen. Mit Ellis verband sie zudem das gemeinsame Streben nach religiös-mystischen Inhalten. Sie war eher gemäßigter, zurückhaltender, bremste Ellis Temperament und hielt ihn gewissermaßen im Zaum. Im Laufe der Jahre wuchs ihre geistige Verwandtschaft immer mehr […] Später, wohl zu Beginn der 30er Jahre, konvertierte er zum Katholizismus. J.v.d. Meulen war ursprünglich Protestantin, aber – Ellis folgend – konvertierte auch sie zum Katholizismus. Gemeinsam besuchten sie regelmäßig an Sonn- und Feiertagen die Messe im katholischen Kloster „Madonna del Sasso“, das auf dem Berg oberhalb von Locarno liegt.

Insgesamt lebten Ellis und Johanna v.d. M. recht still und abgeschieden in Locarno […] Ellis ging häufig schnellen Schritts mit wehender, schwarzer Pelerine auf dem Berg oberhalb Locarnos spazieren. Er unterhielt keine Kontakte mehr zu seinen früheren Moskauer literarischen Mitstreitern […] Bis zu seinem Tode am 17.11.1947 lebten Ellis und J.v.d. M. gemeinsam in der ‚Casa Fioretti‘. Ellis starb in der Klinik Santa Chiara (vermutlich an Krebs) und wurde am 18.11. auf dem Friedhof der St. Antonio-Kirche in Locarno beigesetzt. Sein Grab existiert allerdings nicht mehr. Das Haus, die ‚Casa Fioretti‘, … steht heute noch.“

Johanna van der Meulen starb mit 85 Jahren in ihrer Winterresidenz in Palermo 1959.

 

Teil II:

Exkurse zu Intermediarius

Um die geistige Atmosphäre im Umfeld des Intermediarius zu verdeutlichen, dokumentiert der Verfasser im Verlauf seiner Betrachtungen zu „Intermediarius“ im Folgenden kritische Einwände gegen die anthroposophische Christologie. In den nächsten Ausgaben werden diese Einwände selbst einer Kritik unterzogen.

Red.

 

Ellis

Welche Gründe haben Kobylinsky-Ellis bewogen, sich als Anhänger des Intermediarius so heftig gegen Rudolf Steiner und seine Anthroposophie zu wenden? Diese Gründe hat Victor Fedjuschin in seinem Buch Russlands Sehnsucht nach Spiritualität. Theosophie, Anthroposophie und die Russen (Schaffhausen 1988) klar zusammengefasst. Es sei noch erwähnt, dass Ellis Einwände nicht allein da stehen. Andere Denker, ob Anhänger von Intermediarius oder nicht, haben Ähnliches geäußert, z.B. Arthur Schult oder Nikolai Berdjajew

Nun zu den Gründen, die Fedjuschin beschreibt: (S. 192, 195)

„Der Unterschied der Weltanschauungen von Ellis und der Anthroposophie Rudolf Steiners lag vor allem in der Auffassung des Christentums. Ellis wirft R. Steiner vor, dass er die grundlegenden Ideen des Christentums verdrehe, dass er sie verschleiere […] Kobylinsky-Ellis sieht den religiös-christlichen Weg in der direkten Nachahmung von Christus: dies sei die grundlegende Idee des Christentums. […] Nach Ellis muss die Anthroposophie als Wissenschaft den Bereich der Religion frei lassen, sowie auch zu großen Teilen den Bereich des Glaubens. Deshalb sieht Ellis in Rudolf Steiner keinen neuen christlichen Lehrer, sondern bloß einen hervorragenden Gelehrten, der dank seiner Hellsichtigkeit konsequent in seinen Werken eine Arbeit von ungemeiner kultureller Wichtigkeit fortführt und der in unparteiischer Weise wissenschaftlich erarbeitetes Wissen über die Geheimnisse des geistigen Menschen weitergibt.“

In einem 1929 erschienenen Buch Monarchia Sancti Petri (M. Grünewald Verlag) gebraucht Ellis sehr scharfe Worte gegen Rudolf Steiners Christologie und Weltanschauung. Im letzten Kapitel „Wl. Solowjeff und Rudolf Steiner“ schreibt er: (S. 628-632) „Über die Christologie Steiners kann man sagen: in ihr befindet sich kein einziger Lehrsatz, der nicht eine Häresie ist […] Seinem Wesenskern nach ist er … eine Wiederbelebung der Geheimlehre […] Das Wesen des ‚Steinerismus‘ ist gerade so völlig dem Wesen der Lehre Solowjeffs entgegengesetzt, wie die Lehre des Manes der Lehre des heiligen Augustinus.[…] Die magische (antireligiöse) Lehre Steiners kennt nichts von den Wahrheiten der übernatürlichen, göttlichen Offenbarung […] Die gesamte Weltanschauung Steiners beruht auf der Vermischung der himmlischen, sophianischen Alleinheit mit der kosmischen, relativen und bloß natürlichen Totalität. […] Deshalb verwechselt sie grundsätzlich das göttliche Licht des Heiligen Geistes und das himmlische der Sophia mit dem kosmischen Urlichte, den Lichtträger Erzengel Michael mit dem Lichträuber Lucifer, indem sie dabei das Wesen des Bösen mit der kosmischen, dualistischen Manifestation desselben (im Sinne der Diade = Lucifer-Ahriman) verwechselt. […]

Für jeden ernsten Leser […] wird es leicht zu sehen, dass der ‚Steinerismus‘ in jeder Beziehung einen Gegensatz zur Lehre Solowjews und eine konsequente Ergänzung der modernen halb-luciferischen (kabbalistischen), gnostisch-theosophischen Weltanschauung bildet. […] Im Lichte des wahren, christlichen, authentischen (esoterischen) Hermetismus erscheint die Lehre Steiners wie der Trümmerhaufen des zusammengestürzten babylonischen Turmes.“

 

Arthur Schult

Arthur Schult (1893-1969), Verfasser zahlreicher Bücher und zeitweilig Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft[12], war ein Kenner und Verehrer der Werke des Intermediarius; er wollte ebenfalls ähnliche Mängel und Irrtümer in der Lehre Rudolf Steiners erkannt haben. So schreibt er im Nachwort seines Buches Das Johannes-Evangelium als Offenbarung des kosmischen Christus (Remagen 1965, O. Reichl Vlg., S. 500-502): „Durch geistige Schulung gewinnt der Mensch Einblick in die höheren Welten, in die ätherische, die astrale, die mentale Welt usw., je nach Willenstiefe. Die verschiedenen esoterischen Geisteswissenschaften vermögen so mit Erfolg, den geistigen Rationalismus unserer Zeit zu überwinden. Aber diese wissenschaftliche Erforschung des übersinnlichen Kosmos dringt niemals ein in die überkosmisch-himmlische Welt…, in die überkosmische Ideenwelt (Platos) und den Ewigkeitsbreich des lebendigen Gottes, in die überkosmische Himmelswelt des Neuen Testamentes.

Der hyperuranische Urkosmos kann durch Ideenschau im Sinne Platons erschlossen werden. Die überkosmische Himmelswelt erschließt sich nur dem echten Glauben als Seinserfahrung und der hohen Mystik. Nur so findet der Mensch…‚ das unerschütterliche Königreich‘, von dem der Hebräerbrief (12,28) spricht, und zu dem wir alle berufen sind. […]

Denn der Mensch ist nicht nur ein irdisches und kosmisches Wesen, sondern reicht mit seiner Strahlenaura und seinem Urbild durch alle Weiten des Kosmos und Urkosmos bis in die Tiefen der Gottheit hinein.

Aus diesem Urquell muss getrunken haben, wer Gott, Kosmos und Mensch recht verstehen will. Auch die Erforschung der kosmischen Welt kann nur dann in der rechten Weise geübt werden, wenn der Mensch zuvor den Kontakt gewonnen hat mit der höchsten Himmelswelt, wenn sein Bewusstsein durch Glaubenserfahrung oder Mystik geweitet wurde ins Überkosmische. Nur der in diesem Sinne göttlich Erweckte und im Geiste Wiedergeborene wird dann auch ohne Gefahren, vom Heiligen Geistes Gottes geführt, die von Licht- und Finsternismächten durchdrungene kosmische Welt durchforschen können […] Hinter Solowjew und Berdjaew stehen inspirierend die hochspirituellen Gestalten der russischen Starzen des 19. Jh. Die vollchristliche Esoterik jener großen Russen erwächst aus echter Glaubenserfahrung und hoher Mystik […]

Rudolf Steiner erschließt dem modernen Menschen, der durch die intellektuell-abstrakten Vorstellungen der Naturwissenschaft den Kosmos völlig entseelt und entgöttert hat, anknüpfend an Goethes Weltanschauung, einen neuen Zugang zu Mysterienwissen und Einweihung. Die von ihm begründete Anthroposophie will den Geist im Menschen zur Kommunion mit den Geistern des Kosmos führen und auf diese Weise die im Rationalen stagnierenden Wissenschaften neu befruchten. Sie will selber Wissenschaft sein, im exakten Wortsinne Geisteswissenschaft. Hierin liegt sowohl ihre Stärke als auch ihre Grenze. Zweifellos hat die Anthroposophie das Geistesleben unserer Zeit auf den verschiedensten Gebieten in höchst produktiver Weise befruchtet. Gerne bekennt der Verfasser, dass auch er selber Rudolf Steiner viel verdankt. Aber leider bleibt Steiners Weltanschauung kosmisch gebunden. Damit ist bei ihm das bewusstseinsmäßige Eindringen in die letzten Seinstiefen blockiert. Das hat später in der geistigen Schau vielerlei Irrtümer zur Folge. Diese tragische kosmische Bindung ist schon grundgelegt in der Philosophie der Freiheit. Da verbindet nämlich Steiner in seinem ‚konkreten Monismus‘ die Welt der Ideen mit der Erscheinungswelt von Stoff und Materie zu einer Einheit. So gibt es dann außer dieser Einheit nichts, kein Jenseits und keinen außerweltlichen Gott. Steiner hat stets an diesem ‚konkreten Monismus‘ festgehalten und ist sich in diesem Punkte auch klar bewusst seiner Gegensätzlichkeit zum Christentum. So schreibt er etwa: ‚Das Christentum findet den Quell alles Geistigen, also auch der Begriffe und Ideen, in Gott. Es hat den Glauben an etwas nötig, das nicht von dieser Welt ist. Ein gesundes menschliches Denken hält sich aber an diese Welt. Es kümmert sich um keine andere. Aber es vergeistigt zugleich diese Welt. Es sieht in Begriffen und Ideen Wirklichkeiten dieser Welt, ebenso wie in den durch die Sinne wahrnehmbaren Dingen und Ereignissen.‘ (Goethes Naturwissenschaftliche Schriften IV, 1, S. XV) Von da aus kommt sehr leicht ein gefährlich-hybrider Einschlag in die Anthroposophie hinein. Man vergleiche auch das Kapitel ‚Die letzten Fragen‘ in der Philosophie der Freiheit.

Später, als Steiner zum Okkultisten wird und sich die Erkenntnis der höheren Welten erschließt, gewinnt für ihn in Konsequenz jenes ‚konkreten Monismus‘, an dem er eisern festhält, die okkulte Sphäre den Charakter der Ideenwelt. Die Geisteswelt des Kosmos wird ihm zur Welt göttlicher Geister. Der transzendente und zugleich immanente Gott des Neuen Testamentes wird dabei zu Gunsten einseitiger kosmischer Immanenz und kosmischer Entwicklung abgelehnt. Ein Gott aber, der sich entwickelt, der ist nicht mehr der eine Gott, welcher war, ist und sein wird, der lebendige Gott des Neuen Testamentes, der Gott, von dem Thomas von Aquin richtig sagt: ‚Einzig dann erkennen wir Gott in Wahrheit, wenn wir glauben, dass er über alles hinausliegt, was Menschen über Gott zu denken vermögen.‘“

In die gleiche Richtung gehen die Ausführungen A. Schults in seinem Werk Menschenleben und Johannesevangelium im Lichte der Wandelsterne (Drei Eichen Verlag, München 1958, S. 193-195). Dort sagt er: „Wir müssen Klarheit gewinnen über das Verhältnis von Mensch, Kosmos und Gott, Erde, Sternenall und Gotteshimmel, wie es im Neuen Testamente, insbesondere bei Johannes und Paulus, gnostisch erschaut wird.

Durchaus unzureichend ist, gemessen am Maßstab der neutestamentlichen Schriften, die kosmische Blindheit des traditionellen Christentums aller Konfessionen, welche die vielstufige Himmelsleiter, die vom Himmel durch das ganze Universum zur Erde führt, nicht sieht und nicht sehen will.

Ebenso unzureichend ist jene himmlische Blindheit der theo- und anthroposophischen Strömungen, welche die hellsichtige Erforschung des Makro- und Mikrokosmos und seiner übersinnlichen Geistwesen mit dem himmlisch-geistigen Schauen der ewigen göttlichen Urbilder verwechselt. Die einseitig kosmisch gebundene Geisterkenntnis redet nur in Worten von den himmlischen Dingen, indem sie Himmel und Kosmos gleichsetzt.

Demgegenüber ist ernsthaft zu bedenken: Wesentlich und allseitig ist der Unterschied zwischen Himmel und Kosmos, zwischen kosmischem Hellsehen und himmlisch-geistiger Schau der ewigen Urbilder. Jede Schulung in bloß kosmischem Hellsehen wirkt störend auf die Unmittelbarkeit des Erlebens, ist eine magische Praxis, die auf Kosten des geistigen Wesenskernes entwickelt wird und unser Menschliches auszehrt. Die wahre christliche Einweihung führt durch kosmosophische Schulung und mystisches Schauen im Geiste zur Wiedergeburt in Gott. Dieser Weg geht durch alle kosmischen Regionen aufwärts bis zum überzeitlich-paradiesischen Urkosmos, bis zur überkosmischen Alleinheit des Himmelreiches und setzt das mystische Erlebnis Christi als des Allerlösers voraus. So stellen auch die vier Bücher des Intermediarius den christlichen Einweihungspfad dar in Harmonie mit Jakob Böhme.

In diese höchsten göttlich-geistigen Sphären dringt die Anthroposophie nicht. Sie gibt zwar dem modernen Weltbild eine gewaltige Ausweitung ins Kosmisch-Geistige, aber sie erreicht nicht die Dimension aller Dimensionen, die reale Ewigkeit des lebendigen Gottes. Steiner drängt in seiner Verkündigung des kosmischen Christus den Erlöser-Christus allzu sehr in den Hintergrund. Erst von dem Erleben des Erlöser-Christus aus kann aber der kosmische Christus in ganzer Tiefe verstanden werden. Nur weil Christus mehr ist als eine zentrale kosmisch-hierarchische Wesenheit, weil er sich über den ganzen kosmischen Prozess erhebt, wird die Menschheit durch ihn erlöst und frei von der Macht der Zeit und aller zeitgebundenen Prozesse.“ – Soviel zu Arthur Schult.

 

Berdjajew

Die Einwände des russischen Philosophen Nikolai Berdjajew (1874-1948) treffen ebenfalls die Christologie Rudolf Steiners. Als Außenstehender hatte er ein lebens-längliches Interesse an den Werken Rudolf Steiners gezeigt und sie auch gründlich studiert. Sie begegneten sich auch einmal persönlich. Mit Kobylinsky-Ellis stand er in brieflichem Kontakt. Ob er sich in Intermediarius Werke vertieft hatte, ist nicht bekannt. Das schon mehrmals erwähnte Buch von V. Fedjuschin enthält ein Kapitel, das heißt „Berdjaev – Ein Ritter des Geistes – ein gläubiger Freidenker“. Darin liest man über den Philosophen (S. 165, 171): „Man muss Nikolai Berdjaew zubilligen, dass er nicht als Dilettant und Ankläger ohne Kenntnis der Sache als Kritiker der Theosophie und des Werkes Rudolf Steiners auftrat […] sondern als ein einsamer Vertreter des freien Geistes, der gründlich mit den theosophischen Werken und den Arbeiten Rudolf Steiners bekannt war. […]

Der Hauptvorwurf aber, den Berdjaew Steiner macht, besteht darin, dass bei Steiner seiner Meinung nach eine echte Christologie fehle, dass man bei Steiner nirgends Christus finden könne. Berdjaew fühlte bei Rudolf Steiner keinen revolutionären Geist, der der Welt etwas Neues, noch nicht Dagewesenes bringen könnte; Steiner war nach Berdjaew ‚konservativ nach rückwärts gewendet‘.“

Berdjajew selbst sagte (S. 169, 170): „Die Methode der Theosophie ist immer geistig-evolutionär, nicht geistig revolutionär […] Der theosophische Weg ist ein gnadenloser Weg, auf welchem nicht ein Strahl göttlichen Lichtes von oben herabfällt, alles wird von unten her erreicht. In der Theosophie gibt es nichts Geschenktes, nur Erarbeitetes, nichts aus Liebe, alles aus Gerechtigkeit.“

Und weiter: „Rudolf Steiner stellt seine Theosophie als westliche und christliche dar und stellt sie im Unterschied zur östlichen Theosophie unter das Zeichen des Christus-Impulses. In den letzten Jahren legt Steiner besonderen Wert auf die Eigenart seines Weges.

Die östliche Theosophie – vor der kosmischen Wirkung des Christus-Impulses, vor der Offenbarung über das ‚Ich‘. Aber den größten Teil der populären theosophischen Bücher Steiners kann man nur mit Mühe von den theosophischen Büchern A. Besants und anderer östlicher, vorchristlicher Theosophen unterscheiden. In Steiners Büchern findet man wenig Eigenes, in ihnen werden auf unpersönliche Weise die üblichen, traditionellen theosophischen Lehren dargelegt. Immer die gleiche Lehre über die kosmische Evolution mit einem noch stärker geprägten Naturalismus, die gleiche Lehre über die Ebene, über den so kompliziert zusammengesetzten Menschen, die gleiche Lehre über Karma und Reinkarnation, der gleiche gnadenlose Weg der unerlösten Seele, wobei jeder Schritt durch schwere Arbeit der Vervollkommnung selbst erreicht werden muss […]

Der Mensch ist ein Mittel der Weltevolution, ein Kreuzungspunkt kosmischer Wirbel und Strömungen. Und für das anthroposophische Bewusstsein trägt die Persönlichkeit des Menschen zum absoluten Sein nur über die Weltevolution bei, über die Kette karmischer Wiederverkörperungen.

Die kosmische Evolution selbst wandelt sich durch die Wirkung des Christus-Impulses, es beginnt eine neue kosmische Epoche, in der alles schon anders weiter geht als vor Christus. Aber Christus selbst ist nur ein kosmischer Agent, nur ein Moment der kosmischen Evolution. Steiner sieht Christus als ein in den Kosmos geworfenes Wesen, sieht ihn nicht in Gott, in der göttlichen Dreifaltigkeit […] Die anthroposophische Lehre über die immanente Wirkung des Christusimpulses im Menschen enthält zweifellos eine tiefe Wahrheit, aber sie geht nicht bis zur letztendlichen göttlichen Urquelle, sie verbleibt inmitten der Weltenprozesse der Geschöpfe.“

 

Teil III:

Die Bücher des Intermediarius

Das Werk

Die Vier Bücher des Intermediarius erschienen nacheinander zwischen 1914 und 1927: Bd. I – 1914 – Christliche Theologie und Cosmosophie nach dem Zeichen des Heiligen Graal. Leipzig (Xenien Verlag); Bd. II – 1918 – Homo Coelestis – Das Urbild der Menschheit. Basel (Frobenius); Bd. III – 1923 – Universum – Der Kosmos und der cosmische Mensch – Liber Mundi. Basel; Bd. IV – 1927 – Das grosse Zeichen – Arcana Sapientiae. Basel. – Dieses Werk erfuhr 1933 eine zweite neu bearbeitete Auflage und erschien im damaligen katholischen Herold-Verlag in München. Der erste der vier Bände, der 1914 noch Christliche Theologie und Cosmosophie nach dem Zeichen des Heiligen Graal hieß, erhielt nun den neuen Titel Die Weisheitslehre des Heiligen Graal. Die drei weiteren Auflagen im Ordo-Verlag Konstanz sind photomechanische Drucke der zweiten neu bearbeiteten Auflage von 1933, die von nun an allein als Originalausgabe gilt. Das Werk wurde jeweils als „Manuskriptdruck“ in relativ kleiner Auflage herausgegeben, das letzte Mal 1983.

Der Herausgeber und Überarbeiter der Auflage von 1933 ist gleichzeitig der Herausgeber und Hauptschriftleiter der damals im Herold-Verlag erschienenen Monatsschrift Für Welterkenntnis aus dem Lichte des Glaubens. Seine Rubrik „Die Arche“ bot speziellen Raum für die christliche Esoterik des Intermediarius. Unter dem Pseudonym „Fra Tedesco“ verfasste er noch eine Einleitung in das Werk des Intermediarius, die in ihrem ersten Buch zu finden ist. Er war der Meinung, dass mit Intermediarius zum ersten Mal Grundlagen geschaffen worden seien, die eine objektive Mystik ermöglichen würden; und dass dadurch die mystische Schau der göttlichen Welt über die Subjektivität der mittelalterlichen Mystik herausgehoben werden könne. Ein ähnliches Lob hat auch der Benediktiner-Theologe und Spezialist im Gebiet der Mystik, Dr. Alois Mager,[13] gegenüber Intermediarius und ihrem Werke geäußert.

Das Hauptmerkmal des Werkes Intermediarius zeigt sich in seinem strengen christozentrischen Charakter. Eine tiefe Christuserfahrung und eine enge Verbundenheit mit Christus liegen allen ihren Werken zugrunde.

Sie unterscheidet drei Wege, die zu dem höchsten Zustand der Einswerdung mit Christus führen. Innerhalb dieser Wege, die als die drei christlichen Mysterienwege bezeichnet werden, sind die „Mysterien der Kirche Christi“ als der erste Weg zu betrachten. Für die ganze Menschheit gültig, nehmen sie ihren Anfang beim Heiligen Abendmahl, wo Christus selbst seinen Leib und sein Blut für die Menschen geopfert hat. Diese göttliche Handlung, als geistige Gnadenquelle, stellt den Mittelpunkt dieser Mysterien dar. Der Heilige Apostel Petrus, als Träger der höchsten Glaubensinspiration Gottvaters, wurde zum Inhaber der hohepriesterlichen Weihe. So wurde er zum ersten geistigen Vater der Kirche Christi als mystischem Leib und zum anerkannten Haupt der Apostel. Der Heilige Apostel Johannes, als Träger der höchsten Weisheitsinspiration Jesu Christi, erhielt die größte prophetische Berufung. Er wurde zum jungfräulichen Sohn der Sophia-Maria und zum mystischen Herzen der Apostelgemeinschaft, zum Lehrer der Weisheit durch seine zwei Hauptwerke, das Evangelium und die Apokalypse.

Die „Mysterien des Grals“ stellen den zweiten Weg dar. So wie von Christus selbst, durch das Abendmahl, eine neue Linie ausgeht, findet auch eine Reinigung, Erneuerung und Verwandlung einer anderen schon bestehenden Linie statt; und zwar durch das Blut, welches aus dem Herzen Christi fließt, nachdem Sein Tod auf Golgatha schon eingetreten war. Durch dieses in das Gefäß des Grals aufgenommene Blut sind die Mysterien des Heiligen Grals entstanden. Die alte Weisheit der vor-christlichen Mysterien wurde in den Gral-Mysterien vereint. Diese besitzen das tiefste Wissen über das Wesen Christi. Mit der Kraft des Blutes Christi ist die Tat der Erlösung verbunden, deswegen heißen diese Mysterien auch „Mysterien der Erlösung“. Der erste Hüter des Heiligen Gral ist Joseph von Arimathia.

Der dritte Weg findet seinen Ausdruck in den „Mysterien des Kreuzes und der Rosen“. Das Johannes-Evangelium berichtet (19,34-35), dass mit dem Fließen des Blutes aus der Seitenwunde Christi auch Wasser mitfloss.

Wie die Kraft der Erlösung mit dem Blute verbunden ist, so ist es auch die Kraft der Erweckung mit dem Wasser. Darum nennen sich die Mysterien des Kreuzes und der Rosen auch „Mysterien der Erweckung“. Lazarus, als der erste von Christus selbst aus dem Tode Auferweckte, ist der erste Hüter dieser Mysterien. Der Tod und die Wiedererweckung des Lazarus bedeuten zugleich den Tod der alten vorchristlichen hermetischen Weisheit und ihre Wiedergeburt als neue christlich-hermetische Weisheit. Lazarus war der letzte Träger der uralten ägyptischen Weisheit. Der Weisheitsschatz des „dreimal großen“ Hermes („Trismegistos“) lebt so weiter als der wesentliche Teil des esoterischen Christentums. Das Wahrzeichnen dieser Mysterien entstand, als Lazarus das Kreuz auf Golgatha errichtet sah. Da schaute er im Geiste das Kreuz als den Stamm des Lebensbaumes, die blutigen Wunden Christi als strahlende leuchtende Blüten. Den Erlöser selber sah er in verklärtem Leibe, voller Majestät und göttlicher Gewalt. Durch diesen Anblick entstand das Symbol des Kreuzes mit dem leuchtenden Dreieck im Zentrum umringt von den vier roten Rosen. Hierzu schrieb Intermediarius: „Das charakteristische dieses Symbols besteht darin, dass es an sich eine vollkommene Einheit bildet und als solche zwei Bedeutungen hat. Die erste ist die des Todes, die zweite die der Auferstehung. Als Symbol des Todes deutet das Kreuz auf den Tod Christi, die vier Rosen auf die Wunden des Erlösers; als Symbol der Auferstehung wird das Kreuz zum Lebensbaum des wiedererworbenen Paradieses und zum Zeichen des Sieges über das Grab und den Widersacher. Die vier Rosen werden zum Zeichen des neuen Lebens, das nach vier Richtungen hin als die Morgenröte des ewigen Tages und der Frühling der geistigen Wiedergeburt aufblüht. Inmitten des Kreuzes befindet sich das Dreieck als Symbol der Herzenswunde nach dem Kreuzestode, des dreifachen Lichtes der Auferstehung und der göttlichen Natur Christi.“ (III. Buch, Universum, 1933, S. XII-XIII)

Es besteht eine innere Verwandtschaft zwischen dem rosenkreuzerischen und dem mystischen Weg. Der Unterschied besteht darin, dass die reine christliche Mystik sich nur wenig mit kosmischen Erkenntnissen beschäftigt, dafür aber fast ausschließlich mit dem Wesen Christi. In Bezug auf diese innere Verwandtschaft heißt es bei Intermediarius, dass zwischen der Weisheit Johanni und der Weisheit Lazari schon eine besondere Beziehung in der Symbolik ihrer Namen bestehe: „Nach der Auferstehung trägt der erste Zeuge und Hüter der Mysterien der Erweckung, Lazarus, jenen Namen, mit welchem schon in vorchristlichen Mysterien der vom Tode erweckte Eingeweihte bezeichnet worden ist. Derjenige, in dem der Geist Gottes im Klange des A und O (Alpha und Omega) den geistigen Widerhall – den Klang des O und A – erweckte, wurde als ein Oannes-Mensch bezeichnet.“ (II. Buch, Homo Coelestis, 1918, S. 12)

Wie bei Rudolf Steiner lautet die esoterische Formel der Mysterien des Kreuzes und der Rosen:

Ex Deo nascimur;

In Christo morimur;

Per Spiritum Sanctum reviviscimus.

(Aus Gott werden wir geboren; In Christus sterben wir; durch den Heiligen Geist werden wir wiedergeboren.)

Somit sind skizzenhaft die drei Wege der christlichen Mysterien nach Intermediarius charakterisiert worden.

Was lehrt sie nun über Gott, den Kosmos und den Menschen?

 

Gott

Das Mysterium Gottes steht erhaben über aller Offenbarung. Es ist für den menschlichen Geist unergründlich und übersteigt jede mögliche Erkenntnis. Die höchste Erkenntnisstufe, die ein Mensch erreichen kann, erblasst und muss sich ehrfurchtsvoll vor diesem unaussprechlichen Mysterium beugen. Die höchsten hierarchischen Wesenheiten müssen ihr Antlitz mit den Flügeln verhüllen vor den Strahlen des dreieinigen Lichtes. Deshalb ist es für die christlichen Mysterienwege ebenso gültig, dass die Frage nach dem letzten Grund im „Glauben“ gesucht werden muss. Der Glaube ist das Urbild der Weisheit. Die Glaubenslehre der Kirche, als Theologie, spricht von drei Hauptattributen Gottes:

  1. Die schöpferische Allmacht des Vaters,
  2. Die Liebesmajestät des Sohnes,
  3. Die Urewigkeit der Weisheit des Heiligen Geistes.

Diese drei Urattribute bilden sich, nach der erweiterten Lehre des Intermediarius, in allen Gebieten der göttlichen Offenbarungen wieder ab. Im Himmel, als Macht, Erhabenheit und Ewigkeit; im Urkosmos (Archäum), als Stärke, Größe und Dauer; im Kosmos sowie im Menschen als Wollen, Fühlen, und Denken. (siehe Tabelle 1; sämtliche 7 Tabellen finden sich im Anhang ab S. 43)

 

Die himmlische Triade

Die erste Offenbarung Gottes als schöpferische Tat besteht zunächst in einer Spiegelung seines eigenen dreieinigen Wesens. Diese Spiegelung wird die „himmlische Triade“ genannt. Diese stellt die perfekte Abbildung des göttlichen Wesens mit seinen Attributen dar, erhaben über alles Zeitliche, Räumliche und über alle Begrenzungen. Die vorchristlichen Antizipationen der christlichen Trinitätslehre machten noch keinen Unterschied zwischen der göttlichen Dreieinigkeit selbst und dessen Spiegelung als himmlische Triade. Die alten Weisheitskunden reden über verschiedene himmlische und kosmische „Triaden“. So z.B. die altindische Weisheit über die Trimurti, Brahma-Vischnu-Shiva. Die altägyptischen Mysterien besaßen, nach Intermediarius, „ein Wissen von einem allmächtigen, erhabenen und ewigen Gott. In ihrer Lehre über die Triade: Osiris-Isis-Horus ahnten sie voraus die tiefsten Geheimnisse des Christentums: die Trinität und die Menschwerdung des Sohnes.“ (III. Buch, S. XIV)

Doch wie entsteht die erste Spiegelung Gottes?

Das Zentrum der himmlischen Triade entsteht zunächst aus der Abbildung des Vaters der Trinität als des „Urvaters“, als die Urquelle des Lebens und der Schöpfung. Ihm ist der Wille zugeteilt und dadurch die ewige Urquelle lebendiger Wärme. Der Heilige Geist aus der Trinität bildet sich als ein leuchtender Weisheitsspiegel ab, der das urväterliche Zentrum peripherisch umgibt und seine Lebenswärme und seinen schöpferischen Willen als Licht der Weisheit zurückstrahlt. Dieser Weisheitsspiegel wird noch himmlische „Urform“, „Urmutter“ oder auch „Lichtjungfrau“ genannt. Sie sammelt, bildet um, ordnet und begrenzt die schöpferische Kraft des Urvaters. Intermediarius, in ihrer kontemplativen Schau, sah sie als die leuchtende Weberin der Urbilder aller Wesen. Sie ist die große, unbefleckte Seele des Himmels. Sie wurde seit Urzeiten unter verschiedenen Namen und Symbolen als die himmlische Weisheit verehrt.

Der Sohn aus der Trinität bildet sich seinerseits in der himmlischen Triade ab als der ewige „Mittler“ zwischen dem Lebenszentrum des Urvaters und dem Weisheitsspiegel der Urmutter. Sein Name ist Christus, der durch sein eigenes Prinzip der Liebe, Leben und Weisheit als Licht in sich vereinigt.

Die Ein- und Ausatmung des göttlichen Willens des Urvaters in die Schöpfung nennt Intermediarius „Odem Gottes“. Der Moment zwischen zwei „Atemzügen“, die Suspension, ist ein Moment göttlicher Ruhe, wo alles „schweigt“. Das Antlitz Gottes kann sich damit unverschleiert den himmlischen Bewohnern offenbaren.

Das lebendige Zwiegespräch zwischen dem Urvater und der Urmutter lässt in ihrer harmonischen Zusammenwirkung die verschiedenen Chöre der himmlischen Hierarchien entstehen. Sie bilden eine harmonische All­einheit und teilen, durch ihre ewige Bewegung, die Strahlen des himmlischen Weisheitslichtes allen weiteren Reichen der Schöpfung mit.[14]

 

Das Himmelreich

Vom Reich des Himmels, als Wohnplatz rein geistiger Wesenheiten, spricht Intermediarius als von dem „Mysterium magnum“, das große Mysterium. Es ist das Reich des Vaters, in dessen „Hause viele Wohnungen“ sind. Es entsteht durch das schöpferische Zwiegespräch zwischen Zentrum und Peripherie in der himmlischen Triade und bildet sich als die Himmelsrose (Rosa Mystica) ab. Die lebendigen Blätter dieser flammenden, leuchtenden und klingenden Rose haben eine neunfache Gestaltung, die neunfache Ordnung der hierarchischen Chöre. Sie verteilen sich in drei Himmeln, in dreimal drei Gruppen. Diese drei Himmel sind = das Empyreum oder höchster flammender Himmel, dessen Hauptprinzip die durch die höchsten Seraphime vertretene Liebe ist; der Kristallhimmel, dessen Hauptprinzip die Weisheit ist, vertreten durch die Cherubime. Dieser Himmel ist auch noch „Primum Mobile“ genannt, denn die Bewegung des gesamten Himmelreichs, die erst verborgen und unaussprechlich im Herzen des Urvaters entsteht, wird zuerst in diesem zweiten Himmel fühlbar; der Fixsternhimmel oder „Himmelsfeste“, dessen Hauptprinzip der Wille ist, vertreten durch die Throne. Dieser Himmel liegt den oberen kosmischen Regionen am nächsten und bildet so die Grenze zwischen „Himmel“ und „Kosmos“. Hier halten zwölf mächtige Wesenheiten aus der Hierarchie der Throne die Wache und stellen die zwölf himmlischen Urbilder des gesamten kosmischen Sternenreiches dar. (Siehe Tabelle 2)

Die Himmelsrose besteht nicht nur aus den Hierarchien, sondern auch aus dem erhabenen und wandelbaren Urbild des Menschen. Es wird noch darüber ausführlich gesprochen werden. Es sei hier nur noch gesagt, dass Dante in seiner Göttlichen Komödie ein Bild davon gibt, indem er drei senkrecht zueinander stehende Kreise schaut, innerhalb derer das urbildlich-menschliche Antlitz leuchtet. (Paradies, XXXIII. Gesang)

 

Lucifer

Ebenso wie das Mysterium Gottes ist das letzte Mysterium des Bösen unergründlich für jede menschliche Erkenntnis. Das Entstehen des Widersachers ist tief mit dem Mysterium der Freiheit verbunden. Es ist ein unerforschliches Geheimnis, wie und weshalb ein mächtiges Geschöpf seine Freiheit missbrauchen konnte und dadurch zum Widersacher Gottes wurde. Es bleibt nur die Tatsache, dass ein solches geschehen ist. Diesbezüglich unterscheidet sich die Lehre des Intermediarius von derjenigen der Kirche nicht. Sie steht in Einklang mit den Schauungen aller großen Mystiker, so z.B. Hildegard von Bingen, Theresa von Avila oder Anna K. Emmerich. Alle lehren, dass der Widersacher das urgeschöpfliche, mächtige Wesen ist, das einst vom Himmel herunterfiel. Nach Intermediarius hatte dieses Urgeschöpf, vor seinem Falle, die erhabene Mission, Vertreter der Gottheit zu sein. Es trug ja in sich, wie im Abbilde, die höchsten Attribute der himmlischen Triade. Es war der Morgenstern der Schöpfung, der wahre Lichtträger, „Lucifer“. Seine Macht, seine Schönheit und seine Weisheit übertrafen die der höchsten Hierarchien bei weitem. Sein Urbild war dem Schöpfer am nächsten. Dazu besaß er auch die allergrößte Freiheit. Als die erste, mächtigste Schöpfung Gottes, bewegte sich Lucifer, unabhängig von den neun himmlischen Engelchören, frei durch das ganze Himmelreich. Es muss aber, so Intermediarius, ein jedes Geschöpf durch eine große Prüfung gehen, die Prüfung der Freiheit. Lucifers Prüfung sollte im höchsten Himmel vor dem Angesichte Gottes geschehen. Es liegt ein undurchdringlicher Schleier über dem großen Mysterium dieser Prüfung, deren Folgen auch durch das Zeugnis Christi, im Evangelium, bestätigt werden. Es heißt dort:

„Der Teufel ist in der Wahrheit nicht bestanden; denn die Wahrheit ist nicht in ihm.“ (Lk 8,44)

Weiter:

„Ich sah den Satan einem Blitz gleich vom Himmel fallen.“ (Lk 10,18)

Lucifer bestand die Prüfung nicht und musste den Himmel verlassen. Er wurde zum Gegner Christi und Feinde des Vaters. Sein Herz wurde durch Stolz und Hass entflammt. Sein Haupt behielt die Kraft des Lichtes, es war aber ein geraubtes und zum Eigenlicht gemachtes. Dieses Licht ist nicht das wahre Licht, sondern ein kaltes, blendendes der eigensinnigen, falschen Weisheit, Schönheit und Liebe. Durch seinen Fall vom Himmel stürzte sich Lucifer, das Urböse, in Regionen hinab, wo sich die schöpferische Gotteskraft noch nicht geoffenbart hatte, in die Tiefen des „Abgrundes“. In jenem Gebiet entstand dadurch ein umgekehrtes Bild der Himmelsrose. Intermediarius bezeichnet als „Satan“ den anti-göttlichen, falsch-väterlichen Aspekt des Widersachers. Unter dieser Bezeichnung ist er das falsche, umgekehrte Urzentrum, das verhärtete Prinzip des Eigenwillens. Unter dem Aspekt „Lucifer“ bildet der Widersacher die falsche Sohnschaft, das umgekehrte Bild Christi. Als „Lucifera“ stellt er die falsche Lichtjungfrau dar, die falsche Weisheit, die Anti-Sophia, die als Peripherie die Kräfte des Anti-Zentrums zurückspiegelt. Eine wichtige Mitteilung des Intermediarius besagt, dass das Urböse Lucifer, das einst vom Himmel gefallen ist, im Kosmos selber unsichtbar wirkt. Es ist nur durch seine Diener, die verführten und in seinen Dienst gestellten Hierarchien wahrnehmbar. Der Sturz Lucifers aus dem Himmel rief in den unteren noch passiven Gebieten gewaltige Störungen hervor. Er riss ganze Scharen von Geistern mit sich herunter. Sein Sturz, der in mehreren Stufen vor sich ging, übte einen gewaltigen Einfluss auf die Gestaltung des Universums aus. Bei jeder Stufe musste er mit einem großen Gegner kämpfen. Dies sind die vier mächtigen von Gott beauftragten Erzengel, Uriel, Raphael, Gabriel und Michael. Bei der jetzigen vierten Stufe streitet er mit dem mächtigen Erzengel Michael. Der große Streit im Universum bildet den Grund des kosmischen Gesetzes des „Dualismus“. Das Zentrum der Erde, der tiefste Punkt des Falles Lucifers, vertritt am stärksten die Abgrundskräfte. Die Lehre von den Folgen des Falles Lucifers im Kosmos gehört zur christlichen Kosmologie.

 

Der Urkosmos (das Archäum)

Den Urzustand des dualistisch gewordenen Kosmos nennt Intermediarius „Urkosmos“ oder „Archäum“. Das Archäum ist das Reich der „Urnatur“. Es liegt zwischen dem Himmel als dessen Abbild und dem Kosmos als dessen Urbild. Als das eigentliche Reich der Lichtjungfrau spiegelt es das Leben des Urvaters in das Licht der Weisheit zurück. Ist der Himmel das Reich der geistigen Urbilder, so ist das Archäum das Reich der seelischen Hüllen dieser Urbilder. Diese sind die lebendigen „Ideen“ aller Kreaturen. Der Urkosmos ist ein Abbild der Himmelsrose in der Gestalt eines siebenfarbigen Lichtbogens. Sein Sinnbild ist auch die weiße Lilie. Die Hauptfarben dieses siebenfarbigen Lichtreiches sind: das Purpurrot als Farbe der Macht, das Goldgelb als Farbe der Erhabenheit und das Himmelsblau als Farbe der Weisheit.

Das Wesen des Archäums war schon den vorchristlichen Mysterien bekannt. In den alt­ägyptischen Mysterien wurde die himmlische Isis als die Göttin und Mutter der reinen Urnatur verehrt. „Der Schleier der Isis“ ist eine Hindeutung auf die Unmöglichkeit für den nicht Eingeweihten, die „entschleierte“, verklärte Weltenseele zu schauen. Das alt-hermetische Symbol des Archäums war die Lotosblume, die einem Kelch gleich, nach oben geöffnet ist. Die Weisheitslehre der „Isis-Mysterien“ war die Urquelle der späteren altgriechischen Mystik und Philosophie, speziell der Lehre der „Ideen-Welt“ Platos.

Die drei Hauptfarben des Archäums stellen außerdem die drei himmlisch-göttlichen Eigenschaften, als die „flammende“ (feurige), „atmende“ und „spiegelnde“ Kraft des roten, gelben und blauen Lichtes dar. Diese drei Urkräfte sind die Urbilder der drei kosmischen Elemente: des Feuers, der Luft und des Wassers. Das Archäum offenbart sich ferner der Schau der Eingeweihten in der Gestalt eines großen, kristallenen Tempels, der die Form eines Kreuzes hat. Dessen vier Richtungen sind durch die Strahlen von vier roten Rosen durchleuchtet. Sieben Hierarchien (ab den Thronen abwärts) leben und wirken in ihrem seelischen Abbild als Archetypen im Reich des Urkosmos. Jedes von den sieben Lichtreichen des Archäums besitzt seinen besonderen Führer. Die sieben Führer gehören der Hierarchie der Kyriotetes an (Geister der Weisheit), bilden aber in ihrer Einheit ein Wesen, das dem Chor der Throne gleich ist. Sie werden die sieben Elohim genannt und stehen unter direkter Führung der zwölf großen Himmelswächter (12 Throne).

Die sieben Lichtsphären sind die Urbilder der sieben kosmisch-planetarischen Sphären (Siehe Tabelle 3)

Der Mittelpunkt des Archäums ist Christus. Im Reiche der Lichtjungfrau offenbart Er sich als das „Lamm Gottes“. Wie Johannes in seiner Apokalypse verkündet, besitzt das „Lamm“ allein die Macht, das Buch mit den sieben Siegeln zu eröffnen, d.h. die Geheimnisse der sieben Lichtsphären zu erkennen und zu offenbaren.

 

Der Kosmos

Die Kosmologie des Intermediarius sucht das Wesen des Kosmos nicht aus ihm selbst zu erklären, sondern aus den Ereignissen, die sich vorher in den göttlich-himmlischen Welten abgespielt hatten. Erst durch die Einwirkung der störenden, zersplitternden und verdichtenden Kräfte des Widersachers bekommt der Kosmos seinen relativen und dualistischen Charakter. Die erste Folge des großen kosmischen Streites zwischen dem Widersacher und den vier Erzengeln ist die Bildung der kosmischen Ursonne als Zentrum des Universums. Es folgen aus ihr heraus drei gewaltige Formungen, 1) das „Ternarium Mundi“, 2) der große universelle „Zodiakus“ und 3) das erste „Planetarium“. Alle weiteren kosmischen Abstufungen und Zersplitterungen sind nur eine Detaillisierung dieser drei ursprünglichen Grundformen. Die Entstehung des „Ternariums Mundi“ aus der kosmischen Ursonne heraus geschieht durch die Spiegelung der himmlischen Triade in der Form von drei senkrecht aufeinander stehenden Lichtkreisen. Der zentrale Kreis ist an die vertikale Richtung gebunden, der peripherische an die horizontale und der mittlere an jene Richtung, die die Verbindung zwischen den beiden ersteren Kreisen ermöglicht. An ihren Schnittpunkten entstehen für jeden Kreis vier Knotenpunkte, somit zwölf Knotenpunkte im Ganzen. Aus der gegenseitigen Berührung dieser drei Kreise und aus den Verbindungslinien zwischen den Knotenpunkten und dem Zentrum entstehen drei Kreuze. Die zwölf Knotenpunkte des Ternarium Mundi sind keine Abstraktionen, sondern wirkliche, kosmische Kraftzentren. Ein jedes Zentrum ist eine Sammlung von gewaltigen, dualistischen Kräften und kosmisch-hierarchischen Wesen. Ein jedes Zentrum besitzt außerdem seinen spezifischen Charakter und seinen entsprechenden Führer. Die verschiedenen Eigenschaften dieser zwölf Zentren bilden ein kompliziertes, sich gegenseitig ergänzendes Ganzes, das in der Sprache der christlichen Weisheit der große „Zodiakus Universi“ genannt wird. So wie die Ursonne das zentrale Prinzip vertritt, so vertritt der große Zodiakus das peripherische Prinzip. Das vermittelnde Prinzip wird durch das große „Planetarium“, d.h. das Reich der sieben kosmischen Planetensphären, vertreten. Die Tätigkeit des Widersachers bewirkt die Zersplitterung und Verkleinerung dieser Dreiheit in den zahlreichen Spiegelbildern derselben innerhalb des kosmischen Raumes, auf allen Stufen des Universums bis auf die Vielheit der physischen planetarischen Systeme. Ein jedes Planetensystem wiederholt in sich diese drei Prinzipien der ursprünglichen Dreiheit. Das zentrale Prinzip der Ursonne, wiederholt sich in jeder Sonne; das vermittelnde Prinzip in den Planeten, und das peripherische Prinzip in dem Umkreise der Gestirne in zwölffacher Einteilung. Die Tendenz der Zersplitterung und Verdichtung, die im Universum zur Absonderung der kosmischen Regionen voneinander führt, wird die „Involution“ genannt. Es entwickeln sich drei Hüllen innerhalb der drei Hauptregionen, die die folgenden Namen tragen: 1. die „siderische“ Hülle, dem Archäum am nächsten und dargestellt als die Schlange, die sich in den Schwanz beißt; 2. die „elementarische“ Hülle; 3. die „physische“ Hülle (Siehe Tabelle 4). Die Involution führt in vier Etappen von der siderischen Hülle bis zur physischen Hülle des Kosmos. Unser irdisch-physischer Zustand ist die vierte Etappe. Das kosmische Rad dreht aber weiter, wieder aufwärts, bis zum siderischen Anfangspunkt.

Diese Aufwärtsbewegung wird die „Evolution“ genannt. Alle kosmischen Wesen bewegen sich auf diesem riesigen kosmischen Rad und stehen unter den Einflüssen der ab- und aufsteigenden Kräfte der Involution und Evolution. Aus Tabelle 4 geht hervor, dass der Kosmos in zwei Teile zerfällt, nämlich in eine untere „Nachthälfte“ und in eine obere „Tageshälfte“. Die untere „Nachthälfte“ umfasst das Reich der Elemente und wird „Elementenmeer“ genannt. Sie erstreckt sich von der Erde bis zur Sonne. Sie ist von der Zahl „5“ beherrscht (4 Elemente und 1 „Quintessenz“). Die „Tageshälfte“ des Kosmos umfasst den oberen Teil der elementarischen Region und die siderische Region. Der obere Teil der „Forma Elementalis“ (von der Sonne bis zu Saturn) ist durch die Zahl „7“ beherrscht, die „Forma Sideralis“ (oder die Sternenwelt) durch die Zahl „12“.

An der „Oberfläche des Elementenmeeres“ befindet sich die Sonnensphäre. Sie ist eine Abbildung des zentralen, urväterlichen Prinzips und bildet somit das Zentrum unseres planetarischen Systems. Die Sonnensphäre stellt das ursprüngliche Paradies dar. Unser Planet Erde entspricht der tiefsten Stufe der Involution. Sie stellt das verdichtete Zerrbild des kristallenen Lichtzentrums der Sonnensphäre dar. Als eine Herausbildung nach dem Fall des Menschen aus dem Paradies.

 

Die kosmischen Hierarchien

Es gibt drei Haupttypen von Hierarchien, die im Kosmos tätig sind.

  1. Die so genannten „wahren Hierarchien“, die als reine Abbilder ihrer himmlisch-archaischen Urbilder im Kosmos wirken (sie sind die Hierarchien des Gottvaters).
  2. Die so genannten „luciferischen Hierarchien“ (oder „Kinder Lucifers“). Sie stellen verschiedene Grade des Bösen dar und zerfallen ihrerseits in zwei Kategorien. Erstens diejenigen hierarchischen Wesenheiten, die, Lucifers Fall folgend, sich ganz von ihren Urbildern getrennt haben. Sie sind ganz dem Bösen zugewandt und leben im Abgrund, von wo aus sie ihre bösen Taten im Kosmos ausüben. – Zweitens diejenigen hierarchischen Wesenheiten, die sich nur teilweise von ihren himmlisch-archaischen Urbildern getrennt haben und dadurch dualistische Wesenheiten geworden sind. Sie können sich sowohl für das „Böse“ als auch für das „Gute“ entscheiden.
  3. Sofern sie sich für das „Gute“ entschieden haben, bilden sie, als dritter Haupttyp der Hierarchien, die „erlösten luciferischen Wesenheiten“ und werden zu Mitkämpfern der Legionen Christi. Nun sind sie die Hierarchien des Gottessohnes.

Es sei bemerkt, dass die vier großen „Erzengel“ (Uriel, Raphael, Gabriel und Michael) nach Intermediarius, nicht zu den Hierarchien gehören. Sie tragen den Namen „Erzengel“ nur, weil ihr Tätigkeitsbereich bis in die Region der wirklichen Erzengel sich hineinerstreckt. Sie sind über alle Hierarchien, die im Kosmos tätig sind, erhaben. Im Auftrag Gottes hüten sie die vier Himmelsrichtungen, die entstanden sind mit dem Fall Lucifers. Sie sind die Behüter der im zeitlichen nacheinander entstandenen kosmischen Hüllen. (Siehe Tabelle 5)

 

Der himmlische Mensch (oder „Homo Coelestis“)

Der himmlische Mensch, in der Weisheitssprache des Intermediarius „Imago Coelestis“ genannt, ist ein von Gott selbst unmittelbar geschaffenes Wesen. Als ein erhabenes Ebenbild Gottes und ein Kleinbild des Sohnes, als so genannten „Mikrologos“, stellt er das wahre Urbild des Menschen dar. Der gottebenbildliche Mensch ist ein rein geistiges Wesen und hat seinen Wohnsitz in der Himmelsrose. Er wurde dreigliedrig geschaffen; die drei Glieder seines Wesens sind: Der „Gottmensch“, der „Menschensohn“ und der „Himmlische Mensch“. Der „Gottmensch“ ist der höchste Aspekt der menschlichen Wesenheit. Er ist der „Betende“ und in völliger Einheit mit Christus. Er ist der Träger der höchsten Liebe und besitzt die allerhöchste priesterliche Würde. Er thront in den höchsten Himmeln, im Empyreum.

Der „Menschensohn“ bildet den Mittelpunkt, das Zentrum der menschlichen Wesenheit. Er ist der Träger der höchsten Weisheit und Selbsterkenntnis. Er ist der „Wissende“ und hat die Würde des Hierophanten. Er thront im zweiten Himmel, im Kristallhimmel.

Der „Himmlische Mensch“ als dritter Aspekt des menschlichen Urbildes thront im dritten Himmel, im Fixsternhimmel, und von da aus schaut er in die unteren kosmischen Reiche hinab. Er besitzt die Macht des Willens und wird „der König“ der Schöpfung sowie der „große Hüter“ der himmlischen Schwelle genannt. Seine Mission war, durch seinen Willen alle Regionen des Kosmos zu beherrschen und zu durchleuchten, ohne aber sich selbst in den dualistischen Sphären des Kosmos zu verlieren. Die Verführung dieses „Menschen“ durch Lucifer, an der Schwelle von Himmel und Kosmos, bestand in der zerstörerischen Einwirkung auf sein Abbild im Archäum. Der „Mensch“ wurde von seinem himmlischen Urbild getrennt. Dieses Urbild blieb aber geistig in seiner ursprünglichen Einheit im Himmel weiterhin bewahrt.

Der verführte „Mensch“ fiel ab vom Archäum in den Kosmos hinein und, gefangen, wurde er zum „kosmischen Menschen“ (Homo Universalis). „Gekreuzigt“ auf dem Kreuz des kosmischen Rades, peripherisch geworden, erlitt er die Zerteilung seines Wesens in die vier Haupt-Raumesrichtungen. Mit seinem Fall verlor er seine universelle, königliche Würde und erhielt den dualistischen Charakter des Kosmos eingeprägt. (Siehe Tabelle 6)

 

Der kosmische Mensch (oder „Homo Universalis“)

Intermediarius wie auch die Vertreter der verschiedenen okkultistischen Richtungen nennen den kosmisch gewordenen „Mensch“ den großen makrokosmischen Menschen, den „Adam-Kadmon“. Die verschiedenen kabbalistischen Systeme verwechseln ihn jedoch, nach Intermediarius, mit dem himmlischen „Menschen“ und verehren ihn fälschlicherweise als den absoluten, göttlichen, ohne zu wissen, dass dieser „kosmisch“ gewordene „Mensch“ sein „zentrales“ Bewusstsein verloren habe und zu einer „naturhaften“, „peripherischen“ Wesenheit geworden sei. Um sein „zentrales“ Ich-Bewusstsein wiederum zu erlangen, musste er, so Intermediarius, neu geschaffen werden und dies sei am Anfang unserer Erdenentwickelung auch geschehen. Von diesem neu geschaffenen Menschen berichtet die Bibel in der Genesis, dass Gott ihn aus einem Klumpen Erde geschaffen habe und ihm dann seinen Odem einhauchte. Das „Paradies“, in dem dieser neue Mensch ursprünglich lebte, befand sich, nach Intermediarius, in der Sonnensphäre, daher nannte sie ihn den „Sonnenmensch“.

Dieses ursprüngliche Wesen wurde in zwei Typen getrennt: einen geistigen, zentralen, seiner „Person“ entsprechenden männlichen Typus, und einen seelischen, peripherischen, seiner „Natur“ entsprechenden weiblichen Typus.

Die Prüfung der Freiheit dieses Paares fand nun statt. Sie bestand darin, dass es ihnen „verboten“ war, von den Früchten des „Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen“ zu genießen. Als rein geistige Wesen, in der Sonnensphäre, sollten sie sich vor den dualistischen Kräften des Kosmos hüten. Adam und Eva, wie sie hießen, bestanden diese Prüfung nicht und sie fielen stufenweise in immer dichtere Gebiete hinab.[15] Gleichzeitig mit dieser Trennung fand die Absonderung der „Erde“ aus der Sonnensphäre statt. Auf dem Weg in die dichtere Materie, folgten noch weitere Versuchungen, denen Adam und Eva auch nicht widerstehen konnten. Sie bekamen dichtere Hüllen, bis sie, physisch-mineralisch, die Füße auf die feste Erde setzen konnten.

Dem Gesetz der Zersplitterung folgend, wurde aus dem ursprünglichen Sonnenmenschen eine Vielheit, eine Erdenmenschheit.

 

Die irdische Menschheit

Kain, der erste Sohn Adams, war von den tragischen Folgen des Sündenfalles am tiefsten betroffen. Er stellt den Typus der niedersteigenden Linie des menschlichen Bewusstseins dar, welches sich auf Kosten der höheren, geistigen Prinzipien mit der niederen Natur seiner Wesenheit und des Universums identifizierte.

Der zweite Sohn Adams, Abel, stellt seinerseits den Typus der aufsteigenden Linie, d.h. des himmlisch gerichteten Bewusstseins dar. Sein Opfer stieg, wie die Bibel berichtet, ungehindert aufwärts zu Gott, während sich das Opfer Kains im Reiche des Kosmos horizontal ausbreiten musste. Der Brudermord von Kain verbirgt eine tiefe Bedeutung. Kain hat dasjenige neben sich vernichtet, was sein Vater Adam in sich selbst getötet hatte, nämlich das höhere, geistige Prinzip.

Abel ist der Vorläufer aller späteren vergeistigten Erdenmenschen, „die nicht von dieser Welt sind“. Kain ist der Stammvater eines ganzen Geschlechtes gewalttätiger, Gott fernbleibender, in bloß irdischere Tätigkeit gefangenen Menschen.

Die adamitische Menschheit wurde in zwei Richtungen aufgeteilt: die so genannte „Sonnenmenschheit“, die mit dem Tod Abels von der Erde vertrieben wurde, sich wiederum mit der paradiesischen Sonnensphäre vereinigte, und die eigentliche „Erdenmenschheit“ (oder Kainmenschheit). Der spätere Sohn Adams, Seth, stellt den Typus des der Erde angepassten Abelmenschen dar. Der hohe geistige Einfluss der Abelmenschheit konnte für die Erde durch die Sethmenschheit vermittelt werden.

Der Weg der Mysterien der Sethmenschheit (hauptsächlich in Altägypten) bestand in der strengen Läuterung der Wesensglieder des Neophyten und in der unmittelbaren Vereinigung seines Bewusstseinszentrums mit den überkosmischen Reichen. Der Weg der kainitischen Mysterien (zentralisiert im alten Babylon) bestand in der Ausbreitung des Bewusstseins des Aspiranten im Makrokosmos.

Mit dem Kommen Christi auf die Erde und durch die neuen christlichen Mysterien wurden die alten Typen von Mysterien abgelöst.

Der spätere christliche „Abelmensch“ findet sein Vorbild im Apostel Johannes, der verchristlichte „Sethmensch“ in Petrus, und der verchristlichte „Kainmensch“ im Heiligen Paulus.

 

Der Tod des physischen Menschen

Der geistige Kern des Menschen, der Mikrologos, ist unsterblich. Der physische Tod bedeutet nur die Trennung zwischen diesem ewigen Kern und den äußeren vergänglichen Hüllen.

Mit dem Eintritt des Todes erwacht der Mensch zu einem kosmischen Dasein. Sein weiteres kosmisches Leben in den verschiedenen Regionen des Kosmos verläuft als Weg der Läuterung und ist wie die Umkehrung des kosmischen Falles des einst himmlischen Menschen. Nach Vollendung dieses Weges erwartet den Menschen an der himmlischen Schwelle eine geistige Prüfung, vor Christus. Das Bestehen dieser Prüfung ermöglicht ihm seine Rückkehr in die ewige himmlische Heimat als wiedergeborener Mensch, der mit seinem Urbild wieder vereinigt ist. Der Durchgangsweg aber offenbart dem Menschen zuerst alle Gesetze und Eigenschaften des dualistischen Kosmos, d.h. des „Guten“ und des „Bösen“. Zugleich ist dieser Weg eine schmerzliche Läuterung, deren Dauer und Intensität durch den Charakter des irdischen Lebens des Menschen und vor allem durch seine Stellung zu Christus bestimmt werden. Jeder mit Christus vereinte Mensch begegnet Ihm auf der großen, kosmischen Wanderung und bekommt Hilfe und Kraft durch Ihn. Diejenigen Seelen aber, die sich während ihres Erdenlebens nur als irdische Wesen behaupteten, finden sich nach ihrem Tode ausschließlich ihren eigenen Kräften überlassen. Nach Vollendung ihres kosmischen Weges erscheinen sie aber auch an der himmlischen Schwelle, jedoch mit zu wenig Bewusstseinskräften und sie können deswegen die geistige Prüfung nicht bestehen. Dies ist heute für die meisten Menschen der Fall. Das große makrokosmische Rad zieht sie in seine Kreise hinein und nimmt sie wieder mit in die tieferen kosmischen Sphären. Dadurch tritt jedes Mal so etwas wie eine Wiederholung des ersten Falles des Menschen ein. Die Seele muss, mit neuen Hüllen bekleidet, zum Erdenreich zurück, um ein neues Leben anzufangen.

In dieser Unzulänglichkeit des geistigen Kernes ist, nach Intermediarius, der Grund für die Notwendigkeit der Reinkarnation des Menschen zu suchen.

 

Christus

Der Lehre des Intermediarius gemäß, findet man in Christus drei Hauptaspekte, die voneinander zu unterscheiden sind:

  1. das ewige Wort oder der Logos als Sohn Gottes in seiner göttlichen Majestät;
  2. den Mittelpunkt der Himmelsrose in der Person des Christus als Vermittler, der auch den höchsten Aspekt des Urbildes der Menschen, als Gottmensch, darstellt.
  3. den Allerlöser des Kosmos und der Erde.

Der kosmische Weg des Christus fing im Archäum an, dem Reich der seelischen Urbilder. Im Aspekt des Gottmenschen stieg er dort hinunter und bekam von der Lichtjungfrau eine seelische Lichthülle als Umkleidung. Johannes, der Apostel, spricht von Ihm, in seiner Apokalypse, als von dem „Lamm Gottes“, das die sieben Siegel des Weltbuches öffnet.

Mit seinem Eintritt in den Kosmos nimmt Christus eine Gestalt an, die, in ihrer unendlichen Liebe, einen Verzicht auf seine himmlische Glorie bedeutet.

In der ersten siderischen Sphäre nimmt er ihre Substanz als Hülle an, macht die Entwicklung dieser Sphäre mit und, in einer ersten großen Opfertat, lässt er seine erlösenden Kräfte nach den vier kosmischen Richtungen ausstrahlen. Daher spricht Intermediarius von einer „kosmischen Kreuzigung“ Christi. Er steigt weiter durch alle Regionen des Kosmos, durch alle Reihen der Hierarchien hinab, deren Formen er jedes Mal annimmt, bis auf die Erde hinunter. In jeder Region des Kosmos geschieht eine weitere Opfertat, wodurch die betroffene Region zur Wiedergeburt fähig gemacht wird.

In der Sonnensphäre erscheint der Gottmensch-Christus, inmitten der Exusiai (Geister der Form), als der zweite „geistige Adam“ dort, wo der erste Adam seine Prüfung nicht bestanden hatte. Mit dem anschließenden Erscheinen Christi auf der Erde findet zuerst ein Vorgang statt, der ein tiefes Mysterium darstellt. Diesen Vorgang nennt Intermediarius die „zweite Schöpfung Gottes“. Darüber liest man bei Ihr:

„Die zweite Schöpfung tritt ein als Folge einer Änderung, die sich in der Trinität selber so darstellt, dass das Antlitz des Sohnes, in Vereinigung mit dem des Heiligen Geistes, statt des Angesichtes des Vaters, sich der Himmelsrose zuwendet. Was dieser Umwendung zugrunde liegt, ist nicht zu erfassen; es kann nur geahnt werden, wie der Sohn, von unendlicher Liebe erfüllt, vereint mit dem Heiligen Geiste, sich der absterbenden Schöpfung zuwendet und sich nach ihr hinneigt. Christus, der Mittler, tritt durch diese Wendung so hervor, dass Er, der bisher die urväterliche Kraft mit der urmütterlichen Weisheit in Liebe vereinigte, nun selber zum strahlenden Centrum wird […]. Während die größte Machtfülle bisher vom urväterlichen Centrum in lebendig-schaffender Kraft ausströmte […] erhält nun Christus die Fülle der Macht […] Die ganze Schöpfung, zunächst die Himmelsrose, nimmt dadurch einen anderen Aspekt an. Die bisher tätige schaffende Kraft wird beherrscht durch die Kraft der Liebe […]. Es ist der göttliche Wille in die göttliche Liebe übergegangen.“ (I. Buch, 1933, S. 116-117)

Durch sein Leben auf der Erde ist Christus ein Vorbild zur Nachfolge für die Menschen geworden. Freiwillig und in der größten Liebe hat er den ursprünglichen Weg des menschlichen Falles aus dem Himmel in umgekehrter Richtung beschritten und dadurch eine neue Bahn zum Himmel eröffnet. Für die Menschen bedeutet diese Tat einen Weg der Wiedergeburt und der Vereinigung mit dem Wesen Christi, als dem menschlichen Urbilde.

 

Der Weg der Wiedergeburt

Der Weg der Wiedergeburt des Erdenmenschen ist der Weg der christlichen Einweihung. Die Stationen des Leidensweges Christi bestimmen die Hauptstufen dieses Regenerationsprozesses.

Die drei Hauptstufen sind: die Läuterung, der mystische Tod in Christo und die Wiedergeburt durch die Kraft des Heiligen Geistes. Die drei Arten der christlichen Einweihung verfolgen alle dasselbe Ziel, der Einswerdung mit Christus. Sie unterscheiden sich dadurch, dass der erste Weg (innerhalb der „Mysterien der Kirche Christi“) vorzugsweise der Weg des „Fühlens“, der zweite Weg (innerhalb der „Mysterien der Erlösung“) der Weg des „Wollens“ und der dritte Weg (innerhalb der „Mysterien der Erweckung“) der Weg des „Denkens“ ist. Der erste Weg ist der mystische Weg, auf dem Boden der „Nachfolge Christi“ stehend. Beide anderen Wege bestehen in dem Nacherleben der sieben Stufen (oder Stationen) des Leidensweges Christi, aber in ihrem kosmischen Aspekte. (Siehe Tabelle 7)

 

Teil IV:

Die Bücher des Intermediarius

Einwände und kritische Fragen

Im letzten Teil dieser Betrachtung des Werks von Intermediarius werden in fünf Abteilungen Einwände behandelt, die der Verfasser nach langjähriger Beschäftigung mit dem Werk des Intermediarius glaubt machen zu dürfen.

  1. Das Problem der Überarbeitung der 2. Auflage, 1933.
  2. Das Problem der Anonymität des Intermediarius.
  3. Das Problem eines wesentlichen Widerspruches in der Lehre.
  4. Das Problem von Wiederholungen anthroposophischen Lehren ohne Quellennachweis.
  5. Argumente des Verfassers dieser Studie gegen die Kritik an der Anthroposophie auf Seiten der Anhänger des Intermediarius.

 

1. Die Überarbeitung der 2. Auflage

Die drei folgenden Beispiele beziehen sich alle auf Luzifer (siehe die nachfolgenden 4 Kästen):

Ferner wurde 1933 aus der ursprünglichen Einleitung des II. Buches (1918) eine lange Stelle in Bezug auf die drei Wirkungsarten der „Mysterien der Erweckung“ in Religion, Kunst und Wissenschaft ohne Begründung weggelassen. Diese Weglassung umfasst drei volle Seiten des Buches. Sie können bei der Redaktion bezogen werden.

Das letzte Beispiel zeigt eine Textumarbeitung in der 2. Aufl. des 1. Buches Intermediarius: Der ursprüngliche klare Text wird in einer Weise geändert, dass der Leser den genauen Zusammenhang zwischen Planeten und Hierarchien nicht mehr sieht und sich so eine bestimmte Frage nicht stellt, nämlich: Mit welcher Hierarchie ist denn der Planet Pluto (entdeckt 1932) verbunden, wenn die höchsten Seraphim schon dem Neptun zugeteilt sind?

 

2. Die Anonymität des Intermediarius

Intermediarius wollte offensichtlich ihre Identität als Mensch nicht bekannt geben, daher das Pseudonym. In zwei Textstellen ihrer Bücher gibt sie selber die Gründe an:

„Der Verfasser selber spielt […] nur die Rolle eines Vermittlers; sein Name als Persönlichkeit kommt deswegen nicht in Erwägung. Das Buch erscheint daher unter dem Namen ‚Intermediarius‘.“ (I. Buch, Vorrede) – „Der symbolische Charakter des Namens Intermediarius muss jedoch so verstanden sein, dass der Unterschied klar ist zwischen dem Verfasser des Buches und dem Geiste, welcher daraus spricht. Die Art der Mitteilung, die gedankenmäßige Form und intuitive Darstellung dieser Weisheit sind vom Verfasser selber; dagegen ist die esoterische Weisheitslehre mit ihren Betrachtungen über die verschiedenen Arcana und ihrer Symbolik der christlich-hermetischen Überlieferungen entnommen, welche ihre Inspirationsquelle in den ‚Mysterien der Erweckung‘ haben.“ (III. Buch, Vorrede)

Durch Äußerungen Rudolf Steiners wird jedoch ersichtlich, dass die Namenlosigkeit in Bezug auf esoterische Veröffentlichungen höchst problematisch erscheint: „Heute ist die Zeit, wo die Menschheit lernen muss, dass es gar nicht mehr so sehr auf den Inhalt ankommt, sondern darauf ankommt, wer etwas sagt; dass man kennen muss den Menschen aus dem, was er sagt, weil die Worte nur Gebärden sind und man kennen muss, wer diese Gebärde macht […] Es ist eben ein Unterschied, ob im persönlichen Ich erkämpft wird Satz für Satz, oder aber, ob es von unten oder von oben oder von seitwärts her in irgendeiner Weise zum Beispiel eingegeben ist.“ (GA 182, 16.10.1918)

Und: „Für die Überlieferung [geisteswissenschaftlicher] Lehre ist es daher recht wichtig, dass derjenige, der die Lehre aus den Quellen heraus mitteilt, mit seiner eigenen Persönlichkeit, so wie er dasteht in der physischen Welt, die volle Verantwortlichkeit für die Lehren übernimmt, und er darf sich nicht berufen auf unbekannte Meister.“ (GA 162, 1.8.1915)

 

3. Ein Widerspruch in der Lehre des Intermediarius

Die Herkunft des Menschen am Anfang unserer jetzigen Erdenentwicklung wird in den Darstellungen des Intermediarius widersprüchlich behandelt. So wird einerseits die Ansicht vertreten, dass Adam aus einem einst gefallenen himmlischen „Menschen“ neu geschaffen worden ist. Aus einem peripherisch-naturhaft gewordenen Menschen, dem kosmischem Adam Kadmon, musste ein zentraler, Ich-bewusster Mensch entstehen, der paradiesische Adam. Dieser Aspekt der Lehre wurde schon in Teil III dieser Studie (s. Novalis 5/6 2001) ausführlich behandelt.

Andererseits aber wird auch die Ansicht vertreten, in Widerspruch zu der vorherigen, dass der Mensch ohne tragischen Vorfall direkt ins Paradies versetzt worden ist. Man lese dazu die folgende Textstelle: „Solange das menschliche Urbild in der Himmelsrose lebt, ist es ein geistig-seelisches Geschöpf, das die himmlische Triade in sich widerspiegelt; unter der Führung Michaels werden ihm die Kräfte des Wassermanns eingeprägt und schaut er als himmlischer Mensch herunter in die Region des Fixsternhimmels, von welcher Michael seine Taten ausgehen lässt. Von dieser Region aus folgt der Mensch seinem Führer Michael, der seine Wirkung bis in jene vierte Region von Lucifer’s Reich hineinstrahlt […] Aus der Region des Fixsternhimmels, gehütet durch Michael, steigt der Mensch hinunter in die Sphären des kosmischen Reiches und auf seinem Wege begegnen ihm die Hierarchien […] Mit heiliger Liebe, Freude und Ehrfurcht schauen sie zum erstenmal jenes Wesen, das, kurz zuvor, doch in ewiger Gegenwart, aus dem Herzen des Vaters hervorgegangen, wie ein Bote aus den himmlischen Regionen in ihrer Mitte erscheint, denn sie wissen, dass es die göttliche Triade in sich trägt und als Abbild Gottes seine Kräfte so in das vorhandene Chaos hineinbringt, dass für den früheren Fall der Engel die Erlösung kommen kann. Voller Hoffnung sehen sie den Menschen, als er seinen Weg von dem Fixsternhimmel bis zur vierten Region betritt, wird sie scharen sich um ihn und begleiten ihn und segnen jeden seiner Schritte, indem sie beide Seiten des Weges einnehmen.

Auch die luciferischen Diener sehen den Menschen hinuntersteigen und werden von Hass und Furcht erfüllt; der Weg aber, den der Mensch geht, ist derselbe, den auch die Kräfte Michaels nehmen, wenn sie vom Fixsternhimmel bis in die vierte Religion hin­einstrahlen; daher können die luciferischen Diener den Menschen nicht erreichen, weil er unter Michaels Schutz geht.“ (I. Buch, 1933, S. 50)

 

4. Wiederholung anthroposophischer Lehren ohne Quellennachweis

  • Das ursprüngliche Opfer der Geister des Willens (Throne) als Wärme

„Dieses Feuer (der Throne) ist die Opferflamme, durch welche sie, auf eigene Kräfte des Willens verzichtend, dieselben zur Begründung und Festigung des höchsten Willens hingeben. Auf dem Altar des Allerhöchsten steigt die Feuerkraft ihres Willensopfers zu Gott empor und bildet die Grundlage für seinen Thron im Universum.“ (II. Buch, 1918, S. 96)

  • Das alt-persische Mysterienwesen; Die Sonne; Ormuzd und Ahriman

„Der persische Eingeweihte erlebte die Sonne so, dass sie ihm vorkam wie ein Lichtkörper, hinter dem sich das Wesen des großen Sonnengeistes verbirgt […] Die Sonne war der Mittelpunkt, um den sich alle Weisheit der persischen Einweihung bewegte. Das Wesen von Licht und Wärme, im Gegensatz zu Finsternis und Kälte, wurde solchen Eingeweihten Menschen offenbart, wie es im ganzen Kosmos seinen größten Gegensatz bildet als Ormuzd und Ahriman.“ (I. Buch, 1933, S. 101)

  • Lazarus, der nach seiner Aufweckung durch Christus, den Namen „Johannes“ trägt
  1. bei Intermediarius, II. Buch, 1918, S. 52, 62.
  • Die astronomischen und okkulten Planeten Merkur und Venus

Intermediarius schreibt: „Die Namen […] sind im Laufe der Zeit miteinander verwechselt worden, so dass derjenige Planet, der in der heutigen Astronomie den Namen Venus trägt, in früheren Zeiten […] den Namen Mercur getragen hat, der heutige Mercur wurde dazumal Venus genannt.“ (I. Buch, 1933, S. 88) – Vergleiche R. Steiner: GA 104, 20.6.1908; GA 106, 5.9.1908; GA 110, 15. April 1909.

  • Die Venussphäre als Luzifers Sphäre

bei Intermediarius, I. Buch, 1933, S. 99, bei R. Steiner, u.a. in GA 137, 11. u. 12. Juni 1912.

  • Die nachtodliche Rückschau des Lebens. Die inneren Bilder werden „äußere“ Realitäten

Intermediarius: „Während der Zeit zwischen dem ersten (physischen) Tod und dem zweiten (ätherischen) Tod lebt der Mensch sein irdisches Leben seelisch wiederum durch, mit dem Momente, da es mit dem Tode abgeschnitten wurde anfangend, bis an den Zeitpunkt seiner irdischen Geburt. Gleichsam rückwärts durchlebt er seelisch jenen Erdenweg, den er in der irdischen Hülle auf der Erde selber durchmachte. Damit der Mensch auch das in seinem wahren Wert schätzen lernt, was er sich auf Erden durch sein Denken, Fühlen und Wollen angeeignet hat, erlebt er dieses Denken, Fühlen und Wollen mit den Ergebnissen, die damit verknüpft sind, in seine unmittelbare Umgebung projiziert, als die aus der Außenwelt an ihn herantretenden Wirkungen. Während der Mensch sein Erdenleben so zurückerlebt bis zur ersten Kindheit, durchschreitet er verschiedene Perioden, die wie Zeitensphären in Beziehung stehen zu den makrokosmischen Centren, welche die Erde umgeben.“ (I. Buch, 1933, S. 169)

Vergleiche R. Steiner: GA 94, 2.6.1906; GA 168, 22.2.1916; GA 234, 9.2.1924.

  • Die nachtodlichen 12 verschiedenen Bewusstseinsformen

bei Intermediarius, III. Buch, 1933, S. 124, bei R. Steiner, GA 141, 10.12.1912.

  • Der heutige Schwellenübergang der Menschheit und das neue ätherische Hellsehen

Intermediarius: „… die Mehrzahl der Menschheit [ist] heute an einem kritischen Punkt angelangt, wo sie anfängt, sich allmählich vor der physischen Erdenwelt und dem eigenen physischen Körper aus in die nächste kosmische Region, die der Forma Elementalis, hineinzuleben […]. … die Menschheit [befindet] sich am Wendepunkte […], wo sie im Begriffe ist, eine wichtige Schwelle zu überschreiten.“ (IV. Buch, 1933, S. XV, 64) –

Vergleiche R. Steiner, GA 118, 1910.

  • Der Gebrauch von anthroposophischen Ausdrücken wie „Imagination – Inspiration – Intuition“

Ein Beispiel bei Intermediarius: „Durch die Kraft der Imagination, der Inspiration und der Intuition erhält das menschliche Bewusstsein die Möglichkeit […]“ (II. Buch, 1918, S. 86)

  • Rosenkreuzerische Einflüsse im Werke Goethes

Intermediarius: „[…] dass die Mysterien der Erweckung mit dem Symbol des Kreuzes und der Rosen immerfort wirksam waren, ist hier und dort in Wissenschaft und Kunst zu sehen. Das Fragment Goethes, Die Geheimnisse ist wohl ein Zeichen dafür.“ (II. Buch, 1918, S. 67) – Vergleiche R. Steiner, GA 99, 22.5.1907.

  • Der Unterschied zwischen den vor- und nachchristlichen Einweihungsmethoden

bei Intermediarius, II. Buch, 1918, S. 53 (u.a.), bei R. Steiner, GA 123, 7.9.1910 (u.a.)

  • Die kleineren Epochen von 600 Jahren in der Geschichte

Intermediarius: „In den ersten sechs Jahrhunderten nach Christus wurde zunächst von den zurückgebliebenen und dem Widersacher verfallenen Mysterien fortwährend der Versuch gemacht den religiösen Glauben des Christentums zu fälschen […] Während den nächsten sechs Jahrhunderten, bis zum 13. Jh. ungefähr, veräußerlicht dieser Kampf sich immerfort […] Durch Einwirkung aus dem Osten (Sarazenen und Mauren) wurde in die Kultur Europas der Kern gelegt zu dem, was sich dann in den nächsten sechs Jahrhunderten, etwa vom 13. Jh. an, als Bruch zwischen Religion und Kultur […] ausleben musste […]. Die nächsten sechs Jahrhunderte führen bis in die heutige Zeit hinein.“ (II. Buch, 1918, S. 66-67)

  1. Steiner: „[…] dass in der Entwicklung der Menschheit auch wieder noch kleinere Epochen sich bilden […]. So haben wir die Wiederholung eines früheren Zeitraumes in einem späteren […] bis ins 12.-13. Jh. hinein […] Das heißt… wir haben – nachdem ein Zeitraum von sechs Jahrhunderten ausgesondert ist – vom 6. Jh. angefangen, in die nächste Zeit hineinragend […] in der Religion, welche die Araber von Afrika bis nach Spanien hinübergetragen haben, diejenige Religion, die unter Nichtberücksichtigung des eigentlichen Christus-Impulses eine Art von Wiederaufrichtung der Jahve-Mondreligion in einer andern Form darstellt (Mahomet-Religion) […].

Wir müssen uns ungefähr sechs bis sechseinhalb Jahrhunderte lange Epochen denken gerade für solche Impulse, wie sie jetzt angeführt worden sind […]. Die griechische Zeit bildet eine nachströmende Welle; das ist das, was wir die Zeit der Renaissancekultur nennen, die nun durch die nächsten Jahrhunderte alles, was schon da war, befruchtet […]. Und es bedeutet wieder einen Zeitraum von sechs Jahrhunderten – d.h. bis in unsere Zeit herein – dass sozusagen diese griechische Welle sich auslebt […]. Wir leben […] in einem Übergang, insofern, als wir wieder vor dem Beginn auch einer sechshundertjährigen Kulturwelle stehen.“ (GA 124, 13.3.1911)

  • Die Vereinigung des Sonnengeistes Christus mit der Erde

Intermediarius: „Durch das Wesen Christi hat die Kraft der Sonnenregion sich im geistigen Sinne mit der Erde vereinigt.“ (I. Buch, 1933, S. 170) – Vergleiche R. Steiner, u.a. GA 103, 26.5.1908; GA 183, 24.8.1918.

  • Die spezielle Bedeutung des 13. Jahrhunderts für die Menschheitsentwicklung

Intermediarius: „So haben gerade in der Zeit, als die Mysterien der Erlösung ihre Wirkung auf Erden beschränkten […] In dem Übergang aus dem Mittelalter zur Renaissance […] wurde aus den Mysterien der Erweckung die vertikale Linie der Höhe und Tiefe in die damalige Kultur hineingetragen auf eine Weise, die jener Zeit und jener Menschheit angepasst war […]. Als Vertreter der Mysterien der Erlösung boten die Mysterien der Erweckung nach dem 13ten Jhdt. die Möglichkeit, durch ihre Vermittlung sowohl den Weg, der in die Regionen des Kosmos hinausführte, wie der, welcher das menschliche Bewusstsein in die Natur seiner Hülle hineinversetzt, zu betreten.“ (II. Buch, 1918, S. 66, 87)

  1. Steiner: „Die besondere Aufgabe: ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen den Prinzipien des Hellsehens und dem der Einweihung, trat in der neueren Zeit an die führenden Mächte der Menschheit heran […]. Es wurde dies notwendig in der Zeit, als die Menschheit eine Krisis durchmachte in bezug auf ihr höheres Erkennen. Diese Zeit ist die des 13ten Jhdts. […]. Ungefähr das Jahr 1250 ist die Zeit, in welcher die Menschen dazu kommen mussten, die Grenze zu ziehen zwischen dem, was man glauben muss nach dem Eindrucke, den die überkommenen Überlieferungen machten, und dem, was man erkennen kann […]. Als das Jahr 1250 heranrückte, begann eine neue Art der Führung zu den übersinnlichen Welten.“ (GA 15, 2. Vortrag, 1911; siehe noch dazu: GA 130, 27.9.1911 u. 27.1.1912)

 

5. Argumente gegen die Kritiken an der Anthroposophie

Im Teil II dieser Studie (s. Novalis 3/4 2001) wurde von Anhängern Intermediarius behauptet, dass die Anthroposophie bloß eine „kosmische“ Lehre sei und dass sie die höheren göttlich-himmlischen Welten nicht in ihren Betrachtungen miteinbeziehe. Diese Behauptung ist angesichts bestimmter Äußerungen des Intermediarius in ihren Werken nicht aufrecht zu erhalten. – Nach Intermediarius gibt es tatsächlich ein Gebiet innerhalb des dualistischen und vergänglichen Kosmos, das frei ist von dessen Gesetzen und welches den Charakter der Ewigkeit und der Unvergänglichkeit in sich trägt. Dieses Gebiet ist die Sonnensphäre. Intermediarius bezeichnet diese Sphäre als ein Abbild der Himmelsrose, als „Paradies“ und als Reich der wahren Hierarchien, wie aus den folgenden Textstellen ersichtlich ist: „Das Reich des Himmels wird von den Gesetzen des Raumes und der Zeit nicht berührt; dasselbe gilt auch für das wahre Abbild desselben innerhalb der kosmischen Regionen.“ (III. Buch, 1933, S. 24)

„Die in der Mitte der kosmischen Planetensphären stehende Sonnensphäre spiegelt das siebenfache Licht des Archäums, sowie die im Kosmos wirkenden Hierarchien am getreuesten wieder […]. Das Abbild des himmlischen Paradieses findet deshalb das menschliche Bewusstsein zuerst, wenn […] zur Sonnensphäre aufgestiegen ist.“ (III. Buch, 1933, S. 116)

„Die Sonnensphäre, in der die Wesen der Hierarchien sich zusammenfinden, wird in der Gestalt der Himmelsrose demjenigen Menschen sichtbar, der unter Führung der Mysterien der Erweckung diese hierarchischen Wesen in den sieben Sphären erschaut und erlebt und dann die Verbindung, die der Sonnenmensch einstmals mit denselben hatte, wieder herstellen kann.“ (III. Buch, 1933, S. 147)

„Es tritt das menschliche Bewusstsein in Beziehung zu dem Reiche der göttlichen Boten, welche in den makrokosmischen Regionen tätig sind. In diesem Reiche, welches als das Paradies bezeichnet wird, kann das menschliche Bewusstsein sich selbst erleben in Gegenwart dieser göttlichen Boten.“ (II. Buch, 1918, S. 81)

In der Anthroposophie nimmt gerade das große Sonnenmysterium durch seine tiefe Beziehung zu Christus eine zentrale Stelle ein. Das gleiche gilt auch für die umfassende Lehre über die Hierarchien. – Vergleiche dazu:

 

GA 183, 24.8.1918: Der Zusammenhang des Christus mit dem Sonnenmysterium

GA 201, 9.5.1920: Das Sonnenmysterium

GA 202, 24.12.1920: Der Zusammenhang zwischen dem Sonnenmysterium und dem Christus-Mysterium

GA 211, 12 Vorträge, 1922: Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung

GA 110, 10 Vorträge, 1909: Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelungen in der physischen Welt

GA 136, 11 Vorträge, 1912: Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen

 

Rudolf Steiner habe keine tieferen Einsichten in die höheren göttlich-himmlischen Welten gegeben? Das Gegenteil wird durch die folgenden Äußerungen und Hinweise ersichtlich:

  • Über Gott

„Wenn der Geisteswissenschaft vorgeworfen wird, sie spreche nicht von einem persönlichen Gott, wenn gesagt wird, dass sie selber es vorzöge, von der Gottheit, nicht von Gott, zu sprechen; wenn die Behauptung getan wird, als ob dasjenige, was als das Göttliche bezeichnet wird, in der Geisteswissenschaft einen ähnlichen Charakter annehme wie im Pantheismus der Monisten oder Naturalisten, so ist von alle dem das Gegenteil richtig. Gerade der Umstand, dass man in der Geisteswissenschaft zu realen geistigen Wesenheiten geführt wird, […] führt auch zu einem vollständigen Verstehenkönnen, wie ungereimt es ist, sich zu einem Pantheismus sich zu bekennen, wie widersinnig es ist, die Persönlichkeit in Gott leugnen zu wollen. Im Gegenteil, dazu kommt man, einzusehen, dass man nicht nur von der Persönlichkeit, sondern sogar von einer Überpersönlichkeit Gottes sprechen kann. Die gründlichste Widerlegung des Pantheismus kann gerade durch die Geisteswissenschaft gefunden werden […]. Aber Gott anzuerkennen, als ein Wesen, das in einem viel höheren Sinn noch als der Mensch, in einem Sinn, den man auch durch Geisteswissenschaft nicht einmal voll ahnen kann, Persönlichkeit hat, das wird insbesondere durch die Anthroposophie so recht den Menschen, ich möchte sagen, natürlich. Religiöse Begriffe werden durch die Geisteswissenschaft nicht im pan­theistischen Sinne vernebelt, sondern ihrer Wesenheit nach vertieft.“ (GA 35, 11. Jan. 1916)

  • Über Christus

„Elohim ist der Gesamtname für die Sonnenwesen […]. Christus, der Höchste der Elohim, ist der Regent derselben. Er gehört aber nicht zu den Hierarchien, sondern zur Trinität.“ (GA 11, 21.4.1909)

„Wer das Kreuz auf Golgatha schaut, der muss zugleich die Trinität schauen, denn Christus zeigt in Wirklichkeit in seinem ganzen Verwobensein mit der irdischen Menschheitsentwickelung die Trinität.“ (GA 214, 30.7.1922)

„Wir müssen stark fühlen das Ende dieser Welt, die die Welt des Vatergottes ist, […] und wie wir dadurch zu einem innerlichen Verstehen des Mysteriums von Golgatha kommen, zu jenem innerlichen Verstehen, durch das uns anschaulich wir, wie das, was im Sinne der Vatergott-Schöpfung an ein Ende kommt, durch den Sohnesgott wiederum auflebt, wie ein neuer Anfang gemacht wird.“ (GA 207, 24.9.1921)

„Dann lernen wir begreifen, wie in der Tat der Logos übergegangen ist durch das Mysterium von Golgatha von dem Vater auf den Sohn.“ (GA 221, 18.2.1923)

  • Über die höheren Hierarchien

„Wenn wir über die Seraphim hinaufgehen würden, würden wir in das Gebiet der göttlichen Trinität hineinkommen. Was ist es denn, was die Seraphim, Cherubim, Throne als etwas ganz Besonderes haben vor allen anderen Wesenheiten in der Welt? Sie haben, was man genannt hat den ‚unmittelbaren Anblick der Gottheit‘. Was der Mensch sich durch seine Entwickelung nach und nach suchen muss, das haben sie von allem Anbeginn an. Wir Menschen sagen: Wir müssen von unserem heutigen Standpunkte ausgehen, um immer höhere Kräfte der Erkenntnis, des Willens und so weiter zu erlangen; dadurch werden wir immer näher und näher der Gottheit kommen, immer gegenwärtig wird uns die Gottheit sein. Aber wir sagen uns: Wir entwickeln uns zu etwas hinauf, was uns noch verschleiert ist, zur Gottheit hin.

Das macht den Unterschied aus zwischen den Seraphim, Cherubim, Thronen und dem Menschen: dass vom Anbeginn unserer Entwickelung an diese höchsten Wesenheiten der geistigen Hierarchien unmittelbar herum sind um die göttliche Wesenheit, um die göttliche Trinität, dass sie den Anblick der Gottheit von Anbeginn an genießen. Wozu der Mensch sich entwickeln soll, das haben sie vom Anbeginn. So also ist es unendlich wichtig, zu wissen, dass diese Wesenheiten, wenn sie entstehen, Gott anschauen, dass sie, indem sie leben immerfort Gott anschauen. Was sie nun tun, was sie vollbringen, sie tun es aus ihrer Gottesanschauung heraus, Gott tut es durch sie. Sie könnten gar nicht anders, es wäre ihnen unmöglich, jemals anders zu handeln, als sie es tun, denn die Gottesanschauung ist eine so starke Kraft, hat eine solche Wirkung auf sie, dass sie mit unmittelbarer Sicherheit und unmittelbarem Impulse dasjenige in Szene setzen, was die Gottheit ihnen aufträgt […]. Und dabei sehen sie die Gottheit in ihrer ursprünglichen, wahren Gestalt, so wie diese Gottheit ist. Sie selber aber sehen sich nur wie die Vollstrecker des göttlichen Willens, der göttlichen Weisheit an. So ist es bei der höchsten Hierarchie.“ (GA 110, 18.4.1909, abends)

  • Über die Spiegelung der Trinität als himmlische Triade

– Privatlehrstunde, Sommer 1903, GA 88, S. 166-171: „Der erste, zweite und dritte Logos“.

– Vortrag vom 11.11.1903 (GA 88): „Die drei Logoi“.

– Vortrag vom 2.7.1904 (Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 1979, Heft 67/68): „Die Logoi“.

  • Über die drei höchsten Himmel

Sie sind bei R. Steiner als „Nirvanaplan“, Paranirvanaplan“ und „Mahaparanirvanaplan“ bezeichnet. Siehe dazu: GA 93a, 30.9.1905; GA 94, 2.6.1906; GA 137, 12.6.1912.

Speziell über den „Kristallhimmel“ sagte er:

„Dasjenige, was da angekommen war im Beginne unserer Erdenentwickelung vor der Saturn-Entwickelung, das müssen wir auswärts setzen, außerhalb des Tierkreises. Die Urweltweisheit hat es genannt den Kristallhimmel.“ (GA 110, 18.4.1909, abends)

  • Über die Urbilderwelt („Archäum“ bei Intermediarius)

„… so dass wir hinaufsteigen in den Makrokosmos von Stufe zu Stufe durch die elementarische Welt, durch die geistige Welt (niedere Devachan), durch die Vernunftwelt (höhere Devachan) und durch die Urbilderwelt.“ (GA 119, 26.3. 1910)

„Alles Physische um uns her entsteht und vergeht, nur die Urbilder der Dinge entstehen und vergehen nicht; sie sind nicht geschaffen und vergehen nicht, sie sind ewig. Die physische Erde entsteht und vergeht, aber das Urbild der Erde entsteht und vergeht nicht […]. Der Mensch entsteht und vergeht physisch; aber für jeden Mensch ist ein Urbild da; das ist ewig […]. Das Aum ist das Hinübergehen aus den Abbildern zum Urbild zurück, das Aufgehen in dem Unvergänglichen […]. Das ist, was auch in dem Ostergedanken liegt. Es ist die Auferstehung des Menschen aus dem Haften am Vergänglichen und Materiellen in die ewigen Regionen der Urbilder hinein.“ (GA 245, E.S. 13.4.1906)

In anderen Vorträgen nennt Rudolf Steiner die Urbilderwelt die „Buddhisphäre“ oder den „Shushuptiplan“ (GA 93a, 30.9.1905), oder auch die „Welt der Vorsehung“, in welcher die 12 erhabenen Bodhisattvas den Christus als die wahre Lebensquelle des Universums anerkennen. (GA 116, 25.10.1909)

 

Die Intermediarius-Zitate sind unverändert wiedergegeben worden

(z.B. Hierarchieen, Seraphime, Trone).

 

 

Autorennotiz: Imre Boejtes (*1953), ungarisch-slawischer Herkunft, lebt in Dornach. Kindheit und Jugend in Brüssel; Abitur, Studium (Elektronik, Informatik). Aufenthalt in einem tibetisch-buddhistischen Kloster in Brüssel und in Südfrankreich.

1979 Begegnung mit der Anthroposophie. Malereistudium am Goetheanum in Dornach, anschl. Kunstlehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Lausanne. Seit 1988 Mitarbeiter der Bibliothek am Goetheanum.

 

Die vier Teile dieser Aufsatzreihe wurden zuerst veröffentlicht in Schaffhausen (CH) in der Zeitschrift NOVALIS – Zeitschrift für spirituelles Denken (Jg. 2001)

 

Teil I: Jg. 2001 Nr. 1/2   (S. 65 f.)

Teil II: Jg. 2001 Nr. 3/4   (S. 70 f.)

Teil III: Jg. 2001 Nr. 5/6 (S. 16 f.)

Teil IV: Jg. 2001 Nr. 9/10 (S. 24 f.)

 

 

 

[1]   Studienhefte für Anthroposophie 1949. Jg. 3, Nr. 5 und 1950, Jg. 4, Nr. 6

[2]   Prof. Dr. Martin Kriele ist 1996, nach 35 Jahren Mitgliedschaft, aus der Anthroposophischen Gesellschaft ausgetreten. Die Gründe sind dargestellt im Epilog seines Buches Anthroposophie und Kirche. Erfahrungen eines Grenzgängers. Freiburg 1996.

[3]   Klaus J. Bracker, Schriftsteller, veröffentlicht regelmäßig in der Zeitschrift Novalis.

[4]   Dr. Hubert Palm ist bekannt als ‚Vater des biologischen Bauens‘ („Baubiologie“). Sein Grundwerk ist: Das gesunde Haus – Das kranke Haus und seine Heilung. – Die biologische Bauordnungslehre in der Architectura perennis. Konstanz 1975.

[5]   Heide Willich, Lev L. Kobylinskij-Ellis: Vom Symbolismus zur ars sacra – Eine Studie über Leben und Werk. München 1996.

[6]   Taja Gut (Hg.), Andrej Belyj – Symbolismus – Anthroposophie – Ein Weg. Dornach, 1997. (Vgl. Rezension in Novalis 2/1998)

[7]   A. Belyj, Verwandeln des Leben, Basel 1975, S. 72, 211.

[8]   Siehe Anm. 6, S. 53-54.

[9]   Max Gümbel-Seiling, „50 Jahre seit Beginn der Münchener Uraufführung R. Steiners Mysteriendramen“ in Mitteilungen aus der anthropos. Arbeit in Deutschland. 1960, Nr. 54, und in Wolfram Groddeck (Hg.), Das Wirken Rudolf Steiners (Bd. III, 1907 bis 1917). Schaffhausen 1980, S. 18.

[10]   A. Belyj, Geheime Aufzeichnungen – Erinnerungen an das Leben im Umkreis R. Steiners (1911-1915). Dornach 1992.

[11]   Assja Turgenieff, Erinnerungen an Rudolf Steiner. Stuttgart 1972, S. 31.

[12]   12) Eintritt in die A.G. 1927, Austritt 1945.

[13]   Studienhefte für Anthroposophie 1949, Jg. 3, Nr. 5 und 1950, Jg. 4, Nr. 6. Dazu noch eine Kritik durch R. Steiner der Schrift von A. Mager, Theosophie und Christentum (in GA 36, S. 244 f., Aufl. 1961. „Mein Erlebnis beim Lesen dieser Schrift“ von Alois Mager.

[14]   Den Unterschied zwischen dem ungeoffenbarten Gott und der „himmlischen Triade“ im Sinne Intermediarius, drückt Jakob Böhme (1575-1624) in zwei Begriffen aus: 1. Ungrund, 2. Urgrund. – Eine ähnliche Anschauung über Gott und dessen „Spiegelung“ äußert auch der englische Arzt und Rosenkreuzer Robert Fludd (1574-1637). Er unterschiedet ebenfalls zwischen einem hocherhabenen Gott (der „Deus absconditus“) und dessen Spiegelungen als „Urvater“ („Voluntas Dei“) und als „Urmutter“ (Noluntas Dei“). Bei R. Fludd ist diese urmütterliche Komponente nur als eine potentielle Kraft vorhanden; deshalb nennt er es auch „Potentia Divina“, die chaotische Finsternis und es stellt die „Materia Prima“ der Alchymisten dar. – In diesem Zusammenhang sei noch die Lehre des Kabbalisten Isaac Luria (1534-1672) erwähnt. In seiner so genannten „Tsimtsum“-Theorie (Zurückziehung Gottes), stellt er die erste Offenbarung des höchsten Gottes, des Ain-Sof, dar als einen Akt des In-sich-selbst-Zurückziehens Gottes. Dadurch entsteht eine dynamische Polarität zwischen einem Zentrum (des in sich zurückgezogenen „Vaters“) und einer neu entstandenen Peripherie (die „Urmutter“).

 

[15]   Eine erstaunliche Parallele in Bezug auf diese Darstellungen von Intermediarius findet man in den Schauungen der berühmten stigmatisierten Mystikerin und Seherin Anna K. Emmerich (1774-1824). Von Adam und Eva heißt es bei ihr: – „Vor der Sünde waren Adam und Eva ganz anders beschaffen, als wir elenden Menschen es jetzt sind. Mit der verbotenen Frucht aber nahmen sie Form […] und was geistig war, ward Fleisch, Sache, Werkzeug, Gefäß. […] Sie waren ganz leuchtend, mit Strahlen bekleidet wie mit einem Flor. Aus dem Munde Adams sah ich einen breiten Lichtstrom leuchten […] Um seinen Mund war eine Strahlensonne; um Evas Mund war dieses nicht […] Die Brust war mit Strahlen umgeben und mitten im Herzen sah ich eine leuchtende Glorie und darin ein kleines Bild, als halte es etwas in der Hand […] Auch aus ihren Händen und Füßen sah ich Lichtstrahlen fließen. Ihre Haare fielen in 5 leuchtenden Strahlenbündeln vom Haupte hernieder. […] Eva hatte mehr mit der Erde und den Geschöpfen zu tun, sie schaute mehr nieder und um sich her und schien neugieriger. Adam war stiller und mehr zu Gott empor gerichtet […] Denn sie fühlten nur Dank; Adam aber mehr als Eva, welche mehr an das Glück und die Dinge dachte, als an den Dank. Sie war nicht so in Gott, wie Adam, sie war mehr in der Natur mit ihrer Seele […] Ich sah [nach dem Sündenfall], als greife der Herr hinter ihm [Adam] her und als nehme Er ihm etwas hinweg; und es war mir, als werde das Heil der Welt daraus kommen. […] Das Paradies besteht noch immer. Es ist aber den Menschen ganz unmöglich, dahin zu gelangen. Ich habe gesehen, wie es noch in seinem Glanze besteht, hoch droben, von der Erde abgesondert.“ (A.K. Emmerich, Die Geheimnisse des Alten Bundes. Pattloch Verlag, 1990, S. 12-25.)

A Feminine Inspiration

 

by Michael Frensch

 

The terrible attacks by young radical islamists on November 13th in Paris caused a wave of compassion and kindred feelings towards the French around the world. The Marseillaise – the French national anthem – resounded beyond France, where it was sung at official occasions in other countries. The French flag – the Tricolour (blue-white-red) – was projected, using modern technology, on many buildings and places around the world. A notable moment was at Wembley Stadium in London where the French national team met England in a football match, only four days after the events in Paris. The Stadium was lit up in the French colours and the players sang the Marseillase together before the match. French president Hollande declared the situation as an act of war, not only against his country but also against the values of European and western civilisation in general. He called for an immediate international alliance against the so-called ‘Islamic State’. Britain joined this alliance and, since December 3th, the British Royal Air Force conducts aerial attacks, not only in Iraq but also in Syria, together with the Americans, the Russians and the French who had already commenced their bombing of military positions of the Islamic State.

Key words and phrases have been used to justifying these military operations: ‘terror’ and ‘war’ against western civilization, with its values of ‘democracy’, ‘freedom’ and ‘human rights’. It is common knowledge that these values relate to the great cry for the ideals of ‘Liberty, Equality Fraternity!’ that came to the fore in the French Revolution from 1789 and have been championed and espoused in Europe and in the United States until today. The word terror appeared, for the first time, in the French Revolution when it was used as an instrument of politics. From June 1793, until July 1794, the revolutionary Committee of Public Safety of the Jacobines, spearheaded by Danton, Robespierre and Saint-Just, established a reign of terror in France. Later, in the Napoleonic era (1804-1815), war was the main instrument to spread the ‘values’ of the French Revolution all over Europe. It would be no exaggeration to see killing, terror and war as a threefold shadow accompanying the threefold cry of the French uprising, that of liberty, equality and fraternity. These polar opposing threefold entities continued to be linked together in many conflicts around the world from thereon. And so today, we are made ever more aware of the tension between these two opposing forces, brought into dreadful view by cruel and radical islamists. What can we do when confronting these challenges and threats? Do we only have the choice to defend our ‘values’ with weapons and war?

 

In a painting made in 1830 by the French romantic painter Eugène Delacroix, (1798-1863), the elements of our current dilemma are, somewhat presciently, shown. The inspiration for this artwork was the uprising of the people of Paris in July1830 against the government of King Charles X (who ruled in a constitutional monarchy from 1824-1830); he was the last true Bourbon on the French throne who strove for restoration of the aristocracy. When the government of Charles tried to dissolve the Parliament and ratchet up the restriction of press freedom it encountered the resistance of the middle classes and the growing proletarian underclass. In three days, from July 27-29, the Paris population mounted the barricades and forced Charles to resign and escape to England. (It may be worth mentioning that a vital part of the French army was not at Charles’ disposal during this time as they were fighting in Islamic Algeria, which they finally occupied in 1832).

After the three-day-revolution, Charles was succeeded by his distant relative Louis Philippe d’Orléans (1773-1850) who was to be the last king of France – the so-called ‘Bourgeois-King – ruling the ‘Golden Era of Bourgeoisie’ in France until 1848. The three days of July 1830 were called ‘Les Trois Glorieuses’ (the Three Glorious Days). They were to have an enormous impact on the social and political development in Europe in the19th century.

The Delacroix painting, which he called La Liberté guidant le peuple (Liberty Leading the People) depicts the deciding battle, on July 28, 1830, when the people stormed the barricades. If we look into the painting we see a woman with bared breasts, coming towards us. In her right hand she is waving a large Tricolour, whilst her other hand holds a musket with a fixed bayonet. In front of her left foot, on the other side of the barricade in the foreground of the painting, three men lay dead; the one on the left (when viewing the painting) is without trousers, recalling the sans-culottes (meaning ‘without trousers’, a derogatory name given to the poorer class of people who did not wear the fashionable silk knee-breeches of the nobility and bourgeoisie) who had contributed the main part of the revolutionary masses from 1789 onwards. The middle dead man is an officer, who seems to have joined the people (see the red flower in his buttonhole). To the right we can see the head and shoulders of a fallen royal soldier. Left of the woman, a younger fighter is looking up to her; obviously badly hurt, he rests upon his hands and knees. Behind him a man in bourgeois garment with a top hat raises a gun, ready to fire. To the woman’s right side an adolescent with two pistols presses forwards, seemingly shooting haphazardly into the air.  Behind this scene, to the left side of the picture, the mass of uprising people is shown with all sorts of weapons – swords, knives, guns, bayonets – raised in the air. They wear different headwear, among them can be seen a Napoleon-like bicorne hat. The figures and their garments obviously represent the many different classes of people and leading figures contributing to the progress of Liberty since the times of the French Revolution. On the right side of the painting, before the towers of Nôtre Dame and other buildings in Paris, some royal troops in military formation appear, painted so small as to be hardly visible.

Huge clouds of smoke separate the two factions – one could characterise them as, to the left, ‘liberty and emancipation’ and to the right, ‘law and order’ – wrapping the whole scene in a somewhat billowing, triangular space of pallid light. One can almost hear the smoke-filled bloody uproar and rage of the liberty hoard and feel the passions within the souls of those taking part.

The woman in front wears the Phrygian cap (as did the Jacobines) and is thereby identified with a figure well known to the French: Marianne. There is a context for this. During the French Revolution many allegorical personifications of ‚Liberty‘ and ‚Reason‘ appeared. These two figures finally merged into one: a female figure, shown either sitting or standing and accompanied by various attributes, including the tricolor cockade (a knot of ribbons) and the Phrygian cap. This woman typically symbolised Liberty, Reason, the Nation, the Homeland, the civic virtues of the Republic. In September 1792, the National Convention decided by decree that the new seal of the state would represent a standing woman holding a spear with a Phrygian cap held aloft on top of it. At the time of the Revolution, the common people were fighting for their rights and it seemed fitting to name the Republic after the most common of French women’s names: Marie (Mary) and Anne: Marianne. Accounts related by the Revolutionaries of their exploits often contained a reference to a certain Marianne (or Marie-Anne) wearing a Phrygian cap. This pretty girl of legend inspired the revolutionaries. And so Marianne gradually became synonymous with Liberty and was revered as a heroine across the whole of France. Her memory brought further inspiration to the 1830 uprising. Artists and sculptors often depict her with a bayonet in her left hand and, today, statues of her are to be found in every city hall in France and her face adorns many artifacts, including French coins and stamps.

Although Delacroix depicts her leading and inspiring the people to overcome their bondage, through the sunlight illuminating from the right side of the picture, falling on the bare breasts of the woman, the kneeling young man by her feet and on the dead warriors in front of her, the painter also points to the fact that passion, bloodstained fighting, suffering and death are the inevitable companions of this march of liberty and emancipation into the future.

Marianne was not the first female national hero in France to inspire and lead the French people towards more liberty, independence, a new national consciousness and to the eventual enthronement of a new king, Louis Philippe I (1773-1850) in 1830. In 1422, during the one-hundred-years-war between England and France (1337-1453), a country girl from Domrémy in Lorraine experienced a voice speaking to her and, guided by this spiritual inspiration, she met and gained the trust of the Dauphin (the title given to the heir apparent to the throne of France) Charles (1403-1461). Subsequently, Jeanne d’Arc (1412-1431) managed to raise the morale of the recently defeated French troops, leading them to a change in their fortunes in the War and enabling the Daupin’s coronation at Reims Cathedral, when he become Charles VII in 1429.

Captured on May 23, 1430 in Compiègne by the Bourgundians who were allied to the English, Jeanne was sentenced to death by the English and burned at the stake in Rouen, on May 30, 1431. In the Catholic Church she is now worshipped as a saint.

 

Based on his spiritual research, Rudolf Steiner confirmed that it was the Archangel Michael who ‘spoke’ and inspired Jeanne and he further stated the importance of her role in the birth of what he termed the consciousness soul. According to Steiner this is a soul development whereby humanity becomes increasingly conscious on a spiritual level, becomes prepared to understand certain ‘truths’; where people also want to now take affairs more into their own hands. It’s a stage of human development, in the course of spiritual evolution, “… causing the self-existent true and good to come to life in his inner being…” 1. Steiner offers some insight about the conscious soul in that brings about “… national impulses which implant themselves in mankind in divers forms and with different nuances … in France the development of the national impulse is orientated towards man, towards the individual, in England towards mankind”.2 Only if the English influence was removed from continental Europe could the right development in the French and English nations of people come about. For this to happen the English had to be defeated and eventually driven out of France. Only then could the English properly concentrate on their own developmental tasks as a people, leaving the French free to play an important role for the social and political development in Europe during the centuries to come.

We can see Marianne represents something that speaks ‘from below’ as it were, from human passions and concerns to the French people of the Paris uprising, whereas, some centuries before, Jeanne with St. Michael as her guiding spirit was inspired ‘from above’, as it were. Yet both of these heroic figures were connected with bloodstained fighting, sufferings and radical political changes. This raises a question: Do Heaven and Earth agree that fighting, suffering and death are inevitable companions for the development of mankind’s consciousness soul?

To answer this question, I invite the reader to give their attention to another painting related to French military activities that, like the Delacroix picture, is showing a women stepping towards us. It was commissioned in 1512 by Pope Julius II occasioned by the victory of the Papal States against the invading French troops and of the, eventual, annexation of the town of Piacenza by the Pope. Raffael (1483-1520) created this painting in the years 1513/1514 – some 80 years after the death of Jeanne d’Arc and the beginning of the era of the consciousness soul – for the high altar of the abbey of Piacenza where venerable relics of Pope Sixtus II († 6. August 258) and of Barbara from Nikomedia (a saint of the 3rd century) were placed. But this painting does not feature the celebration of a triumph, in battle or otherwise, but rather presents the observer with a mystery that only they can solve for themselves. We are speaking about the world famous Sistine Madonna, which resides today in the Zwinger Palace in Dresden, Germany.

 

At a first glance some questions may arise: Why do the two cherubs leaning on a table (or on a coffin lid, as some interpreters have suggested) appear in the foreground? Why is the figure on the left, representing Pope Sixtus II, pointing in our direction? Why are the countenances of the woman, and of the child, looking so worried? What does the open green curtain mean and why is Pope Sixtus II placed behind and Saint Barbara (the woman to the right of the painting, as we look at it) placed before the curtain, although the Pope appears much more in the foreground than she does? A strange perspective. And what about all those faces that appear in the cloudy background behind the curtain? And why is the whole event happening in the clouds?

There are always different possibilities to answer a question. We may think and consider, from this side and that, all the well-known facts related to our problem. Being in this thoughtful, pondering state, might our consciousness not resemble the cherub on the right, looking rather helplessly somewhere while darker clouds surround his head? His folded arms and wings are pointing in the horizontal direction.

We might look for an answer in a higher realm, like the other cherub does with his raised eyes. He is more upright, leaning his head on his left arm which is held vertically, creating something of a right angle with his other arm. The clouds around his head are brighter. If we then gaze to the three golden crowns placed over a rounded conical shape to the left of this cherub – is this a kind of headwear for the Pope? – we may consider them to be an indication that our consciousness has to transform and climb three more stages over and above our normal ‘brain thinking’.

If this is so then Pope Sixtus might show us the first step, as he is looking into a higher region, towards the woman and child. What he sees touches him in such a way that he puts his left hand across his heart. But the magnificent meaning and impact of that vision is not only speaking to him alone but to everyone, for the whole of mankind. That is why he is pointing towards us, the viewers. We can call this stage of consciousness, vision, and as such a vision causes reflections of clear and sober images in the soul – perhaps indicated by the golden cloak of the pope – one can be minded that Rudolf Steiner called this faculty imagination.

The second step of transforming our consciousness is represented by Saint Barbara, to the right of the painting. This time it is not about seeing, but is all about listening. If we not only experience the images that our vision causes in our soul, but also wish to understand their message, then we have to bring a halt to our efforts to try and grasp and relate familiar concepts to our vision. Rather, we have to learn to listen to the thoughts that gracefully ‘drop’ from a higher sphere into the stream of our thinking. We need to open our thinking and not add our own thoughts to it but be prepared to allow a thought to come towards us. This is why Saint Barbara has turned her head away from the reality the Pope is looking at. With downward cast eyes she is falling to her knees, holding the veils of her clothes in the region of her heart. Her graceful and humble gestures tell us that what she inwardly hears and receives suffuses her and touches her heart. As the thoughts received in this stage of consciousness stem from a higher spiritual realm, we, in accordance with Steiner, can call this faculty of our transformed consciousness inspiration.

The third step of transformation is represented by the woman with the child in her arms, stepping towards us on the clouds. This time, it is not about seeing, nor listening, but meeting in the heart. When we not only want to have images or illuminating thoughts of an experience of the higher realms, but also want to know who, in their inner essence and being, we have ‘seen’ and whose message we have heard and understood, we have to meet such a being, so to speak, ‘from heart to heart’ and thereby become one with the other. Two who are one – that is exactly what the woman with her child shows. And as this meeting happens in the heart, Raffael reveals it as the mystery of the heart. The reader only has to turn the picture upside down to discover that with the veil flowing from the woman’s head around the child, encompassing her head, torso and the child, the whole resembles an open human heart.

 

Thus, the third step of transforming our consciousness leads to a recognition of the heart, within the heart and therefore can be called ‘love-recognition’. Steiner called it intuition.

What is the kernel of this threefold process of recognition that Raffael is presenting in his painting? To what reality does he want to draw our attention? To answer this question we have to look ‘behind the scene’, to the realm in the background behind the curtain where all the faces appear. They are human faces with different looks. The Greek philosopher Plato spoke about ideas, forms, dwelling in Heaven. Another word for the Greek word eidos (εἶδος) is countenance, or face. Thus, Raffael opens a view into the ‘heaven of ideas, of forms’ and reminds us that all these ideas together build the future countenance, the future form, of mankind – the future of man (the human, man-woman) on Earth. And the woman in the painting brings this countenance of mankind in the shape of the child in her arms, coming down towards us, meeting us through all three stages of our transformed consciousness to come, but finally here, now, meeting our daily consciousness. Whilst we attempt the raising of our faculty of recognition she is descending to meet it, on every stage, bringing the whole future of mankind to Earth.

But this future comes to Earth in the shape of individual persons – in the appearance of you and me. That is why the curtain is there. It was already mentioned that this curtain confronts us with a mystery by showing Pope Sixtus behind and Saint Barbara before it, whereas the Pope appears much more in the foreground than Saint Barbara. The mystery opens when the observer moves to the right side and views the painting from a little distance away at an angle of about 23°. [This angle being between where the observer stands and the flat surface of the painting]. Then the observer will remark that the curtain and the positions of the figures are correct, in perspective and that Saint Barbara has now come more forward in the painting and the Pope recedes a little into it. Now they appear on the same level together. Thus, when standing in front of the picture, looking straight at it, it can be seen that the curtain is hanging down from the curtain rail straight across the back of the picture, but the painting offers a different perspective when looking at the parts of the curtain that hang down behind Saint Barbara but rather further to the front by the side of the Pope. This suggests an angle of 23° to the picture’s surface! Why 23 degrees? It is our human heart that inclines with the vertical axis of our uprightness exactly at this angle. The axis of the Earth and the angle of the ecliptic3 of the Sun around the Earth also show this same angle. It is as if Raffael wanted to tell us that every personal human being on Earth is one singular and original expression of the Son of Man brought towards us by Mary, the woman in the middle of the painting. We already belong to, and are, the future and the more we manage to transform our consciousness, the more we’ll resemble the Son of Man!

When it was earlier mentioned that Raffael’s painting confronts the observer with a mystery that only the they can solve, we may now understand why: The observer is the mystery that can only be resolved through transforming, step by step, their own consciousness.

Looking back at the two other pictures showing Marianne and Jeanne d’Arc, we now can see in the Sistine Madonna a kind of peaceful synthesis of those two figures: whereas Marianne is an image created by man’s consciousness with her origin ‘below’ in the uprising human soul longing for liberty and reason, the Sistine Madonna is an image created by the uprising human consciousness with her origin above, in the supersensible world. And whereas Jeanne imposes the will of the spiritual world to mankind on Earth, inspiring fight, violence and death, the Sistine Madonna reveals the heavenly plans in full harmony with the free will and striving of the individual human person. And herein lies the reason for the concerned look on the faces of the two women and child mentioned earlier: It is a free human decision to take this path of development and an open question as to whether or not humanity as a whole will manage this. For every individual human being it is a personal challenge and a question: will they awake to what is needed and what is possible for a right human development and decide to take these steps into the future, or not.

Marianne, and also Jeanne, were followed by the threefold shadow of fight, suffering through injury and violent death; the Sistine Madonna brings the remedy, revealing imagination, inspiration and intuition as the threefold way to meet her and thereby to overcome this shadow.

Thus, the Sistine Madonna with this ascending and descending motif can be understood as the painting for the whole era of the consciousness soul: it shows the uprising of human consciousness and the descent of the human future in one and the same picture. It can be understood as the annunciation of an Eternal Christmas:

 

Revelations from above

brings peace on Earth

for all men of  good will –

the will to transform their daily consciousness.

 

It might be worthwhile to add that the Sistine Madonna survived the bombing and total destruction of Dresden by the Royal Air force  in the night from February 13 to February 14, 1945, and today anyone can meet her.

 

This article was published in the English journal New View on Christmas 2015

Michael Frensch is a book publisher, writer and lecturer living in Neukirchen, Germany.

 

Endnotes

1. Theosophy, by R. Steiner.

2. From Symptom to Reality in Modern History, Lecture 1, R.Steiner. (GA 185)

3. The Earth’s orbital plane is known as the ecliptic plane, and the Earth’s tilt is known to astronomers as the ‘obliquity’ of the ecliptic, being the angle between the ecliptic and the celestial equator on the celestial sphere. It is denoted by the Greek letter ε. The Earth currently has an axial tilt of about 23.4°

 

 

 

 

 

 

Neben den Verbindungen anthroposophischer Geisteswissenschaft mit der rosenkreuzerischen Spiritualität vergangener Jahrhunderte, die schon vielfältig thematisiert wurden, gewinnt innerhalb der anthroposophischen Öffentlichkeit die Frage nach deren Verhältnis zur manichäischen Geistesströmung seit einigen Jahren vermehrt an Interesse. Angesichts des in der Welt unübersehbaren, stetig anwachsenden Wirkens von Ungutem, Schlechtem, findet das Wort Christian Morgensterns „Liebt das Böse – gut!“[1] zunehmend Aufmerksamkeit. Die häufig anzutreffende Auffassung, das so gefaßte Motiv gehe ursprünglich auf Mani selbst oder die Manichäer zurück, stützt sich vermutlich auf bestimmte Ausführungen Rudolf Steiners über den Manichäismus, auf die wir unten zurückkommen. Mit der Meinung, das besagte Motiv sei manichäisch, geht die Idee einher, das Böse, Finstere wäre lediglich der mit dem Guten, Lichten notwendig verbundene Schatten. Diesem Schatten des Guten dürfe nicht mit Negation und Gewalt, ihm solle vielmehr mit Milde, mit Liebe und Güte begegnet werden.[2] Daß diese Haltung aber, in der sich der urchristliche Auftrag der Feindesliebe (Mt 5,44) zu spiegeln scheint, insbesondere den Manichäismus auszeichnen soll, wirft eine nicht unbedeutende Frage auf, denn diese Sicht deckt sich nicht mit dem, was die religionsgeschichtlichen Quellen dazu mitteilen. Ist diese Idee, statt sie auf den historischen Manichäismus zurückführen zu wollen, nicht viel eher als Hinweis darauf zu verstehen, daß Steiner, wenn er von „Manichäismus“ spricht, ein Neues, Zukünftiges meint, für das, wenn auch anknüpfend an Gewesenes, in unserer Zeit erste Impulse gegeben werden sollen? – Wäre dem so, dann dürfte Anthroposophie allerdings nicht an traditionell-manichäischen Ausformungen gemessen werden. Dennoch, was geben – vergleichsweise – die historischen Quellen in dieser Frage?

 

Der manichäische Mythos

 

Um das überlieferte Verhältnis des Manichäismus zum Bösen zu verstehen, soll hier dessen Schöpfungsmythos – in starker Verkürzung – nachgezeichnet werden.[3] Dem Stifter dieses synkretistischen Religionssystems Mani (216-276) zufolge stehen sich von allem Anbeginn an das Reich des Lichts und das der Finsternis, der Vater der Größe und der König der Finsternis gegenüber. Das Reich des letzteren quält sich in einem unablässigen Kampf mit sich selbst. Da erblickt der dunkle Fürst weit über sich die Herrlichkeit des Lichtreichs, und er begehrt, es sich einzuverleiben, was ihm jedoch auch mit der Hilfe seiner Heere nicht gelingt. Der Vater der Größe läßt daraufhin aus sich die Mutter der Lebendigen und aus ihr wieder den Ersten Menschen hervorgehen, um in dessen Gestalt herabzusteigen und mit der Finsternis zu kämpfen, damit sie von ihren Anfällen gegen das Licht ablasse. Der Erste Mensch wird aus den fünf Elementen des Vaters – Nous, Denken, Einsicht, Gedanke und Überlegung – mit einer Rüstung, der Lebendigen Seele, versehen, die die Form der fünf Elemente der Lichterde – Luft, Licht, Wind, Wasser und Feuer – annimmt. Nachdem der Erste Mensch im Kampf mit dem Fürsten der Finsternis unterliegt und selbst zwar durch den Ruf des Lebendigen Geistes erlöst wird und in das Reich des Vaters der Größe zurückgelangt, bleibt doch seine aus den Lichtelementen des Vaters der Größe gewobene Umkleidung, die Lebendige Seele, im Reich der Finsternis zurück. Der dunkle Fürst verschlingt sie gierig, und so kommt es zu einer heillosen Vermischung von Licht und Finsternis. Von nun an geht es im weiteren Weltprozeß nur noch um die Rückgewinnung der in der Finsternis gefangenen Lichtteile, um die letztliche Erlangung eines Endzustandes, in dem Licht und Finsternis wieder vollständig getrennt sein werden. Dazu treten – in einer Welt geschiedener Himmel und Erden – der Dritte Gesandte sowie Jesus der Glanz auf, die auf Sonne und Mond als bereits zurückgeläuterten Lichtorten Wohnung nehmen. Sie reizen die Archonten der unteren Welt zur Hervorbringung von Pflanzen, Tieren und Dämonen, die letzteren angeführt von einem Herrscherpaar, das sich vereinigt und so Adam und Eva erzeugt. Die von diesen beiden abstammenden Menschen nun mißhandeln und quälen durch ihren Handel und Wandel auf Erden die hier gefangenen Lichtteile aus der ursprünglichen Lichtkleidung des Ersten Menschen, der Lebendigen Seele. Und doch, einzig durch das Menschengeschlecht ist es dem Dritten Gesandten möglich, die im gesamten Kosmos eingefangenen Lichtteile – mittels Erkenntnis (Gnosis) und strenger Askese – wieder auszuläutern. Die durch die Bemühungen der Asketen befreiten Lichtteile werden nun von Jesus dem Glanz und dem Dritten Gesandten in der Säule der Herrlichkeit, über die Stationen von Mond und Sonne, zum Paradies emporgeleitet. – Wenn einmal sämtliche Lichtteile aus der Welt ausgeläutert sein werden, wird es zu einem über tausendjährigen Weltbrand kommen, der gegenüber dem in all seiner Herrlichkeit wieder hergestellten Lichtreich des Vaters der Größe die Finsternis in einem zusammengeballten, zusammengeschmolzenen Klumpen, dem globus horribilis, zurücklassen wird, in welchem auch besonders sündige Seelen für immer verbleiben müssen und von dem nie wieder ein Angriff gegen das Licht wird ausgehen können.

Der unverkennbare iranische Einschlag, der sich bei Mani mit den christlichen und buddhistischen Elementen seiner Lehre verbindet, findet seinen Ausdruck auch in den Namen der wichtigsten Gestalten des Mythos, wie mittelpersische Texte sie wiedergeben. Da heißt der Vater der Größe „Zurwân“, das Böse, das ihm entgegensteht, „Âz“ (die Gier), der Erste Mensch trägt den Namen „Ohrmizd“, die Konkretisierung des Finsteren, mit der er den Kampf aufnimmt, „Ahrmên“. Gegenüber dem urpersischen Impuls jedoch, der sich Steiner zufolge der Bearbeitung und Kultivierung des dunklen Erdreichs widmete, setzt Mani mit seiner Betonung der Askese eine andere Gewichtung. So spricht Mani: „Denn die Welt liebt die Finsternis, sie haßt aber das Licht. Denn ihre Werke sind böse“ und weiter: „Ich habe das Licht von der Finsternis getrennt und habe das Leben vom Tode geschieden, das Gute vom Bösen, den Gerechten vom Sünder.“[4]  Die Hierarchie der manichäischen Kirche von einfachen Katechumenen (Hörern) und weiß gekleideten Electi (Erwählten) mit ihren Gliederungen nach Presbytern, Bischöfen und dem Zwölferkreis der Lehrer ist vor allem eine Hierarchie dem Grade nach, in welchem der einzelne Manichäer aktiv an dem asketischen Prozeß der Ausläuterung der Lichtteile partizipierte. Die Electi durften gegen den in der Materie leidenden Jesus, Jesus patabilis, als den sie, symbolisiert im Lichtkreuz, die gefangenen Lichtteile ansahen, in keiner Weise mehr sündigen.[5] Das bedeutete, sie durften beispielsweise nicht die Erde mit dem Pflug verletzen, kein Getreide ernten und kein Brot backen, weil der Mensch durch solcherlei Arbeit dem in der Materie ohnehin leidenden Licht des Jesus patabilis nur noch weitere Qualen zufügt. Sie pflegten die Übung des „Ruhens der Hände“. So ließen die Electi sich die Speisen von den Katechumenen zubereiten. Und indem die Reinen im kultischen Mahl mit der Speise die Lichtteile in sich aufnahmen, vermochten sie diese zu befreien. Den Katechumenen aber, da sie durch ihre Arbeit nicht anders konnten als zu sündigen, blieb nur, auf eine spätere Inkarnation als einer der Erwählten zu hoffen. Der hl. Augustinus, der in jungen Jahren selbst der Gruppe der manichäischen Katechumenen angehört hatte und den Manichäismus später hart bekämpfte, empörte sich über die hierin sich ihm zeigende asketische Arroganz. So läßt er die Electi sprechen: „Ja, wir, die wir vom Glauben Manis erleuchtet sind, wir reinigen durch unsere Gebete und Gesänge als Electi das Leben (=Licht), das hier im Brote ist, und schicken es zu den Schätzen des Himmels.“ Und sein Urteil: „Die Electi sind also derart, daß sie nicht von Gott zu Erlösende, sondern Erlöser Gottes sind. Auch Christus selbst, sagen sie, ist gekreuzigt im ganzen Kosmos.“[6] Christus wird hier als Jesus patabilis, das leidende Licht, verstanden. – Aus manichäischer Sicht ist dabei allerdings zu ergänzen, daß Christus bisweilen auch als der Licht-Nous gesehen wird, als diejenige Dynamik im Kampf mit der Hyle, dank derer der Dritte Gesandte und Jesus der Glanz in der Säule der Herrlichkeit die Lichtteile zum Paradies emporzuleiten vermögen. Dennoch, auch aus den manichäischen Überlieferungen über Leiden, Tod und Auferstehung des – mit einem Scheinleib versehenen – Jesus Christus[7] wird nicht ohne weiteres ersichtlich, welche Bedeutung dem Kreuzestod Christi im manichäischen Heilsgeschehen zukommt. Für den einzelnen Manichäer ist der Licht-Nous nämlich vor allem wiederum durch Mani selbst wirksam, der als der Paraklet und in der östlichen Mission auch als Buddha Maitreya angesehen und verehrt wird.

Der Konflikt des Manichäismus mit dem geschichtlichen Christentum liegt zu einem guten Teil gewiß in der ambivalenten Stellung begründet, die sowohl der Gott des Alten Testaments, als auch der Christus des Neuen Testaments im manichäischen System einnehmen. Wie uns in den neu-manichäischen Bewegungen der Bogumilen und Katharer die Ablehnung Jahve Sabaoths, des Gottes Mose, als einer finsteren, satanischen Macht begegnet, so entspricht es auch Darstellungen des ursprünglichen Manichäismus in der christlichen Apologetik: „Und weiter sagt er (Mani), der bei euch (den Juden und Christen) geehrte Name Sabaoth sei die Natur des Menschen und der Vater der Begierde; und deshalb beten Einfältige die Begierde an, weil sie sie für Gott halten.“[8] Und der hl. Augustinus folgt dieser Spur mit Blick auf einen besonderen Aspekt des manichäischen Christus-Verständnisses: „Sie behaupten aber, es sei Christus gewesen, von dem unsere Schrift die Bezeichnung Schlange gebraucht. Von ihm, sagen sie, seien sie erleuchtet, um die Augen der Erkenntnis öffnen und Gut und Böse unterscheiden zu können, wie auch in neuerer Zeit Christus zur Befreiung der Seelen und nicht der Körper gekommen sei.“[9]  Hier treffen wir auf ein Verständnis des Sündenfalls, ähnlich dem, wie Rudolf Steiner ihn mit Luzifer im Zentrum charakterisiert.[10] Könnte man in diesem Sinne also – aus der Sicht des hl. Augustinus – von einer„luziferischen“ Sicht der Manichäer auf Christus sprechen?

 

Rudolf Steiner über den Manichäismus

 

Wenden wir uns der Darstellung des Manichäismus bei Steiner zu, so ist zuerst festzuhalten, daß der Begründer der anthroposophischen Geisteswissenschaft davon ausgeht, daß der hl. Augustinus, dem es ja nicht vergönnt ist, vom Rang eines Hörers der Manichäer in den eines Erwählten aufzusteigen, Wesentliches an der Lehre des Mani nicht genügend tief versteht, da diese Lehre nicht abstrakte, sondern wirklichkeitgemäße Begriffe bietet, die Augustinus, da er zu wenig geistig ist, wohl nicht zu fassen weiß. Allerdings muß Steiner im Kreise der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft 1917 über die manichäische Lehre ebenfalls betonen, daß „… deren letztes Wort auszusprechen, heute leider noch nicht möglich ist, auch in unserem Kreise noch nicht möglich ist heute.“ Und: „… über die letzten Ziele des Manichäismus zu sprechen, geht ja heute noch nicht an.“[11] Auch hier liegt ein Hinweis auf das ganz Zukünftige des Manichäischen, wie Steiner es versteht. – Das berühmte Streitgespräch des hl. Augustinus mit dem Manichäer Faustus offenbart nun in der Frage nach dem Umgang mit dem Bösen eine Dualität, die Steiner zufolge bis in die Neuzeit hinein fortlebt. So verjagt Martin Luther, in welchem das Augustinische sich fortsetzt, das sich ihm zeigende Böse, den Teufel, der ihm erscheint, mit dem Tintenfaß, während Dr. Johannes Faust, dessen Geschichte Goethe aufgriff, ein Bündnis mit dem Bösen eingeht. Steiner deutet, in einem frühen Vortrag, Mani und der Manichäismus, zunächst den oben nachgezeichneten manichäischen Mythos dahin, daß in dem Abstieg des Urmenschen das Motiv verborgen liegt, daß „… von seiten des Lichtreiches das Reich der Finsternis überwunden werden soll nicht durch Strafe, sondern durch Milde; nicht durch Widerstreben dem Bösen, sondern durch Vermischung mit dem Bösen, um das Böse als solches zu erlösen. Dadurch, daß ein Teil des Lichtes hineingeht in das Böse, wird das Böse selbst überwunden.“[12] Und dann wendet er dieses Verständnis unmittelbar auf Faust und dessen Pakt mit Mephistopheles an: „Und … (wir haben) … das Bündnis des Faust mit dem Bösen. Es wird von dem Lichtreich der Funke nach dem Reich der Finsternis gesandt, um eindringend in die Finsternis, die Finsternis durch sich selbst zu erlösen, durch Milde das Böse zu überwinden.“[13]

Ohne die Frage nach der Schuld des Faust bei Goethe zu stellen, der immerhin den Tod des Kindes und Gretchens, sowie den des trauten Paares Philemon und Baucis zu verantworten hat, eröffnet Steiner hier aus seinem Verständnis des Zusammenwirkens von Gut und Böse den Blick auf den Manichäismus in seiner Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Gut und Böse wirken zusammen wie Leben und Form. Indem das notwendig in eine jeweilige Form gefaßte Leben diese Form einmal wieder überwindet, auflöst, zerstört und aus ihr eine zuvor im Stillen schon vorbereitete neue Form gebiert, wird das kontinuierliche Weiterfließen des – guten – Lebens durch die Reihe der Formen, von Form zu Form gewährleistet. Will aber die Form sich in der Erstarrung erhalten und alles Leben fest umklammern, so wird sie zum lebensfeindlichen – bösen – Prinzip, zum Prinzip des Todes. In demselben Sinne bereitet die manichäische Strömung des Lebens, die nicht absterben wird, obwohl sie von dem augustinischen Prinzip der Form (als der römischen Kirche) dauernd bekämpft wird, seit der Begründung des Christentums die Form oder den Bau einer fernen Zukunft (der sechsten Wurzelrasse) vor, in der „… das Christentum erst in seiner vollen Gestalt zum Ausdruck kommen“ wird.[14] Im Vergleich mit dem für unsere fünfte Kulturepoche gültigen Rosenkreuzertum heißt es dann bei Rudolf Steiner von daher: „Eine über das Rosenkreuzertum hinausgreifende Strömung des Geistes will Mani schaffen, eine Strömung, die weitergeht als die Strömung der Rosenkreuzer.“[15] Einige Jahre später nennt Rudolf Steiner den Manichäismus auch „… die tiefste aller okkulten Weltenströmungen“, und sagt er über dessen Begründer: Mani „… ist jene hohe Individualität, die immer und immer wieder auf der Erde verkörpert ist, die der leitende Geist ist derer, die zur Bekehrung des Bösen da sind.“[16] Die Liebe- und Mildekraft, die diese manichäische Strömung immer stärker – bis zu einer Genialität an Liebe und Güte – ausbilden soll, wird in Zukunft immer notwendiger werden, da andererseits das Böse bis in die Zeit der sechsten Wurzelrasse hinein zu einer solchen geistigen Form werden wird, die unverhüllt und mit dämonischer Kraft auftreten wird. Das Verwandeln  und Erlösen des Bösen jedoch wird dann an eine Grenze stoßen. Steiner sagt: „Die sechste Wurzelrasse wird die Aufgabe haben, das Böse durch die Milde so weit als möglich wieder einzubeziehen in den fortlaufenden Strom der Entwickelung.“[17] – So weit als möglich. Es gibt aber auch das rein Böse: „Dieses rein Böse muß herausgeworfen werden aus dem Strom der Weltentwickelung wie eine Schlacke. Es wird herausgestoßen werden in die achte Sphäre.“[18] An dieser Stelle nun nähert sich die Sicht Steiners wieder der ursprünglichen manichäischen Darstellung an, derzufolge die Finsternis, wie wir oben sahen, am Ende des Weltprozesses abgeschieden vom Lichtreich in den globus horribilis eingefangen sein wird, und die bösesten Seelen mit ihr. So ist das Böse also doch nicht nur eine relative Größe, sondern es offenbart auch eine absolute Dimension.

 

Manichäische Geistesströmung und kultesoterische Tempellegende

 

Die übergreifende Strömung des Mani umfaßt nach Steiner eine Reihe geschichtlich aufgetretener Gemeinschaften, so die Tempelritter, Rosenkreuzer, Albigenser und Katharer. Der Konflikt aber, in welchem sie als die Lebensströmung mit dem Formprinzip steht, reicht weit in die Neuzeit herein, und zwar insbesondere in der Gestalt des Konfliktes zwischen Freimaurerei (für die manichäische Lebensströmung) und Jesuitismus (für das augustinische Formprinzip). – Spricht Steiner hier von Freimaurerei, so ist zu bedenken, daß er die zu seiner Zeit bestehenden Systeme als mehr oder weniger leere Hülsen ansieht, deren Inhalt durch die moderne Geisteswissenschaft neu zu geben sei. Auch der oben referierte Vortrag über Manichäismus steht im Zeichen einer solchen Erneuerung des Inhaltes von Freimaurerei, wie sie dann in die Begründung der erkenntniskultischen Arbeit Steiners, in der in mehreren Graden arbeitenden maurerischen Loge „Mystica aeterna“ oder später „Misraim-Dienst“, einmündet. Für diesen Erkenntniskultus aber, der bis 1914 bearbeitet wird, wie auch für die Symbolik des freimaurerischen Meistergrades im allgemeinen, ist die Legende vom Bau des Salomonischen Tempels von zentraler Bedeutung. – Indem wir hier nun Steiner folgen, und in den Fragenkreis dieser Tempellegende eintreten, geschieht dies in dem Bewußtsein, daß wir uns damit von der manichäischen Haltung des „Ruhens der Hände“, die in der Arbeit an der Erde nichts Wertvolles sehen kann, scheinbar sehr entfernen. Denn wie in der überlieferten Freimaurerei, so geht es auch in der durch Rudolf Steiner erneuerten freimaurerischen Symbolik, die ja gleichwohl Ausdruck der manichäischen Strömung des Geistes ist, um gestalterische Arbeit in der uns umgebenden Welt, gleichsam um den Bau am Menschheitstempel. – Wir hoffen dennoch, im weiteren Verlauf dieser Betrachtung einen Beitrag zu geben, mit Hilfe dessen das zunächst nur schwer Vereinbare aufeinander hin verständlicher werden kann. Doch zunächst ein kurzer Blick auf einige der Grundzüge der Tempellegende, wie Rudolf Steiner sie gibt.

Salomo, überaus reich an weltlichen und vor allem geistigen Gütern – seine Weisheit wird zu seinen Lebzeiten schon über die Grenzen aller Länder hin gerühmt –, ist aus eigenen Kräften heraus nicht fähig, den Bau des Jerusalemer Tempels zu errichten. Aus diesem Grund verbindet er sich, wegen dessen bedeutenden Fertigkeiten im Umgang mit den irdischen Gesetzmäßigkeiten, mit dem phönizischen Baumeister Hiram Abiff aus Tyrus. Salomo und Hiram aber sind Vertreter zweier grundverschiedener Geschlechter. Während Salomo von den Nachkommen Seths abstammt, des Sohnes Adams und Evas, der an die Stelle Abels tritt, gehört Hiram Abiff dem Geschlecht der Kainssöhne an. Und vor allem diese Herkunftsfragen sind im Rahmen unserer Betrachtung von Interesse, denn die Dualität von Kainiten und Abeliten bestimmt die ganze Dynamik und Dramatik der Tempellegende. Mit Blick auf all das, was es mit dem Tempelbau selbst und den damit sich anbahnenden Komplikationen auf sich hat, sei dem Leser die Quellenlektüre (s.u.) empfohlen. – Abweichend vom biblischen Bericht (Gen 4,1.2) sind nun, der Tempellegende zufolge, auch Abel und Seth nicht von derselben Herkunft wie Kain. Dieser hat, als der Ältere, Eva zwar zur Mutter, Adam aber nicht zum Vater, sondern „einen der Lichtgeister oder Elohim“. Abel und Seth hingegen sind Söhne aus der Verbindung von Adam und Eva. In einem Text von der Hand Rudolf Steiners, bestimmt für den ersten Grad der erkenntniskultischen Loge „Mystica aeterna“ heißt es in diesem Sinne: „Im Beginne der Erdenentwickelung stieg einer der Lichtgeister oder Elohim aus dem Sonnenbereich in den Erdenbereich und verband sich mit Eva, der Urmutter des Lebendigen. Aus dieser Verbindung entstand Kain, der erste der Erdenmenschen. Darauf bildete ein anderer aus der Reihe der Elohim, Jahve oder Jehova, den Adam; und aus der Verbindung des Adam mit Eva entstand Abel, des Kain Stiefbruder.“[19] Kain gilt in diesem Kontext als Urtypus des wesensmäßig dem Feuer verwandten, selbststrebenden Menschen, Abel hingegen und – nach dessen Tötung durch Kain – Seth verkörpern den Urtypus des vom Wesen her dem Wasser verwandten, auf Offenbarung vertrauenden Menschen. Hiram Abiff repräsentiert den ersten Typus, Salomo, der in der Tempellegende in einem sehr zweifelhaften Licht erscheint, den zweiten.

Soviel zu der Ausgangssituation der Tempellegende. Was sie nun in ihrer vielschichtigen, hier nicht eigens zu behandelnden Symbolik für die Zukunft der Menschheit zum Ausdruck bringen soll, knüpft unmittelbar an die gekennzeichneten Anfänge an. Denn die letzten Worte in der bereits angeführten Fassung der Legende lauten: „Es muß … eine solche Entwickelung der menschlichen Erdenkräfte stattfinden, daß in der Seele der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt wird, der in Kain vor dem Brudermorde vorhanden war. Es können sich nicht die traumhaften Seelenkräfte der Kinder Abel-Seths gegen die Erdenkräfte halten, sondern nur die zur vollen realen Ich-Entwickelung kommenden Nachkommen Kains.“[20] – Spielt die Dualität von Kainiten und Abeliten auch heute noch eine Rolle, so müßte gefragt werden, ob nicht aus der Perspektive der Tempellegende die Nachkommen Adams, und damit des Eloha Jahve, im Vergleich mit den Kainiten als Menschen von geringerem Wert erscheinen. Wie es auch sei – Kain war der Sohn des Lichtgeistes und Evas, der Urmutter des Lebendigen. Was aber hat es mit der Verbindung Evas mit dem Lichtgeist auf sich? Eva erscheint nicht – wie Adam – als Geschöpf Jahves, vielmehr versetzt die Benennung „Urmutter des Lebendigen“ sie in eine Sphäre der Nähe zur vorweltlichen Mutter der Lebendigen, die im manichäischen Mythos unmittelbar aus dem Vater der Größe hervorgeht.[21] Demnach nimmt sie in der Ordnung der Wesen einen höheren Rang als Adam ein, der nur ein Geschöpf Jahves ist. Wie Eva, so weist auch der Lichtgeist, der den Kain zeugt, bei näherem Hinsehen einen klaren Bezug zu der manichäischen Geistesströmung auf, die, wie wir bei Rudolf Steiner sahen, das Verhältnis von Gut und Böse nach dem Muster des Zusammenwirkens von Leben und Form zu gestalten weiß.

Steiner charakterisiert in dieser Frage die Beziehung zwischen Jahve (Jehova) und dem Lichtgeist, der sich mit Eva verbindet (hier der „andere Elohim“) mit den folgenden, zum Teil geheimnisvollen Worten: „Jehova nennt man auch den Gott der Form, den Gott, der das Lebendige zur lebendigen Macht geschaffen hat im Gegensatz zu dem anderen Elohim, der schafft, um aus dem Leblosen das Lebendige hervorzuzaubern. Wem gehört die Zukunft? – das ist die große Frage der Tempellegende. Würden sich die Menschen nach der Jehova-Religion entwickeln, so würde alles Leben in der Form ersterben. Man nennt das in der okkulten Wissenschaft den Übergang in die achte Sphäre.“ Dieser begegneten wir ebenfalls bereits bei der Besprechung der manichäischen Geistesströmung; weiter heißt es: „Jetzt aber ist der Zeitpunkt gekommen, daß der Mensch selbst das Tote zum Leben erwecken muß. Das geschieht durch die Kainssöhne, durch diejenigen, welche … selbst in Formen schaffen. Die Kainssöhne formen selbst am Bau der Welt.“[22] Offenbar stimmt der hier ausgedrückte Antagonismus zwischen dem „anderen Elohim“ und Jehova mit demjenigen zwischen manichäischer Lebensströmung und augustinischem Formprinzip inhaltlich mehr oder weniger überein. – Wer aber ist der rätselhafte Lichtgeist? In der Zeit der Vorbereitung auf die kultesoterische Arbeit stellt Steiner an anderem Ort in ganz ähnlicher Weise Jehova und Luzifer einander gegenüber: „Wenn das Jehova-Prinzip allein gelehrt würde, so würde der Mensch der Erde verfallen.“ Und ein wenig weiter: „Das Prinzip, welches die Erde zur Geistigkeit heraufführt, ist Luzifer.“[23]  Ergänzt wird allerdings, Luzifer als „Mondadept“ könne dies nicht allein vollbringen, den notwendigen zweiten Anstoß gebe Christus als „Sonnenadept“. Somit liegt nahe, daß der Lichtgeist, der den Kain zeugt, Luzifer ist. Es sei hier erinnert an das Wort von den Kainssöhnen, die allein „zur vollen realen Ich-Entwickelung kommen“, um sich auf der Erde halten zu können. Damit wird der Bezug auch der folgenden Worte ersichtlich, die zu dem in den ersten Grad der Loge „Mystica aeterna“ Aufzunehmenden gesprochen werden, nachdem er sich in der „Kammer des Nachdenkens“ der Leere und Nichtigkeit seines Ich bewußt geworden ist. Der diese Worte spricht, ist Luzifer: „Du bist in dir – Du bist in deinem Seelenreich dein Herr – Du kannst dir selbst alles sein – Lerne dich erkennen – Erfühle dich – Eine Welt ist dein. – Eine Welt ganz Geist. – Eine Welt voll Wert.“[24] Dann erfolgt von Seiten „J’as“ ein Schlag. Und aus dem dazugehörigen Wortlaut für die „Kammer des Nachdenkens“ geht hervor, mit welcher Aufgabe des Initianden diese Worte Luzifers zusammenhängen: „Ein festgeschlossenes Ich mußt du sein.“ Nun wird Zeit zum Nachdenken gelassen. Und dann heißt es: „Nach einem kräftigen Hammerschlag wirst du, wenn du bei deinem Vorsatz aufgenommen zu werden beharrst, mit einem deutlichen Ja antworten.“[25] Hier zeigt sich also mit Blick auf die Kainssöhne, welche Bedeutung eben Luzifer für ihre volle reale Ich-Entwicklung hat. Klingt dabei aus den Verhältnissen der Tempellegende etwas von dem an, was der hl. Augustinus vor Augen hatte, als er den Manichäern vorwarf, sie würden in der Schlange im Paradies den Christus erblicken?

 

Mani und Parzival

 

Hier bleiben offene Fragen, denen gegenüber man sich allerdings bewußt sein sollte, daß sowohl in der Tempellegende, als auch im Manichäismus mit seinen iranischen und buddhistischen Einflüssen eine vorchristliche Geistigkeit bestimmend ist, die erst durch die Jahrhunderte hin ihre nachhaltige „Christianisierung“ erfährt. Um das Verständnis solchen, wenn auch zumeist im Verborgenen spielenden, für die vorchristlichen Mysterienströmungen insgesamt aber gültigen Geschehens war Rudolf Steiner in den Jahrzehnten der Darlegung der anthroposophischen Geisteswissenschaft fortwährend bemüht.[26] Wie darin beispielsweise Hiram Abiff ein besonderes Verhältnis zu dem von Christus auferweckten Lazarus verkörpert, so bestehen ebenfalls Zusammenhänge um die Individualität des Mani. Steiner spricht im Rahmen der Esoterischen Schule darüber, wie verschiedene Vertreter vorchristlicher Kulturen in Auferweckungserlebnissen, die Christus ihnen zuteil werden läßt, für die Zukunft den christlichen Impuls zu einer Metamorphose dessen empfangen, was sie aus der Vergangenheit her repräsentieren. Der von Christus auferweckte Jüngling zu Nain (Lk 7,11-17) ist in diesem Sinne als Vertreter der altägyptischen Kultur zu verstehen, der sich später als der Religionsstifter Mani wieder inkarniert, um den aufgenommenen christlichen Impuls weiter zu tragen. Was er so nur erst beginnen kann, setzt sich Rudolf Steiners esoterischen Mitteilungen zufolge in einer nächsten Inkarnation fort, und zwar in der Wiederverkörperung als Parzival.[27] Und auf eine noch weitere Zukunft zielt der Vorgang. Steiner führt aus, daß das, „… was im Manichäismus enthalten war und was durchaus nicht zur vollen Entwickelung gekommen ist, aufgehen wird zum Heile der Völker des alten Orients, – vorbereitend hat diese Seele in ihrer Inkarnation als Mani gewirkt für ihre eigentliche spätere Mission: den wahren Zusammenklang aller Religionen zu bringen.“[28] Indem diese Seele als Parzival sich nun unter der Anleitung von Trevrizent und Titurel einer tiefgreifenden christlichen Einweihung unterzieht, erfährt die Essenz des Manichäismus selbst eine ebenso tiefe Umschmelzung. Es kommt zu einer christlichen Überwindung des streng asketischen, weltverneinenden Dualismus, der sich, wie wir oben fanden, so wenig verträgt mit der eine Zukunft bauenden Mission der manichäischen Geistesströmung. Diese Umschmelzung, die sich zuerst in Parzival selbst vollziehen muß, wird von Rudolf Steiner den Teilnehmern der Esoterischen Schule in einem Meditationsbild nahegebracht, das sich an die mittelalterliche Sage von Flore und Blanscheflur anlehnt. Zuerst befindet Parzival sich in einem inneren Zustand, in welchem deutlich der manichäische Dualismus nachklingt, als solcher wird er als ein „Katharer“, ein Reiner, ein Frommer bezeichnet.[29] Titurel führt ihm das Bild einer wunderschönen weißen Lilie vor das geistige Auge, in deren Betrachtung er versinkt, bis er hinter sich die Stimme Blanscheflurs vernimmt, die ihm sagt: „Das bist du!“ – Die Lilie strömt jedoch einen unguten Duft aus, in dem Parzival all das erkennt, was er durch Askese und Katharsis aus sich herausgesetzt hat und was ihn jetzt umschwebt. Er lernt, das alles wieder in sich hineinzunehmen, um es umzuwandeln in den reinen heiligen Duft der Rose. So sieht er: Statt der Lilie „… erschien das schwarze Kreuz, aus dem die Rosen sproßten. Und wieder hörte er hinter sich eine Stimme, die Stimme von Flore, dessen Symbol die rote, in sich gekräftigte Rose war: ‚Das werde du!‘“[30] Parzival gelangt nun durch die Meditation dieses Bildgeschehens tief hinein in den inneren Raum des christlichen, trinitarischen Mysteriums. In diesem intimen, esoterischen Geschehen ist im Sinne Steiners sicherlich einer der entscheidenden Umschlagspunkte zu sehen, von dem aus die manichäische Strömung jene in der Welt wirken wollenden, Zukunft erbauenden und das Böse aufnehmenden Bewegungen in sich zu integrieren vermochte, von denen oben die Rede war.

 

Luzifers Krone

 

Der phönizische Baumeister und Erzschmied Hiram Abiff stammt aus Tyrus, aus dem Reich des Königs Hiram von Tyrus, der Salomo, den König von Juda im Vorhaben des Tempelbaus großzügig unterstützt. Das Alte Testament weiß aber auch von dem Wort Jahves, das an einen König von Tyrus ergeht: „Du warst ein Muster der Vollendung, voll der Weisheit und vollendet schön. In Eden, dem Gottesgarten warst du, Edelsteine aller Art bedeckten dich, Karneol, Topas, Jaspis, Chrysolith, Onyx, Beryll, Saphir, Karfunkel, Smaragd.“ Und: „Infolge deines ausgedehnten Handels fülltest du dein Inneres mit Bosheit, und du tatest Sünde. Da vertrieb ich dich vom Gottesberg, und der schützende Cherub trieb dich ins Verderben, heraus aus der Mitte der feurigen Steine. Hochmütig war dein Sinnen geworden ob deiner Schönheit; aber du richtetest deine Weisheit zugrunde um deiner Schönheit willen.“ (Ez 28,12.13.16). Die christliche Überlieferung bezieht dies seit Jahrhunderten auf Luzifer und spricht auch davon, daß aus der Krone Luzifers bei seinem Sturz ein Smaragd entfiel, aus welchem der Gral gefertigt wurde, der lapsit exillis Wolfram von Eschenbachs (lapis ex caelis = „Stein aus den Himmeln“?). Er soll sich in christlichen Zeiten in einem Herakles-Tempel in Tyrus befunden haben.[31] Auf die Frage „Was ist der Gral?“ sagt Rudolf Steiner: „Jener Edelstein ist in gewisser Beziehung nichts anderes als die volle Kraft des menschlichen Ich.“ Und: „Dieses Ich mußte sich hinauferziehen zu dem Christus-Prinzip, heranreifen zu dem Edelstein, der nun nicht mehr dem Luzifer gehört, der seiner Krone entfallen ist.“ Luzifer repräsentiert das Licht der vorchristlichen Mysterienweisheit, die der Mensch heute selbständig zu ergreifen fähig ist. Dieses Licht des Sternes Luzifers darf sich verbinden mit dem Kreuz Christi. „Daher müssen wir uns klar darüber sein, daß wir nicht nur die Aufgabe haben, den Stern zu begreifen wie er geleuchtet hat durch das Menschenwerden, bis dem Luzifer aus der Krone entfallen ist der Edelstein, sondern wir müssen begreifen, daß wir das aufnehmen müssen, was aus diesem Edelstein geworden ist, den heiligen Gral, daß wir verstehen müssen das Kreuz im Stern; daß wir verstehen müssen das, was als lichtvolle Weisheit geleuchtet hat in Urweltzeiten, was wir im tiefsten verehren als Weisheit der vorchristlichen Zeiten, zu denen wir wahrhaftig voller Hingebung aufblicken, und daß wir dem hinzufügen müssen das, was die Welt hat werden können durch die Mission des Kreuzes.“[32]

So zeigt sich, daß im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners eine einfache Identifikation mit dem überlieferten Manichäismus nicht möglich ist. Aus der vorliegenden Betrachtung, die nur einen Ausschnitt bieten kann, ergibt sich vielmehr, daß ein sehr weites und spirituell vielschichtiges Feld erkundet werden muß, bevor sich auch nur annähernd der Zusammenhang zwischen beiden verstehen läßt. Wie auch immer – was an dem ursprünglichen Manichäismus fehlt, der zu einem Wort wie „Liebt das Böse – gut!“ noch nicht fähig ist, es hat sich mit ihm vielleicht im Gralsgeschehen gerade durch die Vereinigung von Luzifers Stern mit jener Mission des Kreuzes verbunden.

 

ã Klaus J. Bracker – 1998

Zur Zeit der Abfassung des Aufsatzes war in Deutschland die alte Rechtschreibung gültig. Seitdem wurde der Text nicht an die Neue Deutsche Rechtschreibung angepasst.


[1]   Aus: Chr. Morgenstern, Gesammelte Werke, („Brüder!“)  München 1977

[2]   Vgl. Bernard Lievegoed, Über die Rettung der Seele (mit einem Vorwort von Jelle van der Meulen), Stuttgart 1993. – Die Vorstellung Lievegoeds, die er in dieser Schrift geltend macht, Mani sei dieselbe Individualität wie die des großen Manu (Melchisedek), teilen wir nicht.

[3]   Vgl. Alexander Böhlig in: Die Gnosis – Der Manichäismus, Zürich 1995

[4]    Aus: Über den Herrn Manichaios, wie er gewandelt ist, enth. in: Kephalaia, ed. A. Böhlig, 183,10-188.29, nach A. Böhlig, op.cit.; s. Anm.3

[5]    Zu dem Jesus patabilis und dem ihn repräsentierenden Lichtkreuz vgl. besonders Hans-Joachim Klimkeit, Das Kreuzessymbol in der zentralasiatischen Religionsbegegnung, enth. in: G. Stephenson (Hg.), Leben und Tod in den Religionen – Symbol und Wirklichkeit, Darmstadt 1980; sowie H.-J. Klimkeit, Vairocana und das Lichtkreuz – Manichäische Elemente in der Kunst von Alchi (West-Tibet), enth. in: Zentralasiatische Studien 13, 1979

[6]    Aus: Augustinus, Enarratio in psalmum 140, nach A. Böhlig, op.cit.

[7]    Vgl. Vom Kommen des Apostels, enth. in: Kephalaia, ed. Polotsky, 9,11-16.31, nach A. Böhlig, op.cit.

[8]    Aus: Acta Archelai, c. VII-XIII, ed. Ch.H. Beeson, nach A. Böhlig, op.cit.

[9]    Aus. Augustinus, de haeresibus, c. 46, nach A. Böhlig, op.cit.

[10]   Vgl. z.B. R. Steiner, Grundelemente der Esoterik (25.10.1905), Dornach 1976

[11]    Aus: R. Steiner, Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha (19.04.1917), Dornach 1996

[12]    Aus: R. Steiner, Die Tempellegende und die Goldene Legende (11.11.1904), Dornach 1979. Hier findet sich der Ansatz bei Steiner, von dem her Christian Morgensterns Wort „Liebt das Böse – gut!“ immer wieder manichäisch verstanden wird.

[13]    Ebenda.

[14]    Ebenda.

[15]    Ebenda.

[16]    Aus: R. Steiner, Die Apokalypse des Johannes (25.06.1908), Dornach 1985

[17]    Ebenda.

[18]    Ebenda.

[19]    Aus: R. Steiner, Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule 1904-1914 (Die Tempellegende, S. 365 ff.), Dornach 1987. Hierbei handelt es sich um eine Wiedergabe der ganzen Tempellegende nach einer Originalhandschrift Rudolf Steiners.

[20]    Ebenda.

[21]    Das heißt, manichäischer Mythos und Tempellegende berühren sich hier.

[22]    R. Steiner, op.cit.(15.05.1905), Dornach 1979; s. Anm.12

[23]    R. Steiner, op.cit., Dornach 1976; s. Anm.10

[24]    R. Steiner, op.cit.(S.206/07), Dornach 1987; s. Anm.18

[25]    Ebenda. – In der Tempellegende nach Martin Erler ist zu lesen (es geht um Kain): „Aber nicht Adam war sein Vater, dieser war vielmehr der Lichtengel Iblis-Luzifer, den die Schönheit Evas entflammt hatte, und sie hatte sich ihm nicht zu entziehen vermocht. Die Seele Kains war somit ein Funke der Seele Luzifers und aus diesem Grunde unendlich höher als die Seele Abels.“ (Zitat aus: Karl R.H. Frick, Die Erleuchteten II/1, Graz 1975) Und der ehemalige Schüler und spätere Plagiator Steiners Max Heindel schreibt über die Freimaurerlegende: „Sie stellt fest, daß EVA von Jehova erschaffen wurde, daß sich der Luzifergeist SAMAEL mit ihr vereinte, dann aber von Jehova verdrängt und gezwungen wurde, sie vor der Geburt ihres Sohnes Kain zu verlassen.“ Aus: M. Heindel, Freimaurerei und Katholizismus, Darmstadt 1965.

[26]    Vgl. dazu insbesondere: R. Steiner, Der Orient im Lichte des Okzidents – Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (Zyklus von 9 Vorträgen, August 1909), Dornach 1982

[27]    Vgl. R. Steiner, Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904-1914 (S.227ff.), Dornach 1984

[28]    Ebenda. Schreibweise angepaßt: Manes = Mani.

[29]    „Parzival“ bezeichnet hier allerdings zugleich einen bestimmten Schulungsgrad, den jeder Schüler Titurels zu meistern hatte.

[30]    Aus: R. Steiner, Aus den Inhalten der esoterischen Stunden – I (1904-1909) (S.502ff.), Dornach 1995

[31]    Vgl. Walter J. Stein, Weltgeschichte im Lichte des Heiligen Gral – das neunte Jahrhundert, Stuttgart 1977. Stein spricht da von dem, was „… als ein wunderbarer Edelstein in Luzifers Krone geleuchtet habe. Michael schlug diesen Stein aus Luzifers Krone, da kam er zu den Menschen, formte sich zum Gefäß, wurde das Gefäß, das aufzunehmen bestimmt war das Blut Christi. Es wurde die heilige Schale, welche die Sonnenhostie in sich faßt.“ (S.103) Die Überlieferung bezieht sich auf Wilhelm Embriacus, der eine „… smaragdene Schale, die man als Gral verehrte“, erwarb, wie Sopranis im Jahre 1101 schreibt, indem er sich hinsichtlich des Smaragds auf Herodot beruft (2. Buch, Kap.44).

[32]    Aus. R. Steiner, op.cit. (23.08.1909), Dornach 1982; s. Anm.26.

Michael Frensch

In den synoptischen Evangelien gibt es eine Stelle, die sich gut als Motto für die folgenden Ausführungen eignet, auch wenn sie im Kontext unserea Themas zunächst etwas befremdlich klingen mag: „Der Menschensohn wird überliefert in die Hände der Menschen, und sie werden ihn töten. Aber in drei Tage wird er auferstehen“ (Mk. 9,31).

Ich möchte zunächst von einer Alltagserfahrung ausgehen und daraus einige Schlüsse ziehen, die für das Vortragsthema von Bedeutung sind. Daran anschließend soll es um eine Klärung der Begriffe Entsubstantialisierung und Entmythologisierung gehen. Und schließlich soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Entsubstantialisierung und Entmythologisierung Existenzfragen unserer Zeit sind. Dabei wird sich die Bedeutung der zitierten Evangelienstelle herausstellen.

Eine Alltagserfahrung

Jeder von uns hat vermutlich schon einmal die folgende Situation erlebt: Man hat in eine Badewanne Wasser einlaufen lassen und streckt nun die Hand oder den Fuß hinein. Da verzieht sich das Gesicht zur Grimasse, dem Mund entfährt ein Aufschrei und eilig zieht man Hand oder Fuß wieder aus dem Wasser heraus, möglicherweise gefolgt von einem kurzen Tanz auf einem Bein. Nach dem Grund ihr das ungewöhnliche Verhalten gefragt, lautet die Antwort: „Das Wasser ist viel zu heiß.“ Jetzt, nach gemachter Erfahrung, ist man in der Lage, sie in Begriffe zu fassen und das Erlebnis anderen als Erklärung oder Warnung mitzuteilen.

Betrachtet man diesen Vorgang genauer, so besteht er aus vier Elementen: Zunächst wird die Hand oder der Fuß in ein anderes Element getaucht: das Wasser, wodurch es zur Berührung mit dem fremden Element kommt. Darauf erfolgt die Vergegenwärtigung der Berührung im entstehenden Gefühl. Dieses Gefühl veranlasst zu einer bestimmten Handlung, d.h. der Äußerung eines bisher rein innerlichen Erlebens. Und schließlich wird der gesamte Vorgang in den Schluss und die Mitteilung zusammengefasst: Das Wasser war zu heiß. Berührung und Gefühl treten in unserem Innern auf, die Reaktion darauf ist äußerlich erkennbar, die begriffliche Beschreibung der Erfahrung schließlich ist intersubjektiv mitteilbar.

Was hier an einem banalen Alltagserlebnis gezeigt worden ist, gilt im Grunde Ihr jede objektive Erfahrung: Immer berühren wir dabei ein zunächst fremdes Element, bzw. werden wir von ihm berührt ‑ etwas, das über unsere in unsere Haut eingeschlossene Subjektivität hinausgeht. Dann vergegenwärtigen wir uns diese Berührung bzw. werden uns ihrer bewusst. Die gemachte Erfahrung äußern wir in bestimmten Handlqngen, die daraus folgen. Und schließlich können wir die gemachte Erfahrung begrifflich durchdringen und sie so anderen mitteilen. Wir haben damit vier Schritte:

Berührung

Vergegenwärtigung

Äußerung

Mitteilung

 

Erfahrungen bei der Meditation

Da diese vier Schritte grundsätzlich für jede begrifflich erfasste Erfahrung konstitutiv sind, treten sie auch bei einem Phänomen au!, das in den letzten Jahrzehnten in der westlichen Welt zunehmend an Bedeutung gewonnen hat ‑ die Meditation. Meditation besteht zunächst darin, dass der von Stress geplagte und von einem Eindruck zum andern hetzende moderne Mensch in bestimmten Augenblicken zu Ruhe und Konzentration zu kommen versucht. Konzentration und Ruhe sind nicht nur Voraussetzungen dafür, mehr „zu sich selbst“ zu finden, sondern auch etwas Höherem, über die eigene Person Hinausgehendem zu begegnen: einer rein seelisch‑geistigen Welt, die mit unseren gewöhnlichen Sinnen nicht wahrnehmbar ist. Um diese unsichtbare Welt wahrzunehmen, muss sich der zur Ruhe gekommene Meditierende offnen und auf Kundgaben aus dieser neuen Welt lauschen. Man führt hierzu gleichsam innere Tasthewegungen aus, um im unsichtbaren Raum etwas zu berühren oder davon berührt zu werden. Wir können also auch hier vier Stufen unterscheiden:

Abschalten der an die Seele herandringenden Wahrnehmungen

Stille, Konzentration oder „Innerung“

Hören und Lauschen

Tasten

 

Vergleicht man sie mit den zuvor genannten vier Stufen, so sind sie eine Art Umkehrung:

Begriffliche Mitteilung ‑ Abschalten

Äußerung ‑ Innerung

Vergegenwärtigung ‑ Lauschen (Hören)

Berührtwerden ‑ Tasten

Einmal angenommen, der stufenweise „Aufstieg“ in. der Meditation würde in der Tat zu einer authentischen Erfahrung von etwas Übersinnlichem, Transsubjektivem führen. Das  geistige „Tasten“ würde also auf ein Gegenüber stoßen, das uns berührt bzw. von dem wir berührt werden. Damit aber diese Berührung zur Erfahrung wird, müssen wir für sie wach sein. Wie oft will uns etwas berühren, wir sind aber nicht aufmerksam, und die Zuwendung und Berührung geht an uns vorüber! Nur wenn wir eine solche Berührung erwarten, sie „erlauschen“, kann es zu ihrer Vergegenwärtigung kommen. Man weiß dann: „Etwas hat mich berührt; etwas, das nicht ich selbst war, ist mir im Innern begegnet.“ Durch das Erleben einer solchen Berührung wird man in einem gewissen Sinne ein anderer als zuvor, was sich in einer größeren Verantwortung, einer Zunahme an Moralität und Kompetenz bekunden kann. Auch die daraufhin erfolgenden eigenen Handlungen erhalten durch derartige Erlebnisse ein anderes Gewicht. Daher kann man die erwähnten Veränderungen als Hinweise auf die Authentizität einer transsubjektiven Erfahrung ansehen. Diese Feststellung der Echtheit oder Unechtheit von rein meditativen, übersinnlichen Erfahrungen kann als Stufe der Beurteilung und der Mitteilbarkeit bezeichnet werden. Was am Anfang dieses Vortrages an einem alltäglichen Vorgang beobachtet wurde, gilt also auch für die tiefsten spirituellen Vorgänge; auch hier gibt es die erwähnten vier Stufen.

Vier verschiedene geistige Sinne

Es ist interessant, dass diese Stufen in den „Meditationen über die Großen Arcana des Tarot“  erwähnt werden (Anonymus d’Outre Tombe, Die Großen Arcana des Tarot. Meditationen, Basel 1983). Der Verfasser verwendet dafür die folgenden Begriffe:

Berührung ‑  Mystik

Vergegenwärtigung ‑  Gnosis

Äußerung ‑  Magie

Begriffliche Mitteilung ‑ (hermetische) Philosophie

Entsprechend bezeichnet er den spirituellen Tast“sinn“ als „mystischen Sinn“; den spirituellen Gehör‑ oder „Vergegenwärtigungssinn“ als „gnostischen Sinn“; den Sinn für die aufgrund dieser Erfahrungen erfolgenden Äußerungen als „magischen Sinn“; und das Vermögen, aus den gemachten Erfahrungen die richtigen Entschlüsse und Mitteilungen zu ziehen, als „philosophisch‑hermetischen Sinn“.

Die Mystik besteht in der Vereinigung mit der göttlich‑geistigen Welt, in der Einswerdung mit dem Göttlichen. Gnosis ist die Vergegenwärtigung der mystischen Erlebnisse; sie macht sie bewusst, zum Beispiel in einem Hör‑ oder Seherlebnis. Die Magie wiederum besteht in solchen Äußerungen und Handlungen, die ihre Wurzeln in mystischem Erleben und gnostischer Bewusstwerdung haben; hier werden Taten zu „Zeichen und Wundern“. Hier auch ist die Quelle der Kunst, denn wirkliche Kunst hat ihre Wurzeln in mystischem Erleben und gnostischer Bewusstwerdung und sie ist selbst die Darstellung des Geistigen in bestimmten frei geschöpften Zeichen. Der wahre Mythos wiederum ist eine bildhafte Zusammenfassung der gemachten Erlebnisse und Erfahrungen in Gedanke, Bild, Wort oder Schrift. Der echte Mythos bezieht seinen Zauber und seine Kraft aus den drei höheren Stufen, mit denen er untrennbar verbunden ist und die in ihn hineinverwoben sind: Mystik, Gnosis und Magie. Und es sind diese drei höheren Stufen, die ihn von rein begrifflichen Konstruktionen und künstlichen Fiktionen unterscheiden.

Dem Mythos liegt also eine Bewegung zugrunde, die stufenweise von oben herabsteigt. Er stellt damit genau die Gegenbewegung zu den modernen Abstammungslehren dar. In diesen wird die Welt‑ und Menschenentwicklung gemäß dem Darwinschen „trial and error“ so aufgefasst, dass sich das Bewusstsein von unten heraufentwickelt hat ‑ vom Einzeller zum ersten Organismus, von pflanzenhaften zu Tier‑Formen, vom tierischen Bewusstsein zum menschlichen. Der Mythos hingegen geht von einer herabsteigenden Bewegung aus, denen vier Formen von Bewusstsein entsprechen: das mystische, das gnostische, das magische und das eigentlich mythische.

Entwicklungsstufen der Menschheit

Diesen vier Stufen kann man bestimmte Entwicklungsstufen der Menschheit oder Zeitalter zuordnen: Das im wahren Sinne des Wortes ursprüngliche Bewusstsein kann dann als das mystische bezeichnet werden, und das ihm entsprechende Zeitalter das „goldene“. Hier lebte der Mensch in Einheit und ungetrennt von seinem Schöpfer bzw. von seinen Schöpfern. So berichten bestimmte Mythen von einer längst vergangenen Zeit, als die Menschen noch bei den Göttern ein‑ und ausgingen und mit ihnen zu Tische saßen und von ihnen Nahrung, also Substanz erhielten. Ihre Seele befand sich in einer ständigen Berührung mit der göttlichen Sphäre. Diese Berührung vermittelte das im Göttlichen und nur dort anwesende Substantielle in die menschliche Seele und das menschliche Bewusstsein. Aber theses Zeitalter ging zu Ende ‑entweder, weil sich der Mensch nicht mehr zur Höhe des mystischen Bewusstseins aufzuschwingen vermochte, oder weil sich die Götter zurückzogen, so dass des Menschen „spirituelles Tasten“ ins Leere ging.

Dem solchermaßen ärmer gewordenen Menschen blieben aber immer noch die Erinnerungen an die goldenen Zeiten. Sie waren noch so lebhaft in ihm vorhanden, dass er aus den Substanzen, die er bei der einstmaligen Berührung empfangen hatte, weiterhin Kraft, Richtung und Zuversicht schöpfen konnte. Man kann dieses Zeitalter das „silberne“ nennen und das Bewusstsein, welches der Mensch in ihm hatte, als gnostisches bezeichnen. In substanz‑ und erfahrungsgesättigten Bildern und Träumen tauchten die Erinnerungen an die größere Vergangenheit in der Seele auf und bestimmten das Leben der Menschen.

Aber auch theses Bewusstsein verdämmerte mit der Zeit, und an seine Stelle trat, was man magisches Bewusstein nennen kann. Das ihm entsprechende Zeitalter wäre dann als „ehern“ zu bezeichnen. Auf dieser Bewusstseinsstufe tauchten in der Seele des Menschen nicht mehr die substanz‑ und erfahrungsgesättigten Bilder und Träume des einstigen Verkehrs mit den Göttern auf; wohl aber klangen noch deren Kräfte und Wirkungen in der eigenen Seele nach, und auch die ganze ihn umgebende Natur schien ihm noch wie Kundgebungen und Zeichen der einstmals von Angesicht erlebten Götter zu sein. Da sprachen die Götter durch Sturm, Blitz und Donner, durch Feuer, Wasser und Luft, durch Tiere, Bäume, Gebirge und Täler. Die Kunde von diesem Erleben ist uns in den Götter‑ und Heldensagen der Völker, etwa der Griechen und Germanen, aufbewahrt.

Das Bewusstsein, diese Sagen nicht nur mit offenem Herzen als wahre Berichte aufnehmen zu können, sondern auch von ihnen befeuert und im eigenen Handeln angeleitet zu werden, entspricht einer vierten Stufe ‑ dem mythischen oder mythologischen Bewusstsein. Diesem Bewusstsein läßt sich kein eigenes Zeitalter zurechnen, da in dem Augenblick, da auch noch das magische Bewusstsein verdämmerte, auch der Mythos erstarb.

Das bedeutet, dass der Zeitpunkt, da die Fähigkeit, in der äußeren Sinneswelt die Sprache der Götter zu vernehmen, verdämmerte, das von aller Substanz und allem Mythos entleerte, darum entsubstantialisierte und entmythologisierte und deshalb abstrakte Bewusstsein entstand. Und diesem fünften Bewusstseinszustand entspricht ein Zeitalter, das durch Menschen bestimmt ist, die alle Erinnenung an frühere höhere Bewusstseinszustände verloren haben, dafür aber vollständig in und an der sinnentleerten, nur noch für die Sinne wahrnehmbaren Außenwelt erwachen ‑ und das trifft heute mehr oder weniger auf jeden zu.

Wenn man die Weltentwicklung auf diese Weise betrachtet, so könnte man versucht sein, dem abstrakten Bewusstsein und dem materialistischen Zeitalter den Rücken zu kehren, um zu den alten, reicheren Bewusstseinszuständen der Vergangenheit zurückzufinden. Aber schon die schmerzhaften Erfahrungen unseres Jahrhunderts ‑ ich denke an die faschistische Periode in Europa oder an den in jüngster Zeit weltweit aufkommenden Fundamentalismus verschiedener Prägung ‑ können uns klarmachen, dass jeglicher Versuch, die neuere Menschheitsgeschichte als Fehlentwicklung zu betrachten und das Rad der Geschichte zurückzudrehen, in gewaltige humanitäre Katastrophen führt.

Zudem bergen die geschilderten höheren Bewusstseinsstufen auch ihre Gefahren in sich: Das mystische Bewusstsein ist durch die Einheit mit der göttlich‑geistigen Welt gekennzeichnet. Hier war der Mensch ungeschieden mit den Göttern eins. Würde man versuchen, in unserer heutigen Zeit mit irgendwelchen Techniken dieses Bewusstsein zu erreichen, so könnte dies zur Entpersönlichung führen. Denn mit dem Aufgehen in der allumfassenden Einheit ist die Gefahr der Auflösung der Besonderheit und Vereinzelung ‑ das aber ist die einzelne Persönlichkeit ‑ verbunden.

Wie das mystische Erleben von rauschhafter Entgrenzung und Auflösung der Persönlichkeit bedroht ist, so ist das gnostische Schau‑ oder Hörerleben ohne die Kraft der Unterscheidung, die nur das einzelne Gewissen der menschlichen Person aufbringen kann, davon bedroht, für göttlich zu halten, was nicht göttlich ist, und so etwa die eigene Individualität dort für auserwählt und begnadet zu sehen, wo sie bloß einer Illusion zum Opfer gefallen ist.

Steilen wir uns andererseits vor, das magische Bewusstsein würde unvermittelt in unser Gegenwartsbewusstsein durchschlagen, wohin könnte dies führen? ‑ Zum Wahn. Dieser kann sich zum Beispiel darin äußern, dass der Betreffende in allem und jedem Zeichen einer unsichtbaren Welt sieht. Verbindet er diese „Zeichen“ mit einem Sendungsbewusstsein, so wird er sie als Bestätigung seiner Auserwähltheit sehen, während er dann möglicherweise alles, was gegen diese „Auserwählung“ spricht oder ihr im Wege steht, als Anzeichen einer gegen ihn gerichteten Verschwörung deutet. Entpersönlichung, Illusion und Wahn sind Gefahren, wie sie sich bei dem Versuch einstellen können, die geschilderten höheren Bewusstseinsstufen wiederzuerlangen, ohne der modernen Welt‑ und Bewusstseinsentwicklung in der rechten Weise Rechnung zu tragen. Darum soll es jetzt um den Versuch gehen, den Sinn der Entsubstantialisierung und Entmythologisierung zu verstehen. Hierzu ist es notwendig, diese Vorgänge noch von einer anderen Seite aus zu beleuchten.

Verdämmerndes Wesen und erwachendes Personbewusstsein

Vermutlich kennen die meisten den berühmten Philosophenstreit, der das Mittelalter in zwei Lager gespalten hat und zu leidenschaftlich ausgefochtenen Disputationen führte: der Gegensatz von Nominalismus und Realismus. Zunächst soll kurz der Unterschied skizziert werden.

Der realistische Philosoph ging etwa von folgender Erwägung aus: Wenn ich die Welt erkennen will, so muss ich sie zunächst wahrnehmen. Hierzu benötige ich meine Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten vermitteln mir Eindrücke, die die Außenwelt auf mich macht. Der realistische Philosoph nannte dieses Wahrnehmungsvermögen und die durch es gegebene Welt Sensus. Nun liefern mir meine Sinne zwar unzählige Eindrücke und Informationen, ich finde darin aber keinerlei Ordnung, solange ich mich rein auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung befinde. Ordnung in diesem Chaos schafft vielmehr eine Instanz in mir, die das Sinnenmaterial als solches unterscheidet und es nach logischen Gesichtspunkten zusammenstellt. Dieses Vermögen nannte der mittelalterliche Realist Ratio. Er meinte damit unseren Verstand oder unser Vermögen der logischen Schlüsse.

Was aber macht, dass zum Beispiel die vielen Tiere mit Fell, Hufen, Schwänzen, Wiehern usw. immer Pferde sind? Was macht die „Pferdheit“ in ihnen aus? Der realistisch orientierte Philosoph hätte geantwortet: die Idee des Pferdes. Diese Idee wird von einer noch höheren Instanz des menschlichen Erkenntnisvermögens erkannt: dem Intellectus, d.h. unserer Vernunft oder unserem Vermögen der Ideen.

Dass es aber diese vielen Ideen gibt, welche the sinnliche Außenwelt in der mannigfaltigsten Mt gestalten, ist dem Schöpfer aller Ideen zu verdanken, jenem universalen Geist also, der alles aus sich hervorbringt: Deus oder Gott.

Dieser vierfachen Stufung unseres Erkenntnisvermögens entsprachen vier Sphären des Seins: die natürliche Welt, die logische oder Verstandeswelt, die ideelle oder Vernunftwelt und schließlich die göttliche „Welt“.

Wenn wir nun diese vier Stufen mit dem Schema vergleichen, das im ersten Teil dieses Vortrages entwickelt wurde, so gibt es eine deutliche Entsprechung:

Gott (Deus) ‑ Mystik (göttliche „Welt‘)

Vernunft (‚Intellectus‘) ‑ Gnosis (vernünftige Welt)

Verstand („Ratio‘) ‑ Magie (magische Welt)

Sinne („Sensus‘) ‑ Mitteilung (physische Welt)

Dies bedeutet: Um wirklich mit Gott in eine substantielle Verbindung zu kommen, muss der Mensch in irgendeiner Form Mystiker sein. Will er sich dieser Verbindung bewusst werden, so muss er Bürger der Vernunftwelt oder Gnostiker sein. Sollen seine Begriffe „seinsmächtig“ sein, d.h. wirklich mit dem Göttlichen und der Welt übereinstimmen, so muss er nicht nur über einen klaren logischen Verstand verfügen, sondern auch Magier sein. Dann lebt in seinen Worten und Taten nicht nur Klarheit und Vernunft, sondern auch etwas von den Ursubstanzen der Welt ‑ das Heilige.

So etwa lässt sich kurz gefasst die Position des sogenannten ‚Universalien-Realismus“ und seiner letztlichen Konsequenzen beschreiben. Der nominalistische Philosoph nun zweifelte daran, dass die „Stufenontologie“ seines realistischen Gesprächspartners zu irgend etwas substantiell Wirklichem fuhrt. So bestritt er, dass Gott als Substanz oder Sein aufzufassen sei. Für den Nominalisten war er eher Person als Sein oder Wesen. Wenn aber der Wesensaspekt Gottes, sein Sein in den Hintergrund rückte, so wurde auch die Herkunft der Ideen zweifelhaft. Wenn sie nicht aus Gott hervorgehen, wer bringt sie dann hervor? Diese Frage war für den nominalistischen Philosophen rein rhetorischer Natur, denn die Antwort lautete ganz klar: der Mensch selbst. Der Mensch bringt mit seinem Vermögen des Intellectus diese Ideen als bloße Abstraktionen von den wirklich vorhandenen Einzelwesen hervor. Für den Nominalisten war das Vermögen der Ideen also nicht, wie für den Realisten, em die Ideen erfassendes, sondern vielmehr ein die Idee verfassendes Erkenntnisprinzip.

Was bedeutet es nun, wenn der Mensch daran zweifelt, in eine wirkliche Verbindung mit dem Göttlichen und der aus ihm hervorgehenden Ideenwelt zu kommen? ‑ Er versperrt sich den Zugang zur Quelle alles Substantiellen in der Welt. Und in der Tat war eine Entsubstantialisierung die Folge der nominalistischen „Versubjektivierung“ des Ideenvermögens oder der Vernunft.

Mit dieser Entsubstantialisierung ging eine Aufwertung des Verstandes einher, der mehr und mehr zum eigentlich zählenden Erkenntnisvermögen aufrückte. Die wichtigste Leistung des menschlichen Verstandes ist die logische Erklärung des Gegebenen, d.h. dessen rationale Durchdringung, die man als Aufklärung bezeichnen kann. So wurde als Folge des nominalistischen Einwandes gegen die sogenannten „Universalien‑Realisten“ die ganze durch die Sinne erfaßbare Natur immer mehr allein nach den Gesetzen der Ratio erforscht und verstanden, was schließlich zur Neuentdeckung der Natur durch die modernen Wissenschaften geführt hat. Im Zuge der nominalistischen Aufklärung verdämmerte also die altere Auffassung der Natur als eines sinnvollen, sprechenden Ganzen, verdämmerte das Erleben ihrer moralischen und magischen Dimension. Wenn zum Beispiel nicht mehr die Sprache der moralisch richtenden Götter in Blitz und Donner empfunden wird, sondern darin ein elektromagnetischer Zusammenhang zum Ausdruck kommt, ist es mit dem magischen Naturerleben aus. In den letzten 150 Jahren wurden auch die in den sogenannten ‚Heiligen Schriften“ oder in den Sagen und Legenden der Völker aufbewahrten ehemaligen substantiellen Erfahrungen Gottes und der geistigen Welt und ihre magische Interpretation immer mehr zum Gegenstand rein rationaler Erklärungen. Auf die Entsubstantialisierung und Rationalisierung folgte zwangsläufig die Entmythologisierung.

Was hier nur kurz angedeutet ist, war der dramatische Vorgang der Entwesentlichung unseres Erkenntnisvermögens und seiner Gegenstände auf dem Wege von Entsubstantialisierung, Rationalisierung und Entmythologisierung. Aber mit dieser „Wesensdämmerung“ ging ein anderer Prozess einher, den Theo Kobusch als Entdeckung der Person bezeichnet (Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg‑Basel‑Wien 1993). Und diese Entstehung und das Sichdurchsetzen unseres abendländischen personalen Bewusstseins wurde mit dem Abbau der mittelalterlichen „Substanzontologie“, d.h. mit dem Verdämmern und schließlichen Verlust des Wesensaspektes der Welt und der Menschen erkauft. Kobusch bringt im Einklang mit der nominalistischen Tradition die Person des Menschen mit dem esse morale ‑ dem moralischen Sein ‑ in Zusammenhang: Indem der Mensch mehr und mehr ein Bewusstsein der Wesensaspekte der Welt und seiner selbst verlor, erwachte er für seine eigene personale Mitte, welche Ursprung des moralischen Handelns und der moralischen Verantwortung ist. So sind wir uns heute zwar in der Regel unserer Personalität und der damit verbundenen Menschenwürde bewusst geworden, wir stehen aber der Natur als etwas gegenüber, von dem wir nur die materielle Außenseite wirklich erfassen. Die heutige Wissenschaft geht weitgehend von der Hypothese aus, Natur und Kosmos seien aus dem Nichts gekommen und würden in das Nichts vergehen. In der Sprache des mittelalterlichen Denkers Johannes Scotus Eriugena (Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur, übers. v. L. Noack, 3. Aufl., Hamburg 1994) vertfügt unser modernes Bewusstsein damit über keine Erfahrung und Erkenntnis der göttlich‑schöpferischen Natur oder der hinter allen Naturerscheinungen wirksamen, sie hervorbringenden unsichtbaren Natur. Da wir in der Regel die geschaffene Natur ohne den Zusammenhang mit ihren höheren Stufen oder Sphären in den Blick nehmen, bewegen wir uns in einem Bereich, den Scotus als ungeschaffene, nichtschaffende Natur bezeichnet, die, weil sie nicht sein könne, das Nichts sei.

Zweifellos ist es dieses von dem mittelalterlichen Denker für unmöglich gehaltene Nichts, das mehr und mehr denjenigen Bereich der „Natur‘ darstellt, den der modern denkende Mensch in den Blick genommen hat. In diesem Nichts, welches frei von allem metaphysischen und moralischen „Ballast“ absolute Machbarkeit und Macht verheißt, sucht er alles nach eigenem Ermessen einzurichten und hervorzubringen ‑ mit der bekannten Folge, dass das Natürliche mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wird und das Künstliche hervortritt: die „Unter‑Natur“.

Der Weg der Entdeckung der Person war mit einem Abstieg des Menschen in die Unter‑Natur verbunden. Wir befinden uns heute schon nicht mehr auf einer oder mehreren der Stufen der Natur im Sinne des Scorns Eriugena und auch nicht in einer der vier Sphären des mittelalterlichen Weltgebäudes (Gott, Engel‑ oder Vernunftwelt, menschlicher Verstand, sinnlich wahrnehmbare Naturreiche), sondern sind noch weiter abgestiegen, in eine fünfte Sphäre, die man als von aller Wesenhafligkeit befreites abstraktes Bewusstsein bezeichnen kann. Und jene Abstraktheit des heutigen Bewusstseins und Denkens war notwendig, damit wir uns unserer Menschenwürde und unserer Existenz als personale moralische Wesen bewusst werden konnten.

Sind wir damit am Ende aller Wege angekommen? Ist das abstrakte Bewusstsein der Weisheit letzter Schluss? ‑‑ Ganz sicher nicht. Denn wenn der hier kurz skizzierte Weg des Bewusstseins zunächst zur methodischen Ausblendung und dann zu dem Verlust der höheren Stufen der Wirklichkeit und der Erkenntnis geführt hat, so kann es sich eigentlich nur darum handeln, diese Stufen und die sich darauf beziehenden Realitäten in einer Weise wiederzugewinnen, welche der neuzeitlichen Entwicklung zur personalen Freiheit Rechnung trägt. Wir haben daher heute auf der fünften Stufe des völlig und ganz abstrakt gewordenen Denkens anzusetzen, um es in einem frei gewählten Schulungsweg neu mit dem geistig Wesenhaften der Welt in Verbindung zu bringen.

Diesen Weg kann man als Spiritualisierung des Denkens bezeichnen. Und da die fünfte Stufe des entsubstantialisierten, entmythologisierten, rationalisierenden und darum abstrakten Bewusstseins zugleich die der Entdeckung der Person als moralisches Sein darstellt, ist der stufenweise Wiederaufstieg des Bewusstseins oder die Spiritualisierung des Denkens ein Prozess, der mit einer weiteren Moralisierung und Personalisierung des Bewusstseins Schritt hält. Wir müssen heute von unserer personalen, moralischen Mitte aus die vier Prinzipien oder Stufen des mittelalterlichen Weltgebäudes neu zu erreichen versuchen. Daraus ergibt sich ein vierstufiger Studienweg entsprechend der Wiedergewinnung dieser vier Sphären der platonisch‑aristotelischen Philosophie des Mittelalters unter neuzeitlichen Bedingungen:

• Der Aufstieg zur (diesen Namen verdienenden) sinnlichen Natur gestaltet sich als die menschliche Personalität und Moralität einbeziehendes Wahrnehmen der verschiedenen Naturreiche im Sinne des ganzheitlichen Ansatzes von J. W. v. Goethe (zum Beispiel in seiner „Farbenlehre“ oder „Die Metamorphose der Pflanze“. Vgl. J.W. v. Goethe, „Die Farbenlehre“ in: Sämtliche Werke, Band 10, München 1989; ders,, „Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie“, in: op. cit., Band 12.) und später von Pavel Florenskij (vgl.Michael Silberer, „Die Trinithtslehre im Werk von Pavel A. Florenskij“, in: Das Östliche Christentum. Abhandlungen im Auftrag des Ostkirchlichen Instituts der deutschen Augustiner, Neue Folge Bd. 36, Augustinus‑Verlag Würzburg 1984, 212) – Florenskij war der „Goetheanist“ unter den russischen Sophiologen. (Die Sophiologie ist eine von Wiadimir Solosew inaugurierte neuere Strömung innerhalb der russischen Philosophie, deren wichtigsten weiteren Repräsentanten Pawel Florenskij und Sergeij Bulgakow sind. Vgl. Michael Frensch, Weisheit in Person. Zur religionsphiloso­phi sehen Begründung der Sophiologie, Schaffhausen 2000), der das schöne Wort von der „sophianischen Einfärbung der Schöpfung“ geprägt hat.

• Der Aufstieg zur Welt der menschlichen Vernunft (Ratio) gestaltet sich vor allem als Aufgabe, die Bedingungen und Grenzen der formalen Logik zu erkennen und das ganze System der dem Computer anheimgefallenen Logik in eine integrale oder moralische Logik umzugestalten, die dabei zu einer individualisierten, personalisierten Logik wird. Wichtige Vorarbeiten hierzu hat zum Beispiel der letzte große platonisierende Denker an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, Nikolaus von Kues, geleistet (vgl. Nikolaus Cusanus, „De Coniecturis“, in: Philosophisch‑Theologische Schriften, hrsg. v. Leo Gabriel, Bd. 11, Wien 1966, 1ff.).

• Der Aufstieg auf die Stufe der Ideenwelt (die mit der im Mittelalter als real erlebten Engelwelt identisch ist) hängt mit demjenigen zusammen, was Wladimir Solowjew (der „Idealist“ unter den russischen Sophiologen) als „mystisches Prinzip“ zum Erleben der Idee der All‑Einheit bezeichnet hat, aus dem nach seiner Ansicht sich in Zukunft die „freie Theosophie“ entwickeln wird (vgl. Wladimir Solowjew, „Kritik der abstrakten Prinzipien“, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Soloivjew, Band 1, München 1978,13 ff.). Sie kann zum Beispiel durch eine Bewusstseinsschulung erreicht werden, wie sie Rudolf Steiner in der von ihm inaugurierten Anthroposophie im einzelnen ausgearbeitet und dargestellt hat.

Die Hinwendung zur vierten Stufe des Weltgebäudes könnte dann im Sinne einer Vertiefung in das Mysterium des individuellen, freien Schöpfertums geschehen ‑ ein Zusammenwirken des Göttlichen und Menschlichen in einer Kunst, die sich in allen Gebieten des Lebens realisiert und in die Zukunft hinein zu einer umfassenden Verwandlung von Erde und Mensch führt.

Der hier skizzierte Weg der Spiritualisierung des Denkens in Richtung eines „integralen Bewusstseins“, wie es Jean Gebser bezeichnet hat, ist also ganz und gar praktisch. Er kann zu schöpferischer Kreativität und zur Bereitschaft fuhren, personale Verantwortung zu übernehmen und sie in alle Gebiete des Seins zu tragen. Eine solche Spiritualisierung des Denkens ist gewiss ein hohes, fernes Ziel. Sie ist aber eine Forderung, die unsere Zeit an jeden stellt, der einsieht, dass das abstrakte, materialistische Bewusstsein nur eine zur Entdeckung der Person und ihrer moralischen Verantwortung notwendige Durchgangsstufe ist.

Bewusstseinsentwicklung vor dem Hintergrund der Bibel

Blickt man auf den skizzierten mittelalterlichen Nominalismus‑Streit und seine neuzeitlichen Folgen, so fällt auf, dass zwei Begriffe im Zentrum stehen, welche die Polarität des Menschseins zum Ausdruck bringen: Person und Wesen. Und die beiden Strömungen des Realismus und des Nominalismus waren Repräsentanten jeweils einer der beiden Pole; ihr „Streit“ war notwendig, damit beide Aspekte des Menschseins zu Bewusstsein kamen.

Diese beiden Aspekte kennt auch die Bibel. So wird im ersten Kapitel der Genesis gesagt, dass der Mensch geschaffen wurde als Gleichnis und Ebenbild Gottes. Das Wesen oder Ebenbild ist dasjenige im Menschen, was die Gottheit vollkommen spiegelt. Es stellt die kontemplative Seite im Menschen dar. Die Person oder das Gleichnis wiederum ist dasjenige im Menschen, was Gott gleicht. Und der Mensch gleicht Gott darin, dass er, wie sein Schöpfer, zu freien schöpferischen Taten befähigt ist, dass er bewusst, frei und moralisch verantwortlich handeln kann. Es macht unser Personsein aus, dass wir in welcher Form auch immer frei handeln könnende und für unsere Handlungen moralisch verantwortliche Menschen sind.

Nun heißt es in der Genesis weiter, dass der Mensch den Sündenfall verursachte. Die frühchristlichen Kirchenväter verstanden darunter die Tatsache, dass Ebenbild und Gleichnis durch die Schuld des Gleichnisses voneinander getrennt wurden, dass das Gleichnis durch die als Sündenfall symbolisierte Tat den Zusammenhang mit dem Ebenbild verlor und dadurch zum „Ungleichnis“, zur dissimilitudo wurde.

Das Neue Testament kennt die beiden das Menschsein zum Ausdruck bringenden Polaritäten ebenfalls. Sie kommen zum Beispiel in dem Eingangszitat dieses Vortrages zum Ausdruck. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Bibel mit dem Begriff „Menschensohn“ das Ebenbild Gottes meint, und dass das moralische Handeln Kennzeichen des Gleichnisses ist, kann der zitierte Text auch folgendermaßen gelesen werden: Das Ebenbild wird den handelnden Menschen überliefert, oder: „Das von Gott geschaffene und ihn widerspiegelnde Wesen des Menschen wird in die Hände der Person des Menschen gegeben werden“. Damit aber wäre die frohe Botschaft des Evangeliums die von der Wiedervereinigung von Ebenbild und Gleichnis und damit von der Überwindung des Falles des Gleichnisses in das „Ungleichnis“.

Aber das Evangelium fährt fort: Die handelnden Menschen, werden den Menschensohn töten. Wir können diese drastische Aussage der Bibel heranziehen, um Entsubstantialisierung, Rationalisierung und Entmythologisierung noch von einer anderen Seite aus zu verstehen. Denn das Verdämmern und der schließliche Verlust des Wesensaspektes von Welt und Mensch bedeutet in letzter Konsequenz Tod. Von daher kann man den aktiven Vorgang der Entwesentlichung als ein Töten bezeichnen. Und da der Wesensaspekt des Menschen mit dem Ebenbild zusammenhängt, kommt der Entsubstantialisierung und Entmythologisierung die Tötung des Ebenbildes gleich, das in den Evangelien als „Menschensohn“ bezeichnet wird.

Man kann also die These aufstellen: Die abendländische Bewusstseinsentwicklung der letzten 1200 ‚Jahre bestand in einem zunehmenden Entsubstantialisierungs‑, Rationalisierungs‑ und Entmythologisierungsprozess bzw. in einer sich steigernden Entwesentlichung, die der Tötung des Menschensohnes durch die zu ihrer Personalität erwachenden handelnden Menschen entsprichtt. Diese These lässt sich auch so formulieren: Was in der persönlichen Biographie lesu Christi geschehen ist: dass er den Händen der Menschen überliefert und von ihnen getötet wurde, geschah auf historisch‑menschheitlichem Niveau insbesondere während der letzten 1200 Jahre. Die Passion Christi wiederholte sich ‑ jedoch dieses Mal nicht an einem besonderen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Menschen, sondern auf weltgeschichtlichem Niveau in der ganzen Menschheit.

Man kann mit gutem Grund davon ausgehen, dass dieser Vorgang im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Abschluss gekommen ist: Mit der Heraufkunft von Materialismus und Nihilismus nach der vorangehenden Aufklärung war der Entsubstantialisierungs‑, Rationalisierungs- und Entmythologisieningsprozess in der Tat so weit fortgeschritten, dass mandavon sprechen kann, dass der „Menschensohn von den handelnden Menschen getötet“ worden ist. Materialismus, Nihilismus und Konfrontation mit dem Tod waren der Preis, der gezahlt werden musste, damit der moderne Mensch sein Person‑Bewusstsein entwickeln konnte, über das heute mehr oder weniger fast jeder Mensch frei verfügt. Insofern sind Entsubstantialisierung, Rationalisietung und Entmythologisierung in der Tat zu den wichtigsten Existenzfragen unserer Zeit geworden.

Jedoch bleibt das angeführte Bibelzitat nicht bei einer pessimistischen Prognose stehen. Es verheißt nicht nur die Tötung des Menschensohnes, sondern auch dessen Auferstehung in drei Tagen. In unserem Kontext läßt sich dieser Vorgang folgendermaßen beschreiben: Ab dem 20. Jahrhundert beginnt die Auferstehung des Menschensohnes im Bewusstsein der menschlichen Personen. Diese Auferstehung erstreckt sich über drei Zeitalter, Epochen oder Weltentage, entsprechend den Dimensionen des wiedergewonnenen Magischen, Gnostischen und Mystischen.

 Zusammenfassung

Der Mythos ist Ergebnis eines Erfahrungs‑ und Erkenntnisprozesses, der aus vier Stufen besteht. Die erste Stufe kann als Mystik bezeichnet werden. Die mystische Erfahrung ist das Ergebnis eines spirituellen Tastens, wobei die in Versenkung befindliche Individualität die Begegnung mit einer anderen, rein geistigen Realität sucht. Kommt es zu dieser Begegnung, so kann man sie als gegenseitige Berührung bezeichnen. Es handelt sich dabei um eine substantielle Erfahrung, von welcher der Mystiker weiß, dass dasjenige, was ihn berührt, nicht er selbst ist, sondern etwas „göttlich“ viel Reicheres und Tieferes als er selbst.

Um diese Aussage zu treffen, ist eine zweite Stufe der Bewusstwerdung notwendig: die Vergegenwärtigung des mystischen Erlebens. Man kann diese Stufe als „reine Gnosis“ bezeichnen, weil hier, was sonst unerinnertes mystisches Erleben bleiben müßte, bewusst wird. Auf dieser Ebene ist das Bewusstsein (möglichst) reiner Spiegel der mystischen Erfahrung. Ist, was auf der gnostischen Stufe erfahren wird, wirklich Ergebnis eines echten, substantiellen mystischen Erlebens, so sind darauf beruhende Handlungen im eigentlichen Sinne magisch, weil die Exteriorisation oder das Heraussetzen des in der Gnosis bewusst gewordenen, der Mystik verdankten Inhaltes mehr ist als die Projektion des eigenen Innenlebens. Es bekundet sich darin eine höhere Realität und Kraft, und diese Manifestation einer höheren Kraft auf einer tieferen Ebene ist dasjenige, was man als Magie bezeichnen kann. Wird dieser dreistufige Prozess in Form einer Legende, einer Erzählung oder eines Lehrkodex festgehalten, so haben wir einen wirklichen Mythos oder eine „heilige Schrift“ vor uns. Jeder Mythos hat also drei unsichtbare Stufen über sich, denen er sich verdankt: die Mystik, die Gnosis und die Magie.

In Analogie zu dem beschriebenen Bewusstwerdungsvorgang läßt sich die Bewusstseinsgenese der Menschheit als Abstieg beschreiben von einer ursprünglichen mystischen Zeit (in den Legenden verschiedener Völker als ‚goldenes Zeitalter“ bezeichnet) über eine darauffolgende gnostische Zeit („silbernes Zeitalter“) zu einer mehr magisch geprägten Epoche („ehernes Zeitalter“). Wir leben in einem Zeitalter, das man, solange es unter den Vorzeichen von Entsubstantialisierung und Entmythologisierung steht, als „finsteres Zeitalter“ bezeichnen kann, denn es steht mit dem Verdämmern der höheren Stufen des Bewusstseins in Verbindung. Entsubstantialisierung liegt vor, wenn die mystische Stufe verdämmert, d.h. wenn es zu keiner substantiellen Erfahrung des Transsubjektiven, Göttlichen mehr kommt. So wird die Vergegenwärtigung der mystischen Erfahrung mit der Zeit zu einem bloßen Akt der Erinnerung an einen Wahrtraum. In der Folge verlieren auch die Taten der Menschen (im Gegensatz zu den ehemaligen Taten der Helden bzw. der Heiligen) ihre magische Kraft und werden zu eindimensionalen Handlungen. An die Stelle des geschichtsmächtigen Mythos tritt dann die bloße Erzählung, die man auf ihre verschiedenen Elemente hin analysieren und deren frühere Kraft und Wirkung man rational erklären kann. Die Entsubstantialisierung fuhrt zum Verlust des Mystischen und Gnostischen; die Rationalisierung zur Tilgung der verbliebenen Spuren des Magischen und des Mythischen, so dass man sich den Entmythologisierungsprozess als einen vierstufigen Abbau des Bewusstwerdungsprozesses vorstellen kann. Am Ende dieses Abbauprozesses steht das abstrakte Bewusstsein, von Jean Gebser als mentales Bewusstsein bezeichnet.

Der Entmythologisierungsprozess trat mit historischer Notwendigkeit auf; weil er das von Gebser als „integral“ bezeichnete Bewusstsein vorbereitet, welches die genannten vier Bewusstseinsstufen von der personalen Mitte aus integriert. Das „integrale Bewusstsein“ ist nicht durch Reminiszenz an die verloren gegangenen Bewusstseinsstufen vergangener Zeitalter zu haben, denn da diese durch den „Nullpunkt“ oder das „Nadelöhr“ des abstrakten Bewusstseins geffihrt worden sind, bedarf es einer Auferweckung und Auferstehung dieser Bewusstseinsstufen durch eine neue Kraft.

Diese Kraft trat mit Christus in die Welt. Die Selbstaussage Christi: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert. Sie werden ihn töten. Und nach drei Tagen wird er auferstehen“ bezieht sich auf diesen Sachverhalt. Was the Bibel den „Menschensohn“ nennt, ist das Ebenbild Gottes oder das Wesen des Menschen. Dessen Überlieferung in die Hände der Menschen meint den Vorgang, durch den die höheren Bewusstseinsstufen der handelnden menschlichen Person verfügbar werden. Die Gefahr ist, dass der Mensch sie sich egoistisch anzueignen oder sie zu verleugnen versucht, wodurch es zum Vorgang der Entsubstantialisiening und Entmythologisierung kommt, d.h. der Menschensohn getötet wird.

In den Zeiten nach Christus jedoch erkennt sich der Mensch am Ende des Entsubstantialisierungsprozesses als Urheber dieses Vorganges; er entdeckt sich als Person, die mit ihrem abstrakten Bewusstsein der völligen Wesenlosigkeit, d.h. dem Nichts gegenübersteht. Der Vorgang der Auferweckung der höheren Stufen kann sich nur nach der Entdeckung der Person und der damit verbundenen existentiellen Erfahrung des Nichts in der und durch die solcherart mit dem Tode konfrontierten Person vollziehen; nur sie selbst kann die höheren Stufen in sich integrieren,

Von Seiten derjenigen Realität, welche sich in den genannten höheren Bewusstseinsstufen manifestiert, kommt ihr dabei jene Hilfe entgegen, die durch das Ostermysterium geboren wurde, so dass der Mensch die dreie drei Bewusstseinsstufen des Magischen, Gnostischen und Mystischen in sein Alltagsbewusstsein integriert, wobei sie in drei Welten“tagen“ oder Zeitaltem  in ganz neuer Gestalt in der Person des Menschen auferstehen können. Dies ist u.a. mit der Evangelienaussage gemeint: In (oder nach) drei Tagen wird er auferstehen.“

Mit anderen Worten: Was sich im Leben und Erleben des einen Menschen Jesus Christus von Karfreitag bis Ostern abgespielt hat, hat eine gesamtmenschheitliche, zukünftige Dimension. Dies bedeutet unter anderem, dass es in Zukunft neue Mythen geben kann, geschaffen von einem taghellen, glasklaren, logischen, personalen Bewusstsein ‑ wenn der Mensch es will und an der Spiritualisierung seines Denkens arbeitet. Solche aus der Freiheit der christlichen Person neu geborenen Mythen können sich dann durch ihre magischen, gnostischen und mystischen Dimensionen ebenso als geschichtsmächtig erweisen, wie es die auf uns überkommenen, entsubstantialisierten und entmythologisierten Mythen einst gewesen sind.

(Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem XVIII. Internationalen Jean Gebser Symposium 21. und 22. September 1996 in Schaffhausen)

 

Klaus Johannes Bracker

„Ich, Jahve, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Schuld der Väter ahndet an den Kindern, Enkeln und Urenkeln derer, die mich hassen.“ (Ex 20,5) [i] – „Ich bin Jahve, und sonst keiner; außer mir gibt es keinen Gott. Ich gürte dich, obwohl du mich nicht kennst, damit man wisse vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang, daß neben mir kein anderer ist. Ich bin Jahve und sonst keiner, der Licht bildet und Finsternis schafft, der Heil wirkt und Unheil schafft; ich bin Jahve, der alles dies wirkt.“ (Jes 45,5-7)

In der mediterranen Welt der Spätantike, in der die Spekulationen orphischer, pythagoreischer und platonisierender Theologen unablässig um das Problem des Gefallenseins des Menschen in ein diesseitiges Leben in der Hyle, der Materie kreisten und in der das geistige, lichte Jenseits das Ziel spiritueller, pneumatischer Sehnsucht war, stießen solche tatsächlich einigermaßen dunklen Worte des alttestamentlichen Jahve, des Gottes der Genesis und des Volkes Israel nicht selten auf starke Ablehnung. Der Gott der Juden erwies sich nämlich als so sehr der irdischen Schöpfung zugewandt, daß dies dem starken Drängen auf Transzendenz bei jenen hellenistischen, vielfach von iranischen, babylonischen oder ägyptischen Kulten berührten Esoterikern im tiefsten Sinne zuwiderlaufen mußte. Es versteht sich allerdings von selbst, daß von der Tendenz der Ablehnung Jahves die Esoteriker der sich ebenfalls von dieser Zeit an entwickelnden Kabbala, als der genuin jüdischen Mystik und Gnosis des Gottesnamens JHVH, von vornherein auszunehmen sind.[ii]

Eine anfängliche und bisweilen nur flüchtige Kenntnis der zur damaligen Zeit noch jungen neutestamentlichen Überlieferung, insbesondere gewisser paulinischer und johanneischer Texte, begünstigte im Umfeld der nichtjüdischen Esoteriker die Auffassung, daß Altes und Neues Testament einen gewissen Dualismus, ja sogar einen unversöhnlichen Gegensatz bedeuteten, in dem es Stellung zu beziehen galt. Zwei Beispiele mögen dies belegen. – Der heilige Paulus ermahnt die Galater, er spricht von der Spannung zwischen mosaischem Gesetz und christlicher Gnade und sagt: „Ich beseitige nicht die Gnade Gottes! Denn wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit kommt, dann ist Christus umsonst gestorben.“ (Gal 2,21) Wenn die Befolgung der durch Moses vermittelten Gebote Jahves allein schon das Heil bringen könnte, wäre die Sendung des Christus in die Welt nicht erforderlich gewesen. Abzuwägen ist, ob es Paulus damit um die Ergänzung und Vollendung des Alten Bundes durch den Neuen zu tun ist (das orthodoxe Verständnis) oder um die Charakterisierung einer Feindschaft zwischen Gesetz und Gnade (das gnostische Verständnis). – Im Johannesevangelium wiederum findet sich die Schilderung, wie Christus eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe von Juden führt, die sich seiner Verkündigung des nahenden Gottesreiches bereits glaubend zugewendet haben und die beteuern, daß Gott ihr Vater sei. Christus aber weist sie daraufhin scharf zurecht. „Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben. Denn ich bin von Gott ausgegangen und gekommen. Denn ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern jener hat mich gesandt. Warum versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr habt den Teufel zum Vater und wollt die Gelüste eures Vaters tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an und hatte in der Wahrheit keinen Stand, weil Wahrheit in ihm nicht ist.“ (Joh 8,42-44) Dies konnten und wollten gnostisch Suchende nicht im Sinne einer Maßregelung der Juden wegen eines Abgefallenseins von Jahve, ihrem Gott, verstehen, sondern so, als meine Christus keinen anderen als den väterlichen Gott des Alten Testaments, eben Jahve, wenn er „Teufel“ sagt (gr.: diabolos). Allerdings entgehen einem solchen Verständnis der Bibel, das sei dabei angemerkt, die zahlreichen Verweise, in denen Christus selbst sich positiv auf den Gott des Alten Testaments bezieht. Unter ihnen sind, in der hier interessierenden Frage nach dem Verhältnis des Christus Jesus zu Jahve, dem Gott der Väter, jene Erwiderungen von größter Bedeutung, mit denen Christus den Versucher in der Wüste zurückweist. Denn als es um Steine und Brot, um den Sturz von der Zinne und um eine Huldigung Satans geht, beruft Christus sich jedesmal, und zwar in Zitaten aus Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, klar auf den alttestamentlichen Gott und bekundet so zugleich seine Treue zu ihm. Der Selbstaussage des Christus Jesus zufolge ist die Unterscheidung zwischen Gott und Teufel, wie er sie trifft, ganz unmißverständlich.

Spätantiker Hellenismus

Den hellenistischen Esoterikern und Gnostikern hingegen fiel sie nicht leicht. Vor allem der Schritt von einer Gnosis, die in die verschiedenen Mysterienkulte um die Zeit des Ereignisses von Golgatha noch selbstverständlich integriert war, zu den eigenständigen Systemen des spätantiken Gnostizismus[iii] brachte eine immer stärkere Geringschätzung, ja Verachtung Jahves als des „bösen Gottes des Alten Testaments“ mit sich. Dies ließe sich ideengeschichtlich an Gnostikern wie Simon Magus, Markion, Karpokrates, Basilides und Valentinus, sowie an den Systemen der Ophiten und der Barbelognosis nachvollziehen. Sie alle bildeten Varianten des gnostizistischen Erlösermythos aus, die sie, als ein aus heutiger Sicht offenkundig häretisches Gedankengut, in die Welt des Neuen Testaments einzuführen trachteten, oftmals unter dem Anspruch auf besondere, geheime apostolische Überlieferungen.[iv] Viele Elemente dieses Mythos des Gnostizismus finden sich in dessen wohl bedeutsamster Ausprägung, dem Manichäismus, ebenfalls wieder.[v] – Das hier angedeutete gnostische Verständnis davon, wer Jahve wäre, wurde später insbesondere in der Vermittlung durch die mittelalterlichen,  neumanichäischen Bogomilen- und Katharerbewegungen in die Neuzeit herein überliefert. Vergleichbaren Vorstellungen begegnen wir dann in der Theosophie der Helena Petrowna Blavatsky und, wenn auch in abgewandelter Form, schließlich an einigen Stellen bei Rudolf Steiner. – Einzelne Beispiele, die einen Querschnitt wiedergeben, seien hier angeführt, wenn auch die Fragen, um die es geht, damit nur gerade berührt werden können. Um einen Überblick auch nur über die wichtigsten, uns zunächst so befremdlich erscheinenden, gnostizistischen Systeme mit ihrer verwirrenden Fülle von Einzelaspekten zu geben, wäre eine umfangreichere Untersuchung zu leisten.

In den meisten der erwähnten gnostischen Traditionen spielt unter verschiedensten Gesichtern, bevor diejenige Gestalt erscheint, die Jahve, dem Gott der Genesis, entspricht, eine hohe weiblich-göttliche Emanation eine herausragende Rolle. Das göttliche Pneuma etwa (der Geist) wird weiblich verstanden, wir begegnen der Barbelo der Barbelognostiker (vielleicht zu lesen als Barbhe Eloha = „In der Vier ist Gott“) und der Charis (der Gnade) als der „Mutter des Alls“, aber auch einer Sophia Achamoth, der gefallenen Weisheit. Valentinus (2. Jh.) zufolge ist der gute Gott unerkennbar, aber aus seiner unsagbaren Tiefe heraus emaniert die Gnade, das Schweigen, der göttliche Mutterschoß der Mutter des Alls, die den Samen aus der unaussprechlichen Quelle empfängt und paarweise die Emanationen männlicher und weiblicher Äonen (ewiger Geistwesen) hervorbringt.[vi] Der Vorstellung von einer gefallenen Weisheit wiederum entspricht auch der Bericht aus der in Nag Hammadi entdeckten Apokalypse des Adam, in der es über eine solche weibliche Emanation, die sich von den übrigen abtrennte, heißt: „Sie kam auf einen hohen Berg und saß dort eine Weile, so daß sie sich selbst begehrte, um mannweiblich zu werden. Sie erfüllte ihr Begehren und wurde von diesem Begehren schwanger.“[vii] Für einige Gnostiker wird sie so zur „Mutter alles Lebendigen“. Und in der Barbelognosis ist dies die Sophia Prunikos (die Geile), die in dem Akt der Abtrennung vom Vater in einen Abgrund springt und den Proarchon (den Vorherrscher) gebiert, der als die gnostische Entsprechung Jahves zu verstehen ist und jetzt – vermessen und ohne Wissen um den ewigen Vater – die Schöpfung der Welt unternimmt. Sophia flieht ihn, als er sich mit der Selbstgefälligkeit vereinigt und mit ihr seine Kinder, Bosheit, Eifersucht, Neid, Rache und Begierde erzeugt. Von Sophia verlassen, wähnt er sich als den einzigen Gott und spricht: „Ich bin ein eifersüchtiger Gott“ (Ex 20,5) und „außer mir ist niemand“ (Jes 45,5). In der Nag-Hammadi-Schrift Das Wesen der Archonten spricht er, das Geschöpf der Sophia: „‚Ich bin Gott, außer mir gibt es keinen anderen‘. Als es das sagte, sündigte es gegen das All. Eine Stimme kam aber aus der Höhe des Absoluten, welche sagte: ‚Du irrst dich, Samaêl‘. Das ist der blinde Gott.“ Und später spricht er zu seinen Kindern: „‚Ich bin der Gott des Alls.‘ Und Zoe, die Tochter der Pistis Sophia, rief und sprach zu ihm: ‚Du irrst dich, Saklas‘ – seine Übersetzung ist Jaldabaôth.“[viii]Samaêl und Saklas sind dieser Passage zufolge derselbe wie Jaldabaôth, wie dies auch dem Apokryphon des Johannes zu entnehmen ist, einer weiteren Schrift aus dem Fundus von Nag Hammadi. Zoe wiederum wird in diesem Apokryphon auch als der gute (weibliche) Geist bezeichnet, als die Epinoia des Lichts, die den adamitischen Menschen, als Geschöpfen Jaldabaôths, um der in sie eingefangenen, muttergöttlichen Lichtelemente willen, als Helferin zueilt. Ohne daß Jaldabaôth einen Zugriff auf die Epinoia hätte, wohnt sie dem Adam in dessen Knochengerüst ein, aus welchem dann Eva (aus seiner Rippe) hervorgeht. Da ihr die Epinoia einwohnt, wird Eva nun von Adam die „Mutter aller Lebendigen“ genannt. Und die Epinoia wird durch Eva zur Vermittlerin der Gnosis, der Erkenntnis, indem sie Adam dazu bringt, die Erkenntnis zu „essen“. Die versuchende Schlange der Genesis erscheint hier als eine zur Erlösung beitragende, zur Ordnung des Christus zählende Gestalt. Und so weist der Hergang in seiner Entsprechung zum bekannten Bericht der Genesis darauf hin, daß in den gnostischen Systemen Jaldabaôth mit Jahve, dem Gott der Genesis, gleichzusetzen ist, der gegenüber dem vom urguten, ewigen und transzendenten Vater ausgehenden Christus und den ihm helfenden Äonen (ewigen Geistwesen) zum Inbegriff des Demiurgen wird, des bösen Archonten der Finsternis, der die Seelen in seiner Schöpfung gefangenhält, bis sie – sofern sie Erwählte sind – durch Gnosis Erlösung finden und der Herrschaft Jahve-Jaldabaôths entkommen. In etwa gilt dies übrigens geradeso auch für den Manichäismus, wo Jaldabaôth als der Dämon Saklas auftritt, der gemeinsam mit seiner Paargenossin Nebroel die ersten Menschen, Adam und Eva erzeugt. – Wie sollte Jahve innerhalb der geistigen Welt der Gnosis eine derartig negative Stigmatisierung jemals wieder ablegen können?

Bogumilen und Katharer

Im frühen Mittelalter (7.-10. Jh.) führen gewaltige Bewegungen im Südosten Europas zu der kraftvollen, neumanichäischen Synthese des Bogomilentums. Zentralasiatische, proto-bulgarische Stämme, verwandt mit dem Turkvolk der Uiguren, dringen um das Jahr 670 in die südlich der Donau gelegenen Gebiete des heutigen Bulgarien vor und vermischen sich mit der dort ansässigen altslawischen Bevölkerungsgruppe. Während die Uiguren entlang der Seidenstraße von der Mitte des 8. Jahrhunderts an den Manichäismus zur Staatsreligion erheben, beginnen gegen Ende des 8. Jahrhunderts paulikianische Missionare, das Bulgarenland zu erschließen. Die Paulikianer wiederum sind eine Gemeinschaft – Sekte und Volk zugleich –, die sich in den Gegenden von Armenien im 6. und 7. Jahrhundert, unter dem Einfluß eines Paulus von Samosata, aus Gruppen verdrängter persischer Manichäer herausgebildet hat. In der Lehre dieser Paulikianer wirkt die Theologie des Gnostikers Markion fort, der schon im 2. Jahrhundert das Alte Testament verworfen hatte, da er – vor allem durch die Römer- und Galaterbriefe des Paulus angeregt – zu einem intensiven Erlebnis der Spannung zwischen mosaischer Gesetzesstrenge und neutestamentlicher Gnade gelangt war. Die Paulikianer vereinigen also paulinisches, markionitisches und manichäisches Denken zu einer Lehre, die sich nun in Südosteuropa in starkem Gegensatz zur byzantinischen Orthodoxie ausbreiten soll. So treten die das Mönchtum verachtenden Paulikianer im Bilderstreit als entschiedene Gegner der byzantinischen Bilderverehrer hervor.[ix] Das paulikianische Erbe tritt im 10. Jahrhundert der Landpriester Bogomil („Gottesfreund“) an, der in der Ausbildung seiner Lehre vor allem das manichäische Element wieder stärker in den Vordergrund stellt und die Nachfolge Christi als Flucht aus der bösen Welt und – das ist neu – als Hinwendung zum mönchischen Lebensideal predigt. Im bogomilischen Mythos ist es Samaêl oder Satanael, der in der Abwendung von dem ganz überweltlichen Vater eine eigene Welt erschafft. Nur die Sonne vermag er nicht zu bilden, sie stiehlt er vom Himmelsvater. Doch ist er auch der Demiurg, der aus Lehm den Menschen erschafft, welcher ihm dienen soll. Engel des dritten Himmels ergreifen vom männlichen Körper, Engel des zweiten Himmels vom weiblichen Besitz.[x] In der Funktion Jahves ist hier also ebenfalls Satanael (Satan) der „böse Gott des Alten Testaments“. Das Kreuz ist zu verabscheuen, denn an einem Kreuz wurde Christus gefoltert und zu Tode gebracht. Später, im Verlaufe des 11. Jahrhunderts, kommt es unter den Bogomilen zu einer Spaltung, indem die „Kirche von Dragovitsa“ einen absoluten Dualismus verkündet, der in Satan einen ewigen Gott sieht, während die ursprünglichen Bogomilen, die sich auch die „Bulgaren“ nennen, dem älteren, gemäßigten Dualismus treu bleiben, demzufolge es sich bei Satan, dem Demiurgen, um einen gefallenen Sohn Gottes handelt. – Im 14. Jahrhundert aber verlieren die Bogomilen zusehends an Bedeutung, und unter der ottomanischen Besetzung Bulgariens und Bosniens treten die meisten verbliebenen Bogomilen zum Islam über.[xi]

Noch während des 12. Jahrhunderts aber beginnen bogomilische Missionare, westlichere Gegenden zu bewandern und ihre Lehre in Italien, Frankreich und im westlichen Deutschland zu verbreiten. In der Begegnung mit verschiedenen ketzerischen Landbewegungen, die gegen den starken sittlichen Verfall in den Reihen des damaligen Klerus aufbegehren, bildet sich allmählich die vielgesichtige Kirche der Katharer heraus. Seit 1163 kennt man für sie den Ausdruck katharos = rein, und ausgehend von einem Konzil in der Nähe von Toulouse bekehrt die katharische Kirche sich in denselben Jahren zu einem radikalen, weltverachtenden Dualismus, der über die Bogomilen auf den Manichäismus und sonstige gnostische Systeme zurückgeht.[xii] In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts folgt die große Mehrheit der Bevölkerung Südfrankreichs, mit dem Kerngebiet im Languedoc, dem katharischen Bekenntnis und finden sich Katharer oder Albigenser auch in Italien, Spanien, im nördlichen Frankreich sowie in den deutschen Rheinländern. Die Feindschaft jedoch zwischen katholischer Kirche und Katharismus führt zu den berüchtigten Albigenserkreuzzügen, denen  nach Jahrzehnten des Kampfes um 1250 die Katharer durch Schwert und Scheiterhaufen erliegen. Die berühmte Festung Montségur fällt im März 1244. Versprengte Gruppen von „Bonshommes“ finden sich allerdings noch bis ins 14. Jahrhundert hinein. Nicht nur durch die Kunst der Troubadoure, sondern wohl auch ideengeschichtlich hat das geistige Streben der Katharer das späte Mittelalter nachhaltig geprägt. – Nun stimmt in der Frage nach Jahve, dem Gott der Genesis, die katharische Theologie, die die der Bogomilen weiterentwickelte, mit derjenigen der älteren gnostischen Schulen im wesentlichen überein. Satan wird mit Jahve gleichgesetzt. Er ist als der Schöpfer dieser Welt der leibhaftige Gegenspieler der reinen Seele. Er ist der Feind der Menschen und der Feind des ewigen Gottes. – Zwar bestreitet Déodat Roché, der wohl bedeutendste anthroposophische Katharismusforscher, diese Gleichsetzung, trotzdem aber bietet er den Lesern seines Werkes – beispielsweise – Auszüge aus der katharischen Handschrift (von Carcassonne) mit dem Titel Das Geheime Abendmahl, in der diese Gleichsetzung nur zu deutlich bestätigt wird:

„Satan verfolgte das Ziel, einen Menschen zu machen, der ihm diene; er brachte Schlamm herbei und machte den Menschen nach dem Bilde des Urmenschen und nach seinem eigenen Bilde; darauf gebot er einem Engel aus dem zweiten Himmel, in diesen Leib aus Schmutz einzuziehen. Er nahm ein Stück davon, machte daraus einen zweiten Leib von weiblichen Formen und gebot einem Engel aus dem ersten Himmel, in diesen Leib einzuziehen. Die Engel weinten wahrlich, als sie sterbliche und ungleiche Formen an sich sahen. Er gebot ihnen, Fleischeswerk in Schmutzleibern zu tun.“ – Da die Engel aber nicht zu sündigen verstanden, machte Satan aus seinem Speichel die Schlange, die die Eva verführte, es mit ihr trieb und sie schwängerte. – „Deshalb werden ihre Kinder nicht Söhne Gottes genannt, sondern Söhne des Teufels, ihres Vaters bis zum Ende dieser Welt.“ [xiii] Daß bei derartigen theologischen Abgründen von Seiten der Kirche die Auseinandersetzung mit Katharern und Albigensern ernsthaft geführt werden mußte, ist einigermaßen verständlich. Doch die ungerechte kriegerische Form, in der dieser Konflikt nach der Art eines Vernichtungsfeldzuges ausgetragen wurde, kennzeichnet das wohl schwärzeste Kapitel der Kirchengeschichte.

Esoterische Ansätze seit der Neuzeit

Die Frage wurde oft aufgeworfen, inwieweit die gnostischen Strömungen von Einfluß auf die Entwicklung der abendländischen Esoterik gewesen sind. Im Rahmen der vorliegenden Betrachtung sollte der Hinweis genügen, daß z.B. Agrippa von Nettesheim (1486-1535), Theophrastus Paracelsus (1493-1541) und das geschichtlich nachweisbare Rosenkreuzertum, hervorgetreten in Johann Valentin Andreae (1586-1654), eine unzweideutige Schöpfungspositivität verkörpern, deren Lehre von den Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos auf dem Bekenntnis zur christlichen Trinität und damit zugleich zu Jehova (Jahve) beruht. So schließt das erste rosenkreuzerische Manifest, die Fama Fraternitatis, mit den Worten: „Sub umbra alarum tuarum Jehova. (Unter dem Schatten deiner Flügel, Jehova.)“[xiv] – In der Frage, warum die abendländischen Esoteriker der Neuzeit, anders als die frühchristlichen und mittelalterlichen Gnostiker, zu Jahve ein solches bejahendes Verhältnis entwickeln konnten, ist insbesondere die große Wirkung zu berücksichtigen, die die hebräische Kabbala vor allem des spanischen und südfranzösischen Judentums auf die christliche Spiritualität und Theosophie vom späten Mittelalter an zunehmend ausübte. Die zuletzt genannten Quellen, Paracelsus mit seiner Gabalia und zweifellos Agrippa mit seiner Philosophia occulta, zeigen deutliche Spuren der christlichen Rezeption kabbalistischer Esoterik. Auch Johannes Reuchlin (1455-1522) ist hier zu erwähnen, der große Kenner des Hebräischen und christliche Adept der Kabbala. In diesem Sinne einer christlichen Aneignung der Kabbala heißt es schließlich auch bei den Gold- und Rosenkreuzern des 18. Jahrhunderts, in einem Text unter einem mandalaförmigen Meditationssiegel mit der Inschrift Jod – Jehova – Jesus – Spiritus Sanctus – Maria-Sophia aus dem 2. Heft der Geheimen Figuren der Rosenkreuzer, einem Werk, das – neben der hermetischen Symbolik – vornehmlich der Kabbala einen unverkennbar hohen Rang beimißt:

„Herr, von deiner Hand kommt alles Gute, aller Segen und Benedeiung kommt von deiner Hand herab, du hast mit deinen Fingern den Charakter der Natur geschrieben, niemand kann ihn lesen, er sei denn in deiner Schule gewesen.“ Und etwas weiter: „O großer Gott! O Natur! Du Ichts aus Nichts, was soll ich doch mehr sagen; ich bin Nichts in mir, Ichts in dir, und lebe in deinem Ichts aus Nichts, lebe du doch in mir, und bringe mich aus dem Ichts in dir, Amen.“[xv] – Das kabbalistisch zu lesende Jod der Meditationstafel entspricht dabei der Einheit des dreieinigen Gottes, während Jehova, Jesus und Spiritus Sanctum die drei in ihm wesenden göttlichen Personen bezeichnen.

Demgegenüber mußte die Theosophie des 19. Jahrhunderts, maßgeblich geprägt von den Arbeiten der Helena Petrowna Blavatsky, aus christlicher Sicht als schwerwiegender Rückschritt erscheinen, läßt sie doch die bekannten Muster des gnostischen Verhältnisses zu Jehova (Jahve), dem Gott der Genesis, in aller Form wieder aufleben. Durch die astrologischen Aspekte ihrer Theosophie geleitet, erscheint Jehova bei ihr insbesondere als (inferiorer) Mondgott. Nach den obigen Ausführungen mögen hier einige Textbeispiele genügen: „Aber die Juden, abgesehen davon, daß sie Jehova unmittelbar mit dem Monde als einem Gott der Zeugung in Verbindung brachten, zogen es vor, die höheren Hierarchien zu ignorieren, und haben aus einigen (der) Tierkreisbilder und planetarischen Götter ihre Patriarchen gemacht und so die rein theosophische Idee euhemerisiert und zur Niederung der sündigen Menschheit herabgezogen.“[xvi] Oder sie spricht von den schönen Planetenengeln, die durch ihre Selbstbewunderung in satanischen Stolz verfallen und als Siebenheit zu Samaêl, dem Fürsten der Dämonen, bzw. zu Schemal, dem sabäischen Typus des Samaêl, zusammengefaßt werden. Dann heißt es bei H.P. Blavatsky weiter: „In der esoterischen Theogonie repräsentieren Schemal und Samaêl eine besondere Gottheit. Bei den Kabbalisten sind sie der ‚Geist der Erde‘, der persönliche Gott, welcher dieselbe beherrscht, und daher tatsächlich wesensgleich mit Jehova.“[xvii] Wie in dem Abschnitt über die Bogomilen bereits deutlich wurde, ist in dieser Gedankenwelt zudem auch die Identifikation Samaêls mit Satanael ein stehender Topos. Die Stellen aus den Schriften der H.P. Blavatsky ließen sich beliebig vermehren, dies sei aber anderen Untersuchungen überlassen.

Jahve in der Anthroposophie

Gnosis heißt Erkenntnis, und die spezifisch gnostische Art von Erkenntnis meint zuerst Selbsterkenntnis (wer war ich, was bin ich geworden, wohin bin ich geraten? usw.). Rudolf Steiner, der die Anthroposophie als einen Erkenntnisweg beschreibt, der das Geistige im Menschen zum Geistigen im Weltall führen möchte, sieht sehr wohl und in großer Klarheit die Begrenztheit, der die überlieferte gnostische Erkenntnis gerade da unterliegt, wo es sich um das christliche Mysterium handelt. Er spricht darüber in Anknüpfung an die Lehren des Valentinus, denen wir bereits begegneten, und führt aus: „… und wenn wir bei den Gnostikern anfragen: Haben sie verstanden, was damals in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit geschehen ist? – dann können auch wir auf dem Boden der Anthroposophie uns von den Gnostikern die Antwort nicht geben lassen, denn sie würde uns niemals befriedigen können; sie würde kein Licht bringen können in das, was sich heute der hellseherischen Seele ergibt.“[xviii] Wenn Steiner an anderer Stelle aber (1905 – ein frühes Datum in der Entwicklung der Anthroposophie) davon spricht, daß es in allerältesten Vorzeiten die Intention der Mondengottheit Jahve gewesen sei, die Erde mit schönen, aber vollständig erstarrten Menschenleibern auszustatten, Statuen gleich, Denkmälern seiner eigenen Entwicklung, jedoch ohne Innerlichkeit und Vernunft; und daß diesem „Jahveprinzip“ gegenüber das „Luziferprinzip“ in der Welt einen Ausgleich bewirken solle und dazu da sei, die Erdenmenschheit aus der Tendenz zur Erstarrung zu befreien und sie zur Geistigkeit heraufzuführen, – dann klingt darin deutlich die Art und Weise an, wie H.P. Blavatsky gnostisches Denken aufgegriffen hatte.[xix] Einige Jahre später faßt Steiner dieselbe Problematik, in die nun noch stärker die Frage nach Christus einbezogen wird, wesentlich differenzierter, wenn er über die Behandlung, die Blavatsky dem Jahvebegriff zuteil werden läßt, sagt: „Wir brauchen uns nicht daran zu stoßen, daß sie den Dingen nicht gerecht wird, weil sie eine gewisse Antipathie gegen Christus und Jahve hat; aber das Wahre dringt doch durch, und die Charakteristik des Jahve als einer Mondgottheit und die Darstellung, daß Luzifer sein Gegner ist, bei H.P. Blavatsky, das erweist sich als etwas wie … der gebrochene Ausdruck eines Wahren. Und die Darstellung, die da bei Blavatsky gegeben ist aus der Inspiration, sie erhält nur bei ihr eine subjektive Färbung, weil sie die Empfindung hatte, daß Luzifer eigentlich eine gute Gottheit ist. Sie empfand ihn als eine gute Gottheit. Sie zog ihn in gewisser Beziehung dem Mondgott vor, weil Luzifer für sie ein Sonnengott war.“[xx]

Warum heißt Jahve ein Mondgott? – Im Sinne Steiners liefert die Einsicht, welchen Ort Jahve als geistige Wesenheit innerhalb der neun Chöre der himmlischen Hierarchien einnimmt, den entscheidenden Baustein zu seiner Erkenntnis. Er schildert Jahve als ursprünglich zu den sieben führenden Geistern der Sonne gehörig, einer Gruppe von Wesenheiten, die die hebräische Überlieferung die Elohim nennt und die in der Lehre des Dionysius Areopagita als Wesen der mittleren hierarchischen Trias den Namen Exousiai (Gewalten) führen. Steiner beschreibt sie auch als „Geister der Form“, da sie in seiner Schau maßgeblich bei der Formgebung etwa des (kristallinischen) Mineralreiches mitwirken sowie bei der Schaffung dessen, was man als die Ich-Förmigkeit des Menschen bezeichnen kann. – In der Frühzeit der Erdenentwicklung drohten dem Planeten kosmisch zwei ernste Gefahren: Einmal eine zu große Beschleunigung, Verfeinerung und Auflösung aller Lebensvorgänge, die sich auf ihm abspielten, die Gefahr gleichsam, in zu großer Hitze zu verbrennen. Diese Gefahr wurde dadurch abgewendet, daß sich die Sonnenwesenheiten, unter ihnen die zur geistigen Sonne gehörigen Exousiai oder Elohim, mit der Sonne von der Erde entfernten. Das führte zu einer Verlangsamung des Lebens auf der frühen Erde. Die zweite Gefahr bestand aber darin, daß diese Retardierung nun zu stark würde und zur Vergröberung und Erstarrung allen Lebens führen müßte. Um dies zu vermeiden, zog sich das zuerst noch mit der Erde verbundene Mondenhafte aus dem Planetenkörper zurück und nahm gleichsam die Tendenzen der Erstarrung mit sich. So kam es für die Erde selbst zu einer Art Gleichgewichtszustand. Seitdem erscheinen der Menschheit Sonne und Mond als von der Erde getrennte Himmelskörper.[xxi] Jahve aber, einer der sieben Elohim, hatte sich nicht mit den sechs übrigen Geistern der Sonne entfernt, sondern war wie das Mondenhafte zunächst im Bereich der Erde verblieben. Nun wäre es jedoch zu jener Vergröberung und Erstarrung gekommen. Steiner sagt, im Jahre 1908, dichter und dichter hätte alles werden müssen, und die Menschen wären zu Mumien erstarrt:

„Mumifiziert wären die Menschen geworden, und Sie hätten sehr bald einen Planeten gehabt, auf dem so etwas wie nicht gerade schöne, aber menschenähnliche Mumien, wie Statuen, sich angesammelt hätten. Mumifiziert wäre die Erde geworden.“ Und: „Gerade durch die Regierung des kosmischen Geistes Jahve wurde nun aus dieser Gesamtmasse Erde plus Mond dasjenige abgesondert,  herausgeholt, was Sie jetzt als Mond … am Himmel sehen.“ Jahve also hatte sich mit dem Mond von der Erde „zum Heil der Menschen abgesondert.“[xxii] Hier ist vor allem zu beachten, welche Wendung im Hinblick auf Jahve sich bei Rudolf Steiner vollzogen haben muß, da  Jahve ursprünglich der war, der erstarrte Statuen auf der Erde hatte haben wollen (s.o.), und da er jetzt der ist, der die Menschheit vor diesem Dasein als Mumien bewahrt. Jahve bleibt zwar eine an den Mond gebundene Elohimwesenheit (Mondgott), aber er wirkt nun zum Heil der Menschheit. – Im Rahmen dieser Betrachtung ist die volle Würdigung der Darstellungen Jahves, die Rudolf Steiner gibt, nicht zu leisten.  Etliches muß ausgelassen werden. Denn es geht vielmehr darum, eine Linie anzudeuten, der entlang im Zuge der Entfaltung der Anthroposophie die Bedeutung des Gottes der Genesis stets entschiedener hervortritt und sich das Jahveverständnis von einem gnostischen oder gnostizistischen stets weiter entfernt.

Die Gnostiker hatten zwischen dem ewigen, göttlichen Vater und Jahve-Jaldabaôth streng unterschieden. Und die Charakterisierung Jahves als eines Wesens der mittleren himmlischen Hierarchie, durch Steiner, läßt ihn, im Sinne der Lehre von der heiligen Trinität, immer noch in großer Distanz zum ewigen Vatergott erscheinen. Doch auch diese Distanz sollte sich weiter verringern. – Im Jahre 1922 spricht  Rudolf Steiner in Dornach über das Geheimnis der Trinität und kommt in seiner Betrachtung an den Punkt, wo ein Aspirant der althebräischen Initiation das Erlebnis hat, sich sagen zu können: Der Vater lebt in mir. Die Erklärung aber für dieses Erlebnis würde der althebräische Initiierte, Steiner zufolge, in dieser Weise ausdrücken:

„Die allgemeine Menschheit hat das als ihr Eigentümliches, daß der Vater sie zwar erhält und trägt, daß aber der Vater nicht in das Bewußtsein einzieht und nicht das Bewußtsein zum Ich entfacht. Der Vater gibt dem gewöhnlichen Menschen lediglich den Geist des Atems; er haucht ihm den Atem ein, und der ist die lebendige Seele. Aber es empfand der Initiierte, daß zu dem, was da als lebendige Seele eingehaucht wurde, ein besonderes Geistiges, das lebendige Vaterprinzip des Kosmos, in dem Menschen einzog. Und dann, wenn in diesem alten Initiierten der hebräischen Welt dieses göttliche Vaterprinzip eingezogen war und der Mensch dessen bewußt geworden war, dann sprach dieser Mensch mit vollem Rechte aus, was bei ihm ‚Ich‘ bedeutete: Ich bin der Ich bin.“[xxiii] – In der Genesis führt nun derjenige, der dem Menschen den Lebenshauch (neschamah hachajim) einbläst, den Namen Jahve-Elohim (Gen 2,7), und das Wort von dem Ich-Bin, mit dem Gott, der biblischen Überlieferung zufolge, sich dem Mose im brennenden Dornbusch selbst zu erkennen gibt, wird von Gott (Elohim) selbst ausgesagt, als Mose ihn nach seinem Namen fragt:

„Da sprach Mose zu Gott: ‚Wenn ich zu den Israeliten komme und ihnen sage: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt; und sie mich dann fragen: Wie lautet sein Name?; was soll ich ihnen antworten?‘ da sprach Gott zu Mose: ‚Ich bin der ich-bin! (ehiyeh ascher ehiyeh)‘ Und er fuhr fort: ‚So sollst du zu den Israeliten sprechen: Der Ich-bin hat mich zu euch gesandt.‘ Und weiter sagte Gott zu Mose: ‚So sollst du zu den Israeliten sprechen: Jahve, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Dies ist mein Name für alle übrige Zeit und dies meine Benennung von Geschlecht zu Geschlecht.‘“ (Ex 3,13-15) – Das Vatererlebnis, auf das Rudolf Steiner in Hinblick auf das Ich-Geheimnis hinweist, steht also in einem tief inneren Bezug zu Jahve, Elohim, dem Gott des Mose. Die Frage nach dieser Beziehung, die schwerwiegende Frage also, wie Jahve als einer der Elohim oder Exousiai, die Steiner schildert, mit dem ewigen Vater, der ersten Person der trinitarischen Gottheit in Verbindung steht, bedarf somit der vertieften Meditation.[xxiv] Allerdings bleibt festzuhalten, daß Steiner ein bloßes Bestehen-Wollen und Beharren auf dem Jahveprinzip oder Vaterprinzip, ohne weiterführende Ausrichtung auf das Christusprinzip und das Geistprinzip, immer als eine die Menschheitsentwicklung behindernde Einseitigkeit angesehen und kritisiert hat.

Wir meinen aber, daß in diesem Sinne und entsprechend der oben bereits angedeuteten trinitarischen Grundstruktur der rosenkreuzerischen Esoterik auch Jahve, der Gott der Genesis, mit angesprochen ist, wenn es in den Worten Rudolf Steiners, anläßlich der für die Entwicklung der anthroposophischen Bewegung bedeutsamen „Geistigen Grundsteinlegung des zweiten Goetheanum“, während der Weihnachtstagung 1923/24 heißt: „Denn es waltet der Vater-Geist der Höhen – In den Tiefen Sein-erzeugend: – Ihr Kräfte-Geister, – Lasset aus den Höhen erklingen, – Was in den Tiefen das Echo findet; – Dieses spricht: – Aus dem Göttlichen weset die Menschheit. – Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd: – Menschen mögen es hören.“[xxv]

Klaus J. Bracker

©   NOVALIS 1998

erschienen in „Novalis“ – 7/8.1998

 

Anmerkungen

 [i]   Im Schöpfungsbericht hören wir von Jahve, den Elohim und Jahve-Elohim. Die Bibelwissenschaft unterscheidet in diesem Zusammenhang für das Alte Testament drei Überlieferungsstränge: die jahvistische und die elohistische Überlieferung sowie die sog. priesterschriftliche Überlieferung. Die jahvistische wird dabei im allgemeinen für die älteste Überlieferung gehalten; vgl. Die Bibel – Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, Freiburg i.Br. 1983. Dieser Ausgabe sind auch die meisten verwendeten Bibelzitate entnommen.

[ii]   Zu den kabbalistischen Entsprechungen der zehn wichtigsten hebräischen Gottesnamen (Ehiyeh, JHVH, Elohim, El, Elohim Gibor, Eloha, JHVH-Zebaoth, Elohim-Zebaoth, Schaddai und Adonai) mit den zehn Sephiroth vgl. die tiefgründige Untersuchung Die Verkündigung auf dem Sinai von Valentin Tomberg, in: Lazarus, komm heraus, Basel 1985.

[iii]   Zu der Differenzierung nach Gnosis und Gnostizismus vgl. Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Freiburg i.Br. 1994, Bd. 2, Kap. 227, 228; sowie Gerhard Wehr, Gnosis und Gnostizismus – Wege geistig-religiöser Erkenntnis einst und heute, Freiburg i.Br. 1977.

[iv]   Vgl. auch hierzu den dogmatisch unverdächtigen M. Eliade, ebenda.

[v]   Vgl. Klaus J. Bracker, Manichäismus und Anthroposophie, in NOVALIS 6/1998. Darin ist in kurzer Form der manichäische Mythos wiedergegeben.

[vi]   Vgl. Elaine Pagels, Versuchung durch Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1987, Kap. Gott der Vater – Gott die Mutter‘.

[vii]   Apokalypse des Adam, 81,2-9, nach Werner Foerster (Hg.), Die Gnosis – II, Zürich 1995.

[viii]   Das Wesen der Archonten, 94 u. 95, nach W. Foerster (Hg.), op.cit.

[ix]   Vgl. Rudolf Kutzli, Die Bogumilen – Geschichte, Kunst, Kultur, Stuttgart 1977.

[x]  Vgl. Katja Papasov, Christen oder Ketzer – die Bogomilen, Stuttgart 1983.

[xi]  Vgl. M. Eliade, op.cit., Bd. 3/1 Kap. 293.

[xii]  Zu den Katharern vgl. außer M. Eliade: Arno Borst, Die Katharer, Freiburg i.Br. 1991.

[xiii]  Déodat Roché, Die Katharerbewegung, Stuttgart 1992, S.260.

[xiv]  Jehova = Jahve; vgl. G. Wehr, Die Bruderschaft der Rosenkreuzer – Esoterische Texte, Köln 1987.

[xv]  Geheime Figuren der Rosenkreuzer – Zweites Heft, Altona 1785, S.49. Jod ist in diesem Mandala als der 10. Buchstabe des hebräischen Alphabets dargestellt, und „Herr“ steht hier, wie das hebräische Adonai, für Gott und faßt im christlichen Verständnis die Trinität zusammen, auch wenn das „Ichts“ in der Buchstabensymbolik des I.Ch. (= Jesus Christus) und in seinem Anklang an Gal 2,20 in besonderem Bezug zu deren zweiter Person zu verstehen ist.

[xvi]  H.P. Blavatsky, Die Geheimlehre, Hannover, o.J., Bd.I, S.420.

[xvii]  Ebenda, S.449.

[xviii]  Rudolf Steiner, Christus und die geistige Welt – Von der Suche nach dem heiligen Gral, Dornach 1977, Vortrag 28.12.1913.

[xix]  Vgl. ders., Grundelemente der Esoterik, Dornach 1976, Vortrag 25.10.1905.

[xx]  Ders., Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen, Dornach 1984, Vortrag 14.04.1912. – H.P. Blavatsky behauptet, es sei erwiesen, „daß Satan, oder der rote feurige Drache, der ‚Herr des Phosphorus‘ … und Luzifer, oder der ‚Lichtträger‘, in uns ist: er ist unser Gemüt, unser Versucher und Erlöser, unser intelligenter Befreier und Retter aus der reinen Tierheit. Ohne dieses Prinzip – der Emanation aus der eigentlichen Wesenheit des rein göttlichen Prinzips Mahat (Intelligenz), welche unmittelbar aus dem Göttlichen Gemüte ausstrahlt – würden wir sicherlich nicht besser sein als Tiere.“ – Die Geheimlehre, Bd.II, S.540.

[xxi]  Vgl. R. Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriß, Dornach 1989, Kap. ‚Die Weltentwicklung und der Mensch‘.

[xxii]  Ders., Die Apokalypse des Johannes, Dornach 1985, Vortrag 23.06.1908.

[xxiii]  Ders., Das Geheimnis der Trinität – Der Mensch und sein Verhältnis zur Geistwelt im Wandel der Zeiten, Dornach 1980, Vortrag 30.07.1922.

[xxiv]  Vgl. hierzu den Aufsatz von Michael Frensch, Kosmologische Aspekte des Tetragrammaton, in NOVALIS – 2/3 1994; darin wird das kabbalistische Konzept der vierstufigen Vertikalen des Gottesnamens Jod-He-Waw-He (Jahve) als der Uridee, die der vierstufigen Struktur der geistigen Welt zugrunde liegt, vorgestellt.

[xxv]  R. Steiner, in: Wahrspruchworte, Dornach 1978, ‚Die geistige Grundsteinlegung des zweiten Goetheanum‘; darin werden wie der „Vater-Geist“ auch der „Christus-Wille“ und des „Geistes Weltgedanken“ (also die christliche Trinität insgesamt) angesprochen.

Anselm Spring wurde am 10. März 1943 in Landsberg am Lech geboren. Bekannt wurde er insbesondere als Fotograf, der für alle namhaften Zeitschriften Deutschlands arbeitet. Über 70 Bücher zu den verschiedensten Themen sind von ihm erschienen. Heute widmet er sich dem Gesamtkunstwerk Leben, das für ihn persönlich im Südwesten der USA – in Boulder, Utah – Gestalt annimmt, wo er seit einigen Jahren lebt. Man kann Anselm Spring erreichen unter: email: springhill@cosmicplayer.de bzw. www.cosmicplayer.de

Anselm, Weimar und Landsberg am Lech, diese beiden Städte haben für Dein Leben eine wichtige Rolle gespielt…

Die ersten neun Monate meines Lebens habe ich bis fast auf den letzten Tag in Weimar verbracht. Dann musste meine Mutter, die dort Kunst studierte, nach Landsberg am Lech zurückkehren. Es wurde eine aufregende Eisenbahnfahrt im 2.Weltkrieg. Kaum in Landsberg angekommen, verbrachten wir die Nacht – ich noch verborgen und geborgen im Mutterschoß – im Keller, da die Amerikaner Luftangriffe gegen München flogen. In Landsberg fielen zwar keine Bomben, aber dennoch bebte die Erde. Am nächsten Tag dann endlich erblickte ich das Licht der Welt… fünf Minuten vor Zwölf.

Die Zeit, die ich in Weimar verbrachte, hat ganz sicher meine deutsche Identität mitgeprägt. Warum sollte der genius praenatalis eines Ungeborenen nicht die Gegenwart des genius loci eines Ortes wahrnehmen können. Landsberg, meine Heimatstadt, habe ich so gut und so oft wie nur möglich gemieden, denn in dieser Stadt wurde eine Speerspitze des Bösen geschmiedet, als Hitler dort Mein Kampf niederschrieb. Nicht so Weimar. Die Freundschaft zwischen dem Realisten Goethe und dem Idealisten Schiller gehört zu den Glanzlichtern deutscher „Leitkultur“.

Der vorgeburtliche Weg hat dich also mehr vom Licht in die Dunkelheit geführt. Drückt sich da etwas Archetypisches für dein Leben aus?

Als Fotograf lebe ich von Licht und Schatten. Mein Bewusstsein für das Zusammenspiel der Gegensätze wurde vielleicht durch ein erstes Erlebnis, an das ich mich erinnern kann, ins Leben gerufen: Ich war gerade mal zwei Jahre alt, der Krieg war an seinem Ende. Wir hielten uns im Keller auf, da in Landsberg ein letztes Mal Kriegstätigkeit aufflammte. Die Amerikaner hatten die Stadt bereits besetzt. Mein Großvater ging zur Kellertür, die in den Garten hinausführte. Ich bin ihm, ohne dass er es merkte, gefolgt. Im Kellergang war es stockdunkel. Als er die Tür öffnete, schoss blendende Helligkeit in meine in der Dunkelheit weitgeöffneten Augen. In diese Lichtexplosion stürzte mit vorgehaltener Waffe ein junger GI. Wir erfuhren später, dass dieser kurz zuvor einen jungen, deutschen Soldaten angeschossen hatte, der dann in unseren Garten lief, wo er schließlich von dem Amerikaner erschossen wurde. Der führertreue, kaum 18 Jahre alte Deutsche, in Landsberg an der Warthe geboren, starb in Landsberg am Lech.

In unserem Haus wurden später US-Soldaten einquartiert. Ich wurde schnell Freund mit ihnen, brachten sie doch neben dem Kriegsende die Gaben der Neuen Welt: Musik, Sweets und Schokolade. Ich wurde dick – sie nannten mich Fat Boy.

Ein anderes Lichterlebnis widerfuhr mir in den ersten Wochen meiner Schulzeit, als ich noch begeistert in die Schule ging. Diesmal ging es um mein Augenlicht. Gerade wollte ich mit gepacktem Schulranzen losmarschieren, da konnte ich nicht mehr sehen. Verzweifelt habe ich mich auf die Spielsachenbank in der Essküche gelegt und fing von ganzem Herzen und ganzer Schuljungen-Seele zu beten an: Lieber Vater im Himmel, ich geh’ doch so gerne in die Schule. Ich mache jetzt die Augen zu und wenn ich das Vaterunser gesagt habe, mach’ ich sie beim Amen wieder auf und kann wieder sehen. Vaterunser… Amen. So getan, so gescheh’n. Die Blindheit war weg – ich ging glücklich zur Schule. Doch etwas war anders: Meine schulische Begeisterung war wie weggeblasen und, was ich künftig sowieso mit nur einem Ohr hörte, ging sogleich zum anderen wieder hinaus. Gott sei es gedankt, denn ich blieb weitgehend „unbefleckt“ von weltlichem Wissen.

Sieben Jahre später hatte ich ein weiteres, heißes Erlebnis im Licht einer Adventskerze. Es geschah im schwarzbayrischen Hohenfurch im Pfaffenwinkel bei Schongau. Direkt unterhalb der Kirche in einem kleinen Bauernhof lebten meine beiden Tanten, die Schwestern Rosina und Viktoria. Religion war hier süß: Ostereier zu Ostern, Weihnachtsstollen zur Weihnacht. Rosi und Vicki glaubten, ich wäre zum Pfarrer bestimmt. Plätzchen mampfend, stand ich in der guten Stube vor der moosig-kuscheligen Geburtsstube des Herrn Jesus, dem allerheiligsten Kripperl. Ein wenig blass, bienenwachsgelb wie ein Zuckerkranker lag das Gottessöhnlein da. Plötzlich, obwohl ich nichts gegen ihn und die katholische Tradition der Adventszeit hatte, fuhr eine Art göttlicher Zorn in mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Schau, das Christkindl, nimm’ es und schmilz es…

Ich habe mir unverzüglich aus der Schublade des Wohnzimmertisches den größten Blechlöffel geholt, das wächserne Jesuskind hineingelegt, Löffel und Kindlein über eine Adventskerze gehalten; es war aufregend, das Jesuskindlein in seiner eigenen Substanz versinken zu sehen. Es war ein Skandal. Hinsichtlich der von den Tanten avisierten Pfarrerskarriere hatte ich nun meinen Frieden – einen Frieden, den die Welt nicht kennt.

Von nun an kämpfte ich gegen Religion, zunächst nur im Religionsunterricht gegen meine Religionslehrer, die mir dafür stets eine Eins gegeben haben. Die handelten echt christlich… Im Alter von sechzehn Jahren sagte ich mich innerlich von der katholischen Kirche los. Die Oberrealschule in Landsberg verließ ich ein Jahr vor dem Abitur. Da ich ein wenig Englisch konnte, lockte mich die Bundeswehr mit dem Versprechen, als Dolmetscher für zwei Jahre in die USA gehen zu können. Dem konnte ich nicht widerstehen, obwohl ich Musiker und Maler werden wollte. Der Ruf ins „Gelobte Land“ war dann doch stärker. Amerika war es letztlich, das mich zur Fotografie verführt hat. Sie hatte ich wegen der mit ihr verbundenen Technologie als künstlerisches Medium bis dahin vehement abgelehnt.

Was hat dich an der Technik erst gestört und dann doch so betört, dass du zu einem bekannten Fotografen geworden bist?

Das ist im Nachhinein schwer zu sagen. Vielleicht war es eine mir angeborene Scheu vor einer technisierten Welt. Vielleicht war ich auch nur zu faul, fotografieren zu erlernen. Ich weiß es nicht mehr. Allzustark war die Ablehnung wohl nicht und sie wurde völlig weggewischt, als ich in El Paso Suzanne kennenlernte. Ein kaum sechzehnjähriges Mäd­chen, blond mit blauen Augen und irrsinnig fotogen. Sie wurde später tatsächlich Miss American Photomodel. Fast jedes Bild, das ich von ihr machte, gelang. Fun, Fun, Fun… Fotografieren machte Spaß. Ich fuhr damals einen offenen, weißen Alfa Romeo Spider, Susan in den Ledersitzen, das Red Rooster – Drive in, Hamburger, Coke und Camel. Jesus! Das war eine unschuldige, wunderbare Zeit in Gods Own Country. Völlig überraschend veröffentlichte die damals größte amerikanische Fotozeitschrift Popular Photography eine kleine Geschichte über mich. Ich hatte nämlich die paar Erinnerungsbilder, die ich in der Zeit von El Paso geknipst hatte, über Kerzenlicht angeschmort und die Emulsion mit der Nagelschere zerkratzt. Meine so zerstörte Lichtbilderwelt gefiel mir; ich ließ die malträtierten Dias kopieren und schickte sie los. Mit Erfolg. Die Redakteure der Neuen Welt verhießen mir – typisch amerikanisch – eine großartige Karriere. Meine Welt war heil – and I was the greatest.

Bist du diesem Ruf gefolgt?

Ich habe jedenfalls nichts dagegen unternommen. Die Verheißung einer Karriere hat sich erfüllt, aber dennoch hat mich das zwiespältige Verhältnis zur Fotografie bis auf den heutigen Tag begleitet.

Wie so oft im Leben, sind es gerade die Dinge, die man nicht tun will, die sich als besonders segensreich erweisen. Ich muss gestehen, dass mir die Fotografie viel gegeben hat. Die ständige Auseinandersetzung mit der Bilderwelt hat letztlich auch mein Weltbild geprägt. Heute, da die digitale Welt des Lichtbildes unaufhörlich perfekte Visionen für den Marktplatz der materiellen Illusionen zeugt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bild unerlässlich.

Du hast beim Fotografieren tiefgehende Augenblicke erfahren?

Klar. Aber eben nur Augenblicke von ein paar bis zu 1/8ooostel Sekunde.

Wie kommst du zum echten, wahren fotografischen Bild?

Vorbereitet sein, wach sein für den Augenblick, in dem die äußere und innere Wirklichkeit, das Subjektive und Objektive, zusammenfallen. Das ist allerdings ein wesentlich komplexerer Vorgang, als es sich so einfach dahersagen lässt.

Wenn es soweit ist, woran merkst du das?

Begeisterung, ein fast unwiderstehlicher Drang, etwas fast Ekstatisches – ausgelöst durch den fotografischen Instinkt. Nichts kann einen dann bremsen, um das Bild zu machen. Du kommst da schnell zu jenem point of no return, der einen jenseits von Gut und Böse führt, wo es keine sittlichen, moralischen, physischen oder sonstigen Einschränkungen gibt. Wenngleich das „Machen“ eines Bildes völlig frei zu sein scheint, so unterliegt dessen Verwendung und vor allen Dingen die Vermarktung eindeutigen sittlichen und rechtlichen Grenzen.

Wenn du eine Landschaft, ein Tier, einen Menschen oder was auch immer fotografierst, hat man das Gefühl, dass es dir immer wieder gelingt, den Augenblick zu treffen, wo sich deren Wesen am eindrücklichsten zeigt.

Das hängt eigentlich alleine von dem Licht ab, in dem man ein Motiv sieht. Licht auch im übertragenen Sinne. Natürlich auch vom Standpunkt, vom Blickwinkel und vom richtigen Augenblick einer Handlung. All die fotografischen Elemente müssen zum Besten zusammenspielen.

Der richtige Augenblick hat keine Zeit. Er ist nur die Wahrnehmung gegenwärtiger Ewigkeit – natürlich als raum- und zeitbedingte Erfahrung. Ewigkeit und Zeitlichkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Als Menschen erleben wir diesen ambivalenten Zustand des Seins getrennt. Wenn man diese Trennung überwindet, dann, so glaube ich, kann man das wahre Wesen einer Sache oder eines Sachverhalts wahrnehmen. Auch fotografisch. Wenn das, was ich sehe, identisch ist mit dem, was ich denke, und das, was ich denke frei von den Unschärfen menschlicher Wahrnehmung, dann ist das fotografische (Sinn-)Bild „wahr“ – auch wenn es einen Grünstich hat, denn der trägt dann letztlich nur zur Bildaussage bei.

Bilder, die aus dem „allgegenwärtigen Augenblick“ geboren werden, und damit etwas Ewiges, Archetypisches und wahrhaft Sinnbildliches offenbaren, sind allerdings sehr selten.

Und du spürst: Jetzt muss ich auf den Auslöser drücken?

Ja. Da passiert viel unterbewusst, aus dem Bauch heraus, intuitiv, getrieben vom fotografischen Instinkt und der Lust am Zusammenspiel von Objektivitität und subjektiver Wahrnehmung. Je länger ich mich im Medium Fotografie bewege, desto mehr fasziniert mich die Wirklichkeit der Dinge. Es ist fast unglaublich, wie reich die Realität an Wundern und dramatischen Zuspitzungen ist. Das muss man einfach zulassen, ohne manipulieren zu wollen. Die Wahrheit der Fotografie ist die unverstellte Schau der Wirklichkeit. Die Transformation der vielschichtigen Realität in ein zweidimensionales Bild ist keine Manipulation, sondern Kunst.

Akzeptanz des Wirklichen – was heißt das für dich?

Dinge so zu sehen, wie sie sind. Ohne konditionierte Sehweise, ohne Vorurteil und Erwartungen; das ist schon so etwas wie Meditation. Man könnte es auch Zen nennen. Für mich ist es pure sinnliche Wahrnehmung. Man ist offen und leer, um erfüllt zu werden. Diese Offenheit und Leere jedoch bedeutet nicht, dass man nicht wachsam und vorbereitet wäre. Es ist Handeln durch Nichthandeln – auch wenn dies ein wenig abgedroschen klingt…

Wie bereitest du dich vor?

Gar nicht. Ich lass’ mich spontan begeistern, kann mich allerdings auch konzentrieren, wenn es darauf ankommt. Dann wird alles eins: die Kamera, das Auge, das Motiv. Fotografieren habe ich nie erlernt. Von Rechts wegen darf ich mich auch gar nicht Fotograf nennen, obwohl ich als solcher anerkannt bin.

Keinerlei klassische, meditative Hilfen und Krücken?

Eigentlich nicht. Man kann zwar vieles lernen, sich disziplinieren und dadurch Großartiges vollbringen, aber ich möchte, christliches Gedankengut zitierend, einwenden, dass ohne Liebe alles nichts ist. Indes, wenn man diese Liebe erfährt, einem alles hinzugegeben wird. All you need is love… Wer liebt, kann sich ganz hingeben. Mit der Liebe kommt eine spielerische Sorglosigkeit, die einem hilft, das eigene Wesen und Talent völlig entfalten zu können.

Welche Rolle spielt Christus in deinem Leben und deiner Arbeit?

Grundsätzlich: Der traditionelle Christus spielt für mich nur als anstößiges Objekt eine Rolle. Er ist all das, was der Mensch nicht ist, aber sein möchte, und wird somit zur ultima ratio menschlicher Versuchung. Versprechen wie Welterlösung und einem darauf folgenden Leben im himmlischen Paradies gehören zu den Klassikern dieser Versuchung. Satan hebe dich von mir! Bullshit! Als historisch fast unbeschriebenes Blatt wurde er die ideale Projektionsfläche menschlicher Ideale und Utopien, die letztlich in Allmacht, Allwissen und Allgegenwart gipfeln. Da ein Christus, möglicherweise identisch mit einem Bodhisattva, über die Vielfalt des Wissens verfügt, mutierte der Kirchen-Christus in einer Metamorphose zum modernen Übermenschen. Die religiösen Dogmen, die seiner Verpuppung dienten, verstellen uns als leere, erstarrte Chitin-Panzer den Weg zum wahren und lebendigen Christus, in dem Ideal und Realität zusammenwirken. Der pure Idealist taugt ebensowenig wie der einhundertprozentige Realist. Der eine wird zum hoffnungslosen Träumer und Schwärmer, der andere zum Rationalisten und Utilitaristen. In meinem Christus-Bild verbindet sich der homo faber mit dem homo ludens zum cosmic player.

Und was macht der?

In meiner Welt tritt er an gegen den global player. Zurück zu Christus: Ein Mensch, der die Christusidee nicht verwerfen will, aber nicht an Jesus Christus als den alleinseligmachenden Vollstrecker seines Heils glauben kann, sollte sich nach vorne retten: Er muss selbst ein Christus sein wollen. Selbst ist der Mann, die Frau. Selbst ist der Christus. Die Erlösung aus der Knechtschaft durch Fremdbestimmung findet ein Mensch allein durch sein wahres Wesen, sein Selbst, das auf Selbsterkenntnis, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung und Selbstachtung baut. Natürlich braucht er dabei Hilfe, ebenso wie ein Kind Hilfe braucht, wenn es das Gehen erlernt. Diese Hilfestellung aber hat nichts mit Globalerlösung durch einen Weltenheiland zu tun. Ich jedenfalls möchte nicht der Knecht eines Herrn Jesus Christus sein.

Der Begriff christlich ist nebulöses Niemandsland, in dessen Dunstkreis sich viele am Wesen Christi vergreifen. Ein wahrhaft (christlicher) Mensch ist für mich nicht jemand, der eine christliche Religion im Sinne bestehender Kirchen und Traditionen bekennt, sondern ein Mensch, der sich wider den Willen und die Versuchungen der Welt zu sich selbst, zu seinen Wurzeln und zu seiner ganz persönlichen Bestimmung bekennt. Er begreift sich als Teil des Ganzen und weiß, dass er diese Identität nur in der Gemeinschaft mit dem Ganzen ausleben kann. Individualität und Gemeinschaft schließen sich nicht aus. Ich habe als Persönlichkeit eine ganz konkrete Aufgabe an einem ganz bestimmten Platz auf unserer Erde und in unserer Gesellschaft. Diesem Ruf will ich folgen und lasse ihn mir nicht streitig machen. Mehr als das kann ich nicht tun, mehr kann ich nicht sein. Christus ist Lebendiger unter Lebenden; seine Liebe zum Leben umarmt alles Leben und bewahrt so dessen Würde. Einer, der von sich sagt, „Ich bin das Leben“ wird die Vielfalt des Lebens in Natur und Kultur achten und diese nicht bedrohen. Er weiß um seine Abhängigkeit vom „Rest der Welt“, wird aber versuchen, nicht zu Lasten oder auf Kosten anderer zu leben. Er wird, so gut er kann, nicht das Leben anderer nehmen, um sein Leben zu erhalten. Er wird insofern auch keinen Fresskrieg gegen die Tierwelt führen.

Ihm wird zum einen die eigene individuelle Entfaltung am Herzen liegen – zum anderen aber wird er eben dies all seinen Mitgeschöpfen zubilligen und sie darin fördern. Insofern dürfte sich die heutige Gesellschaft nicht christlich nennen, denn ihr Ziel ist weder die Entfaltung des individuellen, schöpferischen Menschen noch der Erhalt globaler Lebensbedingungen, sondern die Sicherung persönlicher oder nationaler Interessen, wirtschaftlicher, politischer und religiöser Machtpfründe.

Du gehst ja ganz schön ran. Warum?

Warum nicht? Ich habe erfahren, was es bedeutet, sich selbst sein zu können. Und das Gegenteil. Das möchte ich mitteilen. I want to share it with you – Ich möchte es mit dir teilen. Insbesondere meine authentischen Erfahrungen. Das was ich auf meiner Suche nach dem Christus wirklich erlebt habe – als sinnlich-sinnvolle Wahrnehmung.

Diese Suche wurde mir zunächst durch meine Mitgliedschaft in der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (Mormonen) erschwert, denn die Zugehörigkeit zu einer institutionalisierten Religion widerspricht meinem Wesen ganz und gar. Irgendetwas und irgendwer trieb mich in der wilden Zeit als Mode- und Werbefotograf mit Blitz und Donner in die Arme dieser Kirche. Ich habe mich gefügt. Widerwillig. Die Mitgliedschaft in dieser amerikanischten aller amerikanischen Kirchen erwies sich in vielen Dingen als gut, ja fast lebensrettend, auch wenn sie mich in vielen Punkten frustrierte.

Warum?

Ich war auf dem Weg in eine gedopte High­speed-Gesellschaft. Sie hätte mich krankgemacht oder umgebracht. Die „Heiligen der Letzten Tage“ haben mit dem „Wort der Weisheit“ vernünftige Gesundheitsrichtlinien, die durch und durch der Lehre Buddhas entsprechen. Frustriert haben mich allerdings die religiös-dogmatischen Inhalte der unheimlichen patriarchalischen Art. Ich suchte den wahren und lebendigen Christus, nicht die amerikanische fastfood-Variante: Im Besuchszentrum der Kirche in Salt Lake City steht ein sündhaft teurer Marmor-Mormonenheiland. Auf Knopfdruck legt er vielsprachig Zeugnis von sich selbst ab.

Aber gerade dieser oberflächliche Hang und Drang der Amerikaner zu einer banalen Wirklichkeit hat mich inspiriert, „es“ wissen zu wollen. Ein Auftrag, in Israel zu fotografieren, führte zu einer denkwürdigen und erleuchtenden Begegnung mit dem Gesuchten.

Kannst du das schildern?

In den ersten Tagen dieser Fotoreise wurde meine Hoffnung Licht(-bilder) in Sachen Christi zu entdecken, enttäuscht. Daraufhin habe ich an Orten, die in meiner Vorstellung den Charakter Israels zur Zeit Jesu bewahrt hatten, ein sogenanntes mindgame begonnen, was sich am besten mit „Gedankenspielereien“ übersetzen lässt. Daraus entwickelte sich ein fiktiver Dialog, der sich allerdings nach ein paar Tagen zu verselbständigen schien, und in dessen Lauf mein imaginierter Dialogpartner plötzlich Dinge sagte, die mir unbekannt waren. Dazu kamen ein paar kleine prophetische Hinweise „seinerseits“, die meinerseits auch in meiner fotografischen Realität wahrnehmbar waren. Eine davon erfüllte sich als lebensgefährliche Erfahrung am Nordtor im alten Jerusalem. Das will ich aber jetzt nicht erzählen.

So geführt, bin ich bis zum See Genezareth gekommen. Es war ein wunderbarer Spätnachmittag voll goldenen, schweren Lichts, das im See zu versinken schien. Ich saß am Ufer, hinter mir die Golanhöhen, schließlich bin ich in den dort sehr seichten See gewatet. Meine Füße versanken in feuchtem, fruchtbaren Schlamm, ich war umspült von fühlbarem Licht und der Wärme des weichen Wassers. Ich war eins mit allem – ein wunderbares, alle Sinne ansprechendes, erotisches und unaussprechbares Erlebnis. Und doch war es nur das Vorspiel…

Wieder am Ufer sitzend, überfiel mich ein fast furchterregendes Gefühl, dass ich „es“ jetzt erleben würde. Ich nahm eine Stimme wahr – nicht nur mit den Ohren, sondern mit jeder Zelle meines Körpers: „Willst du wirklich wissen, wer ich bin?“

Die allesdurchdringende Gegenwart dieser Frage und die Gewissheit einer Antwort haben mich in einer ungewöhnlichen Weise sensibilisiert und wachgerüttelt. Werde ich ihn sehen, dem Auferstandenen begegnen, wird es pures Wissen durch Erkenntnis sein? – All diese Möglichkeiten rasten in Bruchteilen von Sekunden durch meinen Kopf und ergriffen auch mein Herz. Konnte ich es denn wissen, wollte ich es wirklich wissen? Ich war in meinem Leben oft mit Visionen, Halluzinationen, Bewusstseinssprüngen aller Art und Aha-Erlebnissen konfrontiert, die sich dann immer wieder als anzweifelbar erwiesen. Sie lösten sich auf wie die brennende Kerze des Descartes, die zugleich da war und vor seinen Augen verschwand. Ich wollte die Gegenwart des Nichts überwinden, das mit steter Veränderung den nach absoluten Erklärungen suchenden Menschen verunsichert. Die Frage durchdrang ein zweitesmal mein Gedankenchaos. Und dann ein drittes Mal. Nun setzte sich der eigentliche Sinn meiner Reise durch: Ich will … ich will nicht, doch ich will … ich wollte es schon immer….

Was geschah dann?

Meine Liebe zur Wahrheit war stärker als meine Angst davor. Da kam auch schon das Wort. Klar und deutlich habe ich es empfangen, unmissverständlich und sehr einfach: „Wenn Du wissen willst, wer ich bin, dann musst du werden, wie ich bin.“

Sonst nichts! Kein Lichtblitz, nicht einmal der Schimmer eines göttlichen Antlitzes – nur die Bedingung des Wissens. Du musst werden, wie ich bin? Auf dem Weg zurück nach Jerusalem begann mich diese Frage zu quälen. Sein, wie er ist? Ein „einziggezeugter Sohn Gottes“, der „von der Jungfrau Empfangene“ oder „Eingeborene“ oder gar ein „Christus“, ein „Messias“ oder „Gesalbter“? Unbegreifliche Begriffe, die eine Identifikation mit diesem höchsten Wesen unmöglich machten.

Damals erwies sich der katholische Christus, der mormonische, der Christus der Baptisten, der Mann im Grabtuch von Turin, der essenische, der indische, meiner, deiner… als tatsächliches Hindernis. Heute bin ich davon überzeugt, dass Jeschu, der Gesalbte, zunächst als ganz normaler Sterblicher gezeugt und geboren wurde, so wie auch Buddha. Ich nenne dies die erste Zeugung. Jesus wurde erniedrigt unter die Niedrigsten, er war ein Armer unter Ärmsten, er kannte Krankheiten und Schwäche. War sogar als Leprakranker verachtet – so wie es im 53. Kapitel des Jesaja beschrieben steht. Durch eine zweite Zeugung und Geburt nicht nach dem Willen des Mannes, ist es ihm gelungen, sich zu heilen. Trotzdem ist es ihm gelungen, sich zu heilen und zu seiner vollen Größe heranzuwachsen. So wurde er erhöht über die Höchsten. Er wurde zum mächtigsten Herrscher unter den Herrschenden, nicht aber als Herr der Welt, sondern weil er, ohne Wunsch über andere herrschen zu wollen, über sich selbst herrschte. So war er frei. Er wurde der Reichste unter den Reichen: Da er nichts besitzen wollte, nahm er (An-)teil an allem – auch an der Lust und Freude am Leben. Seine Geschichte findet ihren trivialen Nachhall im amerikanischen Traum vom Tellerwäscher, der ein Millionär wird. Sharing and caring, natürlich. Christi Schicksal und sein Werdegang war so angelegt, dass niemand, sei er auch noch so schwach, sagen könnte: Was der vollbracht hat, kann ich nicht nachvollziehen.: Was Jesus, möglicherweise von den anderen Helden und Erleuchteten jungfräulicher Geburt unterschied, war sein Weg, den nicht einer, sondern so viele, als da selbstbestimmt und freien Willens wollten, gehen konnten. Der Weg, durch ihn offenbart, wurde wieder versperrt – meist durch die Stellvertreter Christi und deren Beamten. Dem Bemühen, zu werden, wie er ist, stand auch unüberwindbar Christi Gebot „Werdet vollkommen, wie ich vollkommen bin“ entgegen. Stammt es wirklich von einem Erleuchteten oder einem zynischen Menschenverachter? Neue Fragen türmten sich vor mir auf wie schroffe Berge. Werde ich sie versetzen können?

Irgendwann einmal hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass wahrhaftiges, letztes Wissen oder die „Macht zu Sein“ weder durch kontemplative Betrachtung, noch durch Nachdenken und auch nicht durch naturwissenschaftliche Betrachtung manifest würde, sondern allein in der Identität mit dem Gegenstand des zu Erkennenden. Deshalb musste ich den Kern des Christuswesens bei mir selbst suchen oder aber mein Ego aufgeben. Gab es einen Kompromiss, eine Synthese, die aus der dualen Falle führen könnte? „Ich selbst bin es, den du suchst,“ sagte ich zu mir, „Nicht den Jesus der Kirchen.“ Der schmale und gefährliche Weg war wieder offen.

Welche Erfahrungen hast du auf diesem Weg gemacht?

Mein erster Schritt zu einem praktischen Verständnis von Christus lag in dem Bemühen, seinen Namen zu verstehen – wobei mir der Sinn wichtiger ist, als sprachwissenschaftliche Korrektheit und Buchstabentreue.

Jesus oder Jeschu, das ist allgemein bekannt, bedeutet „In Jahve ist das Heil“, indes Jahve eine Art tautologischer Umschreibung des absoluten Seins sein könnte: Ich bin, der ich bin oder ich kann sein, der ich sein kann oder ich werde sein, was immer ich sein werde…

Im Vordergrund steht in jedem Fall das absolute ICH BIN, repräsentiert durch das wahre Selbst dessen, was da war, ist und sein wird. Sozusagen das zeitlose Urbild des Wesentlichen. Es könnte durchaus der Genius eines Menschen sein. Unser göttlicher Anteil am Ganzen. Wer immer, gegen den Willen und die Versuchungen der Welt, die uns allerlei Ersatz-Identitäten anbietet, dieses „wahre Selbst“ als Werdekraft oder vitales Prinzip zulässt, bzw. wirken lässt, findet darin sein Heil und seine Erlösung. Alle aber, so die Verheißung, die diesen Namen, dieses Kreuz des wahren Selbst, auf sich nehmen, werden von Gott gezeugt und aus ihm geboren. Das ist die Salbung zum Christus oder Messias. Sumerisch-ägyptische Traditionen weisen auf einen „Mit dem Samen Gottes Gesalbten“ hin. Die Zeugung eines aus Gott geborenen, neuen Menschen lässt sich mit den Inhalten des Buches Das Geheimnis der goldenen Lotusblüte von Richard Wilhelm und C.G. Jung verbinden. Tibetisch-tantrische oder taoistische Elemente scheinen durch, geht es doch da um die Zeugung des Allbuddha oder der, wie ich meine, Christusnatur. Letztlich erkenne ich moderne Paralellen: Genforschung und -technik befassen sich mit dem Designer-Menschen, dem Mensch im Bilde des Menschen.

Du meinst, wir tragen eine Art Sehnsucht in uns, uns selbst nach dem Bild, das wir von uns selbst haben, zu formen?

Ja. Mit der Beantwortung von Fragen wie Wer-bin-ich?, Wo-komme-ich-her? versuchen wir uns erste Vorstellungen von uns selbst zu machen. Irgendwann taucht die Frage Was-möcht-ich-gerne-sein? auf, und damit kommen Selbstverwirklichungsstrategien auf den Tisch. Auf der Suche nach Selbstvergewisserung ist mir klar geworden, dass der einzig feste Grund, auf den ich Selbsterkenntnis bauen könnte, nur das von allen materiellen und persönlichen Umständen befreite Ich Bin oder Seinsbewusstsein sein konnte.

Nichtwissend, was ich bin, lebe ich aus der Gewissheit, dass ich bin. Diese Abstraktion erleichtert es mir, Illusionen über mich oder fremde Bilder von mir (und anderen) zu überwinden.

Die Kraft des „Dass“ erfahre ich seit meinem Rendevous mit dem Grabtuch in Turin (zur Zeit der Flutkatastrophe in diesem Jahr) in besonderer Weise. Es gibt nach dem jüngsten Stand der Sindone-Forschung heute kaum mehr Zweifel, dass der Abdruck des Mannes im Grabtuch von Jesus stammt. Wenn dies wahr ist, dann beweist diese Tatsache jedoch nicht, dass er der Christus der Kirchen ist, bzw. was ein Christus ist. Selbst wenn der Abdruck durch Hitze oder Strahlung, die manche als Beweis für die Auferstehung werten möchten, entstanden ist, dann beweist dies noch längst nicht, dass er der alleinerlösende Christus war. Das Tuch beweist nur, dass es einen Mann namens Jeschu gab, der möglicherweise erleuchtet und in gewisser Weise auch des Lebens mächtig war – ob als Guru, Yogi, Magier oder Zauberer, darüber sagt es nicht viel. Diese Frage muss anders beantwortet werden – am glaubwürdigsten von einem, der selbst ein Christus oder wenigstens wie Christus ist.

Die Gewissheit, dass es einen historischen Jeschu gab, sollte allerdings hinreichend motivieren, herausfinden zu wollen, welche Rolle er in unserer eigenen Menschwerdung spielt. Um diese Frage schlüssig zu beantworten, brauche ich nicht das Bild des Gekreuzigten, weder aus dem Grabtuch, noch als Vision, denn nicht einmal ein authentisches Foto von der Kreuzigung oder Grablegung würde irgendetwas beweisen.

Du als Fotograf sagst dies?

Ja, gerade deswegen. Ich habe Erfahrung mit der Bedeutung von Bildern. Sie können wohl etwas bewirken, aber in letzter Konsequenz nichts beweisen. Beweise sind allein die Früchte des Lebens – im Zusammenhang mit einem Christus ist es der Weg und die Fülle des eigenen Lebens.

In letzter Zeit zieht es mich immer öfter und länger auf meinen Berg in Boulder, Utah. Als ich dieses Jahr im Frühling dort war, hatte ich das Gefühl, ich sollte einmal auf Distanz zu allen meinen Projekten als Autor, als Fotograf, als Musiker und sonst was gehen, um Klarheit darüber zu gewinnen, was ich eigentlich will und wofür ich eigentlich stehe. Um allzuviel Denken oder gar Grübeln zu vermeiden, habe ich mich mit Alltagsarbeiten beschäftigt: Aufräumen, Saubermachen, mit unseren Hühnern, mit Unkraut usw. … nur nicht mit spirituellen Dingen oder gar einem visionquest. Ich habe Erdbeeren, Knoblauch, Tomaten, Rosmarien, Salbei und andere Kräuter gepflanzt. Bei diesen sehr einfachen Tätigkeiten, die in einem Haus, auf einer Farm und in einem Garten anfallen, ist mir aufgefallen, dass ich mit allem, was ich tue, mich selbst (auf)baue oder (zer)störe. Der Körper ist in der Tat das Haus oder der Tempel meines „wahren Selbst“ – nach dem Grundsatz „was aussen ist, das ist auch innen, was innen ist, das ist außen“, wäre bei einer bestimmten Seins-Qualität Geist und Körper identisch. Ein solcher Mensch könnte tatsächlich von sich selbst sagen: „Wer mich sieht, der sieht MICH“. Ich habe nicht nur einen Körper, sondern ich bin auch Körper. Vom Haben also zum Sein…

Die Tempel Gottes sind stets mit den besten, verfügbaren Materialien erbaut worden. Jesus hat seinen Körper mit dem Tempel ver­glichen. Die besten Materialien zum Bau dieses Hauses sind: gute, vollwertige Ernährung, saubere Luft, klares Wasser, keine Rauschmittel, Schlaf und gute (Wach-)Träume, Bewegung und Entspannung, keinen Turbo-Stress, keinen Hader, keinen Streit und keinen Neid, um Vergiftung durch körpereigene Chemie und Hormone zu vermeiden, und vieles mehr… es gibt dahingehend hinlänglich buddhistische, yogische, christliche, schulmedizinische und andere Ratschläge.

Der nächste Schritt lässt sich für mich am besten aus einem Grundgedanken des Dzog-chen entwickeln: Alles, was ist, hat als Grundbedingung seines Seins die ihm innewohnende Erleuchtung, der man sich nur hingeben kann. Jede Vorstellung davon verfälscht dieses „Licht“. Für mich bedeutet dies, dass alles, was ich sein kann, bereits in mir angelegt ist. Es muss nur erkannt werden, um es zu entfalten. Diese Erkenntnis ist nicht „menschgemacht“; nur durch Ablegen der eigenen Vorstellungen davon, seien sie rational, akademisch oder sonstwas – eben das, was wir für richtig und wichtig halten – wird sie uns zugänglich. Dieses Ablegen der Kleider und Schleier unseres menschlich unzulänglichen Wissens ist ein spiritueller Striptease, vor dem sich die meisten Menschen, insbesondere die Klugen und Gelehrten scheuen. In dem Maße wie wir uns entblößen, entblößt sich die Wahrheit. Bis sie nackt vor uns steht. Totally nude – wie man in Las Vegas sagt.

Der letzte Schritt ist die Vereinigung mit dem Erkannten. Mystiker würden sofort an die heilige Hochzeit denken. Andere nur an Inspiration. Es geht um die harmonische Einheit aller „Teile“, wodurch wir zu einem ganzen Menschen werden. Reduziert auf die Einheit von Geist und Körper, des Inneren und des Äußeren, drängen sich mir wieder Formulierungen , wie „von Gott gezeugt“ und „aus Gott geboren“, auf. Dies ist ein schöpferischer Akt – ähnlich der Zeugung eines Kindes..

Kannst du diesen Akt beschreiben?

Über diesen schöpferischen Vorgang des Hervorbringens des Seins gibt es eine Menge Vermutungen, ganze Epen und Kosmologien. Man hat da die Qual der Wahl. In all diesen Erklärungsversuchen ist ein wahrer Kern, bzw. etwas Wahres enthalten. Diese Fragmente oder Splitter des zerbrochenen Spiegels der Erkenntnis herauszusuchen und zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen, wäre eine Herausforderung an  unser Informationszeitalter. Ganzheitliches Denken und der intertaktive Austausch zwischen Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Forschung und…und… sollten uns befähigen, Klarheit und Licht, also auch Erleuchtung  in dieses Bild zu bringen. Für den Mensch ist dies des Menschen Aufgabe. Er muss sich letztlich Antworten auf die Frage seines Überlebens und dem Sinn seines Lebens geben. Wenn man in der völligen Entfaltung des ihm innewohnenden Potentials den höchsten Sinn des Lebens sieht, so sieht sich der Christ, gefangen im christlichen Dogma, mit einem himmlischen Vater konfrontiert, der seinen Einziggezeugten oder Eingeborenen durch Zeugung mit einer Jungfrau in die Welt schickt und der ihm in Allem gleich sein wird ode r wie Jesus sagt: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“

Diesen Mythos kennen wir hinlänglich aus den verschiedensten Kulturen. Buddha, Krishna, Christus, Hermes, Dionysos und viele andere wurden als von einem göttlichen Vater gezeugt und einer Jungfrau geboren, betrachtet. Wie aber lässt sich das nun für einen auf die Nachfolge Christi bedachten Menschen nachvollziehen? Im Gesamtkunstwerk Leben ist es für mich bedeutsam, dass biologische Vorgänge in einer harmonischen Beziehung zu theologischen oder mythologischen Erklärungen stehen, ohne dabei Verrenkungen machen zu müssen. Ich habe für mich, von allen Lehren und in erster Linie von christlicher Tradition und Lehre abweichend, eine Schau entwickelt, die mir im Sinne eines harmonischen Weltbildes gefällt, auch wenn sie noch nicht ganz schlüssig ist:

Die ungeformte, unpersönliche, abstrakte und zeitlose Idee bedingt, so wie Materie Antimaterie bedingt, eine persönliche, konkrete, aber vergängliche Gestalt. Diese ambivalente Natur des Seins, in der das erschaffende Prinzip identisch ist mit dem Erschaffenen, ist auch der ewige Urgrund allen Seins.Ich behaupte nun einfach, Gott sei die eine Seite, nämlich das wahre, lichte aber unpersönliche Wesen, die andere Seite wäre dann die verdichtete, das möchte ich ohne Bewertung verstehen, „dunkle“, persönliche Manifestation. Die Zeugung wäre dann ein Akt der Selbstzeugung griechisch Autopeiose. Naturwissenschaftler erkennen in der kosmischen Schöpfung durch und durch autopeiotische Vorgänge. Eng verbunden damit sehe ich die Parthenogenese, in der natürlichen Schöpfung bekannt als ungeschlechtliche Fortpflanzung oder Jungfernzeugung. Also: Parthenogenese und Autopeiose. Jungfern- und Selbstzeugung. Blicken wir auf Buddha:

Maya, der Titel der Jungfrau Kali als Schöpferin irdischer Erscheinungen, das heißt aller Dinge, die aus Materie gemacht und für die Sinne wahrnehmbar sind. Sie brachte auch den Erleuchteten, Buddha, zur Welt. [Zitiert aus dem Buch Das geheime Wissen der Frauen von Barbara Walker, dtv.]

Und du glaubst, dass Buddha hier auf eine Selbstzeugung anspielt?

Ja. Sich selbst zeugend, formt sich das Eine, nämlich das wahre Selbst, aus sich selbst, nämlich der Einheit von Geist und Materie, durch sich selbst, nämlich durch seine vergängliche, illusionäre Erscheinung der Jungfrau Maya/Maria,  zu seinem eigenen Bild. Dies ist der Körper (des Menschen), der im idealen Falle völlig dem zeugenden Prinzip, also dem Samen entspricht. Die Frucht wäre, weil es um die Zeugung eines innewohnenden, also eingeborenen Potentials geht, der Eingeborene und weil dies ein einzigartiger, einmaliger Akt ist, auch der Einziggezeugte. Das ist die zweite Geburt, von der ich schon einmal gesprochen habe.

Sollte nun tatsächlich ein Mensch, z.B. Buddha, Zarathustra oder Jesus und in deren Nachfolge vielleicht sogar „viele“, in der Lage sein, sich auf dem Lager der Heiligen Hochzeit selbst zu zeugen und zu gebären, dann dürfte man in der Tat sagen, dass das Ideal, das erleuchtete Urbild, gleichzusetzen mit dem logos,  zum Bräutigam wird, dessen Wort sein genetisches oder Erbe (Testament) oder sein zeugendes Sperma (aus den Testikeln) ist.  Dieser Same wird empfangen von der jungfräulichen Braut (Maya oder Maria) oder dem eigenen Fleisch. Der Körper als Braut empfängt dieses genetische Erbe, in seine Zellen, dem weiblichen Ei.

Jungfräulich oder unbefleckt muss die „Braut“ deshalb sein, da andernfalls ihr Wesen ( = ihr Erbe, ihre Gene oder der weibliche Same) durch Einflüsse aus dem weltlichen Umfeld belastet sein könnte. In anderen, bibelnäheren Worten könnte man auch sagen, sie, also die fleischliche Natur des Menschen, hätte sich durch Anbetung und Hingabe an fremde, wesensuneigene Götter befleckt. Siehe das Goldene Kalb! Deshalb, so verstehe ich es heute, habe ich das Christkindl durch Schmelzen von seinen weltlichen „Befleckungen“, sprich Interpretationen und miss­bräuchlicben Vergewaltigungen, gereinigt und in den körperlosen, flüssigen (Samen-)Zustand zurückgeführt.

Wenn dir in Amerika jemand sagen will, dass er sich von dir manipuliert oder zu stark beeinflusst fühlt dann kriegst du oft ein unwirsches, ablehnendes don’t fuck me: Fuck yourself! Oft, so meine Erfahrung,  ist der größte Segen im schlimmsten Fluch enthalten

O Gott, wer soll das verstehen … ich möchte damit ja nur sagen, dass die Erkenntnis oder Verkörperung des eigenen, wahren Selbst meist durch aufgezwungene oder verführerische Ersatz-Identitäten verstellt ist. In diesem Fall kann ein  Mensch nie  ganz sich selbst oder – so meine ich – Chris­tus sein.

Wer aber hat schon den Mut, gegen die Widerstände und Versuchungen der Welt sich selbst sein zu wollen? Sind sie es vielleicht die, die reinen Herzens sind – geläutert im Feuer der Liebe zu sich selbst und ihren Nächsten, die sie für das lieben, was sie sind? Könnte es nicht sein, dass sie deswegen das Angesicht Gottes, nämlich ihr wahres Selbst oder Urbild, schauen?

In angepassteren, modernen Worten könnte das so klingen: Diese vom Gehirn wahrnehmbare und in einem blueprint  oder eine software transformierbare, virtuelle Schau des eigenen Ideals könnte, z.B. mit Hilfe von Biophotonen, den genetischen Code korrigieren oder neu programmieren. Über längst erprobte Methoden der natürlichen Schöpfung, z.B. durch Botenstoffe oder körpereigene Viren würde dieses neue Wort (DNA) oder Erbe auf die Zellen des Körpers übertragen, die diesen dann erneuern und heilen – ja vielleicht sogar zum Bilde des Genius individualis, also der göttlichen Identität des menschlichen Individuums, neuzugestlaten.

Wird es ein Patent auf dieses neuen „Design“ geben? Vielleicht als scherzhafte Einlassung.

Braucht es nicht, weil es ein einmaliger, nicht reproduzierbarer Vorgang ist. Fremde Gene wären bei diesem Erneuerungs- und Entfaltungsprozess unerwünscht, denn es geht ja ausschließlich um einen selbst. Käme also nur ein parthenogenetischer Akt in Frage. Natürliche Klonierung, z.B. bei Kröten, bietet Ansatzpunkte zur biotechnischen Lösung menschlicher Selbstzeugung. Wir wissen zum Beispiel, dass Eidechsen und  Regenwürmer bei Bedarf ganze Körperteile nachwachsen lassen und verändern können. Eine bestimmte Spezies von Barschen z.B. beherrscht Geschlechtsumwandlungen. So gibt es hinreichend Hinweise aus der Natur, die Aufschluss geben über die technische Machbarkeit des Ansinnens „sich selbst aus sich selbst zu zeugen, bzw. neu zu gestalten“.

Mutation als natürlich-biologische Technik das Genom zu verändern, wäre ebenfalls ein Weg, doch sie benötigt zu große zeitliche Räume. Da sich aber die Zeit immer mehr beschleunigt und damit auch die Verfügbarkeit von Wissen und Erfahrungen, könnte ich mir vorstellen, dass der Mensch es lernt, kraft seines Geistes biologische Prozesse zu beherrschen, die dann auf natürliche Weise ermöglichen, was sonst artifiziell mit Hilfe der Gentechnik; kosmetischer Chirurgie, Rassenzüchtung und viel Geld unternommen wird.

Die Geschichte der Menschheit ist voll von Versuchen, sich selbst zu heilen, zu erneuern und zur Fülle zu entfalten. Alles was denkbar ist, ist letztlich auch machbar – all you can dream, you can do.  Oft braucht der Mensch nur die Gewissheit, dass etwas möglich ist, um es dann durch Glauben in die Tat umsetzen zu können. Diese Tat bedarf einer Autorisation, weil eben ein Autor zugange ist, als auch der Legitimation, denn sie ist wie alles Schöpferische auf Gesetze bedingt.

Die materialistische Welt glaubt, dass bereits die Verfügbarkeit von Wissen und Mitteln, also die Machbarkeit, eine hinreichende ethische Grundlage und Legitimation darstellt.

Ist es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet Bill Clinton zum Abschluss der Kartierung des menschlichen Genoms gesagt hat, dass wir nun gelernt haben, die Sprache Gottes zu verstehen. Nachdem viele Menschen glauben, dass die Welt durch das Wort Gottes erschaffen wurde, kann man sich die Tragweite eines solchen Statements aus dem Mund des mächtigsten Präsidenten der Welt vorstellen. Jetzt, da wir wie die Götter werden, dürfen wir auch mit dem Leben spielen!

„Wisst ihr nicht, dass ihr Götter seid“ Jeschu haut in die gleiche Kerbe. Natürlich sind wir es! Aber gerade deshalb brauchen wir im Umgang mit den Mächten und Geheimnissen des Lebens eine entsprechende Ethik, die sich allein in der Liebe zum Leben erfüllt. Bioethik wäre zwar das richtige Wort, aber die damit verbundenen Inhalte stimmen nicht. Nur Friedliebende schaffen echten Frieden, nur Heilige bringen das Heil zustande. Wenn andere dies versuchen, dann…… ein Blick in die jüngste, deutsche Vergangenheit sollte uns darüber belehren, wie gefährlich es ist, den Übermenschen und eine neue Weltordnung zu erschaffen.  Es wäre allerdings kurzsichtig und dumm, nach dieser Katastrophe nun das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Deutschen gingen einen Irrweg, bestimmt von Hass, Ignoranz, Arroganz und Gier. Das Dritte Reich gibt es zwar nicht mehr, doch Hass, Ignoranz, Intoleranz und Gier regieren nach wie vor die Welt.

Und: Die Wurzeln des Menschen Sehnsucht nach Heil (und dessen Sieg) sind bei aller Zufälligkeit der Schöpfung tief in ihm als teleologischer, also zielgerichteter Sinn verankert. Diese Wurzeln lassen sich nur mit dem Menschen selbst beseitigen. Die Überwindung von Unwissen, Gier und Hass jedoch ist möglich. Durch die Verwirklichung der eigenen Buddha-, oder um den Kreis zu schließen, Christusnatur.

Wie passt das alles in unsere Welt?

Gut. Sehr gut sogar. Für mich ist die Verwirklichung solcher, sagen wir einmal Spekulationen oder Träume, nur im Rahmen des Gesamtkunstwerkes Leben möglich, das die Vielfalt der Kunst, Wissenschaft, Religion, Philosophie und und und….auch der Politik ganzheitlich, nicht zentralistisch, zusammenfasst. Es ist interessant, dass gerade die deutsche Verfassung der Kunst, der Wissenschaft und der Forschung unglaubliche Freiräume einräumt, die aber durch einen nach wie vor eingeschränkten Kunstbebegriff gar nicht genutzt werden. Wenn es stimmt, dass die Wahrheit frei macht und wir tatsächlich eine freiheitliche Ordnung repräsentieren, dann brauchen wir auch konkrete Freiräume, in denen sich Wahrheit verwirklichen kann.

Ich würde gerne einmal mit einem Verfassungsrechtler Artikel 5 unseres Grundgesetzes ausloten, der nicht nur besagt, dass Kunst, Forschung, Wissenschaft und Lehre frei sind, sondern überdies eröffnet, dass nur die Lehre nicht  von der Treue zur Verfassung entbunden ist. Logisch und konsequent fortgedacht, kann dies nur bedeuten, dass die Kunst, Wissenschaft und Forschung von der Treue zur Verfassung entbunden sind! Ist dies eine Verbeugung vor den Narren und Göttern der Kunst, der Wissenschaft und Forschung? Müsste nicht ein Staat wie unserer Freiräume für das Gesamtkunstwerk Leben zur Verfügung stellen und schützen, sozusagen Überlebensnischen oder Friedensübungsplätze oder meinetwegen auch Biotope, in denen sich ungestört der schöpferische Genius des Menschen und letztlich auch „Christus“ entfalten kann?

Joseph Beuys, Charles William Morris und viele andere waren davon überzeugt, dass sich die Würde des Menschen erst in der Entfaltung seiner schöpferischen Natur erfüllt. Wenn dies wirklich so ist, dann gibt uns unser Grundgesetz auch ein Rechtsmittel in die Hand: Zum Schutz der Menschenwürde binden die Grundrechte (Art. 1, Abs. 3) Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Einem Menschen, der im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (Präambel des GG) christliche und menschliche Ideale zur Grundlage seiner Kultur macht, sollte dieses unmittelbare, als nicht verhandelbare und gegenwärtige Recht, ganz sich selbst sein zu wollen, nicht verwehrt werden. dürfen. Eine Gesellschaft wie unsere, wäre sie ihren Grundwerten treu, müsste ihn sogar fördern. Das setzt allerdings eine Ethik vom Allerfeinsten und -höchsten voraus.

Jetzt wird es spannend. Was ist denn dieser hohe ethische Maßstab?

Vor einigen Jahren habe ich mich mit dem Finanzamt angelegt, weil ich mehr Mitbestimmungsrecht bei der Verwendung meiner Steuergelder erstreiten wollte. Diese Auseinandersetzung eskalierte zu einer Unabhängikeitserklärung meinerseits zu einem Freikörper im Sinne eines Freistaates (…ein freier Geist in einem freien Körper). Ich habe zwar nichts bewirkt, aber doch einige wertvolle Erfahrungen im Hinblick auf das sittliche Verhalten unserer Gesellschaft gemacht. Zwei Dinge muss der Mensch als Staatsbürger und – Diener lernen: Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig  und  Der Mensch ist nicht um des Gesetzes willen erschaffen, sondern das Gesetz um des Menschen willen. Darüberhinaus muss er akzeptieren, dass Gut und Böse keine absoluten Werte darstellen.

Freiheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Gleichheit und Einheit sind keine schwärmerischen Utopien, sondern Verfassungsgüter. All dies, auch Würde und Friede, wird wahr und lebendig durch die Liebe. Liebe ist alles, sie macht unmöglich Erscheinendes möglich, selbst wenn es noch so verrückt wäre – verrückt nach den Maßstäben unserer Gesellschaft, meine ich.

Gesprächspartner war Michael Frensch

Roland Marthaler

„Es lebte um die Mitte der 30er Jahre in einem Dorfe des bernischen Emmentales ein Mann voll des Zorns und des Mitleids über die Menschen um ihn her – voll des Zorns über ihren Unverstand und des Mitleids über ihr Elend. Ein gewaltiger Drang war in ihm, seine Klage über die Menschheit laut auszurufen, damit ihr geholfen werde – aber nicht nur von der Kanzel der Dorfkirche herunter, wo er Pfarrer war, sondern so, dass die Welt es hören konnte. Und er setzte sich hin und schrieb ein Buch über die Verkehrtheit und die Not der Leute auf dem Lande und nannte sein Buch den Bauernspiegel – den Verfasser nannte er als einen Klagenden Jeremias, als einen Helfenden Gotthelf. Und als das Buch erschien, schüttelten die Leute den Kopf, denn es war nicht geschrieben wie andere Bücher, nicht glatt und ge-leckt, sondern eckig und zuweilen ungehobelt; aber die Feder die es geschrieben, war in Wahrheit getaucht.“

Soweit das Zitat eines unbekannten Zeitgenossen des Albert Bitzius, der unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf als 40jähriger seinen ersten Roman verfasste und bis zu seinem frühen Tod, 17 Jahre später, jene in Wahrheit getauchte Feder nie mehr aus der Hand legte. Eine erste 24bändige Gesamtausgabe erschien 1858 bei Julius Springer in Berlin. Thomas Mann schreibt : „So las ich Jeremias Gotthelf, dessen Schwarze Spinne ich bewundere wie kaum ein zweites Stück Weltliteratur.“ Der englische Germanist H. M. Waidson nennt ihn einen tieferen Dichter als Charles Dickens. Er wird mit Tolstoi und Balzac gleichgestellt und von Heinrich Riehl (einem Zeitgenossen des J.G)  als Dorfpfarrer im Kanton Bern gar wie ein Shakespeare geehrt. Carl Jakob Burckhardt schreibt 1922 an Hugo von Hoffmansthal: „Ich lese wieder Gotthelf, in dieser elementaren Natur, in welcher das geistige Wunder bisweilen in so unheimlicher Weise flackert, entsteht auch ein äusserstes an männlicher Bewährung. Am schönsten ist es aber, wenn auf kurze Augenblicke bei ihm das Licht ganz still wird, man tut ein Fenster auf in der Nacht, kein Luftzug zieht vorüber, aber man weiss: es ist etwas ungeheures geschehen“.(1) Die Sekundärliteratur füllt Bibliotheken, denn wie jeder wahrhaft große Dichter und Künder befruchtet Gotthelf alle Gebiete und Schichten menschlichen Lebens. Man sieht, bewundert oder lästert über den Politiker, Pädagogen, Soziologen, Theologen, Psychologen … und man übersieht den inspirierten Geist, dessen Romankulissen lediglich vergängliche, zeitgeschichtliche Hüllen sind, Gleichnisse, hinter denen sich eine zeitlose Botschaft verbirgt und offenbart. „Beim sichtbaren Zeichen bleiben wir stehen; es ist uns alles in allem. Bei ihm steht unser Verstand still, wie ein Ochs am Berg, – das Unsichtbare im Zeichen, der Gedanke, findet kein Auge in uns … Gott ruft uns, die Welt lockt uns. Das Rufen und das Locken voneinander zu unterscheiden, keins mit dem andern zu verwechseln, wie schwer ist das und wie leicht nehmen es die Leute.“(2)

Des Dichters bürgerlicher Name, sein Pseudonym und ein paar Titel seiner Romane und Geschichten im Gedächtnis zu haben, mag immer noch ein Glanzlicht literarischer Allgemeinbildung sein, für den aber, der nicht eingedrungen ist in die geistige Botschaft ihres Schöpfers ist solche Kenntnis bedeutungslos. Wohl selten hat die Popularität eines Dichters so sehr zur Verkennung seines Werkes beigetragen wie dies bei Jeremias Gotthelf der Fall ist. Die Bekanntheit der Romanverfilmungen (1954-64) und die volkstümlichen Hörspielbearbeitungen haben ein zahlreiches Publikum dazu verleitet, im Bilderreich des dramatischen Geschehens das inspirierte Zeugnis ihres Schöpfers zu überhören.

Das Werk des J .G. gehört zu jenen Perlen, von denen Nicolaus Cusanus in Anlehnung an die Sprichwörter Salomos sagt: „Die Weisheit schreit auf den Gassen.“ Wem sich das innere Ohr – proportional zur Verminderung des Eigenwahnes – öffnet, wer viel Lärm um nichts durchschaut und fähig wird, der inneren Stille das Wort zu schenken, der findet in Jeremias Gotthelf einen geistigen Bruder.

Geboren am 4. Oktober 1797 in Murten (CH) studiert er später Theologie in Bern. 1821 reist er für ein Jahr an die Universität in Göttingen und bereist Norddeutschland. Ein Kommilitone schreibt über ihn: „Er mied Kneipen, war bereits verbi domini magister, lebte zurückgezogen, hörte Plank, Heeren, Blumenbach und wurde als noble Natur geliebt und geachtet.“ 1822 kehrt er nach Hause zurück, wird Vikar seines Vaters in Utzensdorf, später in Herzogenbuchsee und an der Heilig Geist Kirche in Bern, bevor er 1832 für die letzten 22 Jahre seines Lebens die Pfarrstelle in Lützelflüh übernahm. Er heiratete die Enkelin seines Amtsvorfahr und dieser – wie alle zeitgenössischen Zeugnisse einstimmig aussagen – glücklichen Ehe entstammen ein Sohn und zwei Töchter.  Schon in den Predigten des 27jährigen Vikars ist die Klarheit und Kompromisslosigkeit eines Geistes spürbar, dessen Quelle jenseits weltlicher Interessen und zeitgeschichtlicher Tendenzen liegt. In einem Visitationsbericht lesen wir: „Es giltet nicht die Entsumpfung des Seelandes aber die Entsumpfung der Seelen des Emmentales … äussere Zucht und Ordnung dürfen daher nie die Hauptsache sein in der Erziehung … wer aber traf und zündet das Göttliche (das Geistige), dem sprudelt nun aus reiner Quelle das innere Leben zu schönen Gestaltungen, der hat im Herzen selbst entbunden den Quell zu allem Schönen und Guten, dem verderbt die Welt seine Kinder nimmer … Es muss die Liebe angezündet werden in ihnen, es muss die Begeisterung ihre Bilder türmen in den durch die Liebe entflammten Seelen.“(3)

1837 beginnt für den nunmehr 40jährigen die Ausgießung seines gewaltigen, dichterischen Werkes, das bei seinem Tod, am 22. Oktober 1854, 13 Romane, 50 große und 25 kleinere Erzählungen, sowie 18 Ergänzungsbände – das ist ein Werk von 42 Bänden – 3 umfasst.

Über den Beginn dieser herkulischen Arbeit schreibt J.G. an seinen Vetter Carl Bitzius: „Begreife nun, dass ein wildes Leben in mir wogte von dem niemand Ahnung hatte … dieses Leben musste sich entweder aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise. Es tat es in mir in Schrift. Und dass es nun ein förmliches Losbrechen einer lange verhaltenen Kraft, ich möchte sagen der Ausbruch eines Bergsees ist …“ Und im Vorwort seines Erstlingswerkes, Der Bauernspiegel, dessen begeisternde Kraft und geistige Tiefe durch alle andern Werke bestehen bleibt, spricht er seine Leser folgendermaßen an: „Grüß Gott liebe Leute und zürnet nüt! Eine Gabe bringe ich Euch dar, nehmt sie an, wie sie gegeben ist, treuherzig. Ein Spiegel ist’s, doch nicht ein gemeiner, in dem jeder ein schönes Gesicht zu sehen glaubt, weil er das eigene erblickt. Mein Spiegel zeigt Euch die Schatt- und nicht die Sonnseite Eures Lebens, zeigt also, was man gewöhnlich nicht sieht, nicht sehen will. Er zeigt Euch dieses nicht zum Spott, sondern zur Weisheit!“ Aber noch tiefere Schicht seines dichterischen Auftrages bezeugt er im Vorwort der Erzählung Wassernot im Emmental: „… aber noch weilt bei vielen der Glaube … Gott rede nur in seinem geschriebenen Worte zu uns. Für seine Stimme die tagtäglich durch die Welten (beachte die Mehrzahl!) zu uns spricht, haben diese keine Ohren; dass Gott zu seinen Kindern rede im Sonnenschein und Sturm, dass er im sichtbaren darstelle das Unsichtbare, dass die ganze Natur eine Gleichnisrede sei, die der Christ zu deuten habe, täte jedem Not zu erkennen … wer zu deuten weiß, was der Herr uns schickt, verliert nimmer das Vertrauen, und alle Dinge müssen zur Seligkeit ihm dienen. Fände dieser Wahrheit Trost ein Unglücklicher, würde sie den rechten Weg einem Irrenden erleuchten … zur Anschauung des Unsichtbaren einen Menschen führen, dessen fünf Sinne seine einzige Wahrnehmungsquelle waren (beachte die Vergangenheitsform!) dann hätte der Verfasser seinen Zweck erreicht.“

J.G. hat nicht Bücher geschrieben mit dem Anspruch, neues zu berichten. Er verwaltet urältestes Wissen im vergänglichen Kleid zeiträumlicher Verfügbarkeit. Er belehrt nicht so, wie man es als fleissige Schüler wünschen möchte. Keine Lehrschriften, keine methodischen Unterweisungen. Vielmehr deutet er des Lebens Lehren. Er führt seine Leser mit prosaischen Bildern durch alltägliches Leben, nimmt ihn gleichsam bei der Hand, öffnet verschlossene Tore und lässt ihn entdecken eine innere Welt. Der Leser lässt sich mittragen vom Strom der Ereignisse, in dem er seine eigene äussere Welt erkennt, und so verbindet er sich mit den auftretenden Menschen, freut sich und leidet mit ihnen und unmerklich löst er sich von der ihn geleitenden Hand, um selber mit verlebendigter Phantasie in der Geschichte vorwärts zu schreiten. Gotthelf lässt den Leser zum Teilnehmer und Mitgestalter werden, um dann in oft unerwarteten Momenten vorzustoßen, oder besser: durchzustoßen in höhere Verstandes- und Erkenntnisschichten. Hierbei wechselt er die Ebene und hebt des Lesers Bewusstsein auf eine neue geistige Stufe. Die bloße Lektüre wandelt sich zu einer mentalen Herausforderung, einer Belehrung, der Leser wird zum Betroffenen. Solcherart öffnet unser großer Dichter das Buch der Weisheit und gewährt Einblicke in die Schwingungen der himmlischen Welten.(4)

Durch das Empfinden und die Gewissheit tieferer Zusammenhänge und höherer Einsichten will er den suchenden Menschen zu neuer Sicht verhelfen, so wie er selbst erfahren hat: „… mein Auge hatte wieder die Kraft, die nicht nur sieht, sondern wahrnimmt und heller und bestimmter flogen die Gedanken durch die Seele.“(5)

Die Überwindung des alten Adam und das Schaffen der Voraussetzungen zur Geburt des neuen Menschen sind seine hauptsächlichen Anliegen. Durch sein Werk ermöglicht er Zugang zu jenen Weisheitslehren, die zwar offen zu Tage liegen, aber unverstanden von blinden Augen und tauben Ohren verschmäht, verlacht und verachtet werden. Was das Welttheater präsentiert, transmutiert er in Belehrung. Hier tönt der Weckruf seines Schaffens, hier liegt der Sinn seiner Mühen und nicht in der schriftstellerischen Dramatisierung verwickelter Lebensumstände. Die Zeitgeschichte dient ihm als Drehbuch seiner Botschaft. Er beschreibt die Schalen, um sie hernach aufzubrechen und  den verborgenen Kern freizulegen.

Damit deutet er das stille Geheimnis, dass die Welt selbst die Schlüssel zu ihrer Überwindung hütet. Wer solches zu erkennen such, hat sich abgekehrt vom zentrifugalen Menschsein, von Aberglauben, Unfrieden, Kleinlichkeit, von Missgunst, Verspannung und Angst.

„Zum König der Erde hat Gott den Menschen gesetzt. Zum Sklaven des Irdischen wird der Mensch und weiss es nicht und träumt es nicht, bis er erliegt des selbstgewählten Tyrannen erbarmungsloser Tyrannei.“(6)

Unermüdlich sucht Gotthelf dem Göttlichen im Menschen das Wort zu reden, auf dass der Mensch erkenne, was die Dinge im Innersten zusammenhält. In dem Maße, wie sich die Wahrheit in des Menschen Brust offenbart, wird es hell in ihm. Klarheit folgt der Betrübnis, und wie Schuppen fällt es von des blinden Augen und „… er sieht wie Gott den Menschen ziehen will nach oben, der Mensch dagegen Gott niederkämpfen will in den Staub. Er fühlt den Kampf in der eigenen Seele.“(7)

Aus innerer Erfahrung keltert sich die unbestechliche Gradlinigkeit unseres Dichters. Er hat erkannt, dass das Sicht- und Greifbare nicht der Weisheit letzter Schluss sein könne, dass andere, lichtere Räume unsere Welt durchdringen.

„… aber wie Ketten und Bande war es von mir gefallen, die Gebundenheit in die Schranken der Sinne war gelöst die Schranken welche dem inneren Auge gesetzt sind im Raume, sah ich gefallen oder in unendliche Ferne gerückt. Um mich sah ich Welten rollen, und wie man von einem Haus ins andere sieht, sah ich von einer Welt in die andere, sah ich tausend Welten auf einmal.“(8)

So ist ihm auch die irdische Raumzeitlichkeit Teil eines größeren Ganzen. „Der Mensch redet vom Leben diesseits, vom Leben jenseits, vom irdischen und vom ewigen Leben, von Zeit und Ewigkeit, als ob Zeit und Ewigkeit geschieden wären voneinander ganz und gar, als ob sie verschieden wären in ihrem Wesen durch und durch. Und was ist die Zeit anderes als die ewige Sonne Gottes, die ihren Strahl sendet über alle Welten ihres Herrn? Den Strahl, der über unsere Erde streift, können wir messen, wie wir die Tage zählen können, in welchen unser diesseitiges Leben sich bewegt,- und dieses diesseitige Leben ist nichts anderes als ein kurzer Aufenthalt auf der Insel, die wir Erde nennen, und diese Erde ist nichts anderes als eine kleine Insel in dem ungeheuren Ozean, in welchem die Welten Gottes schwimmen.“(9)

So kann er denn getrost auf seinen Grabstein schreiben: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod wo ist dein Stachel? Grab wo ist dein Sieg?“ 1. Cor XV 55

Der Kampf des Menschen mit sich selbst findet in der Überwindung der Welt seinen vorläufigen Abschluss. Wer in seinem Herzen ruht, dem zerschellen die Wellen einer rastlosen, unersättlichen Welt an der Klippe eines klaren, unterscheidenden Willens. „Recht ist recht und schlecht ist schlecht, und da hat niemand zu befehlen als mein Gewissen und Gott“(10) Das ist die hohe Vernunft, der lebendige Geist in eines jeden Menschen Brust. Hier ist der Kristallisationspunkt aller Erziehung. Hier wird Erkenntnis zur Einsicht und Hoffnung zur Gewissheit. Das Licht der Wahrheit geht auf, der Eigensinn erstirbt. Wer diesen Pfad beschreitet nennt J. G. den besten Mann, den aristos. Von ihm sagt er „… er hätte den Himmel gewonnen und ins eigene Herz gezogen, dass die Welt nicht Platz hätte darin, dass man sie hat als hätte man sie nicht, sie genießt als genösse man sie nicht, übrig haben davon und Mangel leiden kann daran und beides unbeschwert.“(11) Wer hört hier nicht die süßen Klänge der Bhagavad Gita: „Gleich achtend Glück und Ungemach, Gewinn Verlust, Sieg, Tod… Gleich achtend Glück und Ungemach, gleich achtend Erdkloß, Stein und Gold; Was lieb und unlieb, festen Sinns gleich achtend Tadel wie auch Lob; In Ehren wie in Schanden gleich, zu Freunden und zu Feinden gleich.“(12)

Diese hohe Ethik entspringt einem Geist dem Stoff und Geist wieder eins geworden sind. Im Vergänglichen offenbart sich ihm das Ewige. Hören wir das mystische Zeugnis eines wortgewaltigen Dichter-Lehrers, dessen Blick die Welt durchdrungen, erkannt und vielleicht überwunden hat: „Eine verschlossene Tür sprang auf, eine wunderbare Kraft, keinem der fünf Sinne vergleichbar, die ich denn doch das verschlossene Auge des Geistes im Leibe nennen möchte, ward ihrer Fesseln entbunden, von ihren Hüllen befreit. Licht war es um mich, in einem Lichtermeer schwamm ich, Lichtwellen wiegten mich sanft und ein unnennbares Wohlsein durchströmte mich.“(13)

Beim Lesen der Werke des Jeremias Gotthelf wird man entweder ein besserer Mensch, oder – man legt die Bücher weg.

Über das Grab hinaus geleitet seine Belehrung den Leser. Er kündet ihm, dass die Menschen Geister sind, denen der Tod ein Wechsel der Form bedeuten wird. Ihre Erscheinung drüben, so schreibt er, „… wird abhängen von den Zügen der Seele, die auf der Erden sich ausgeprägt.“(14)

Albert Bitzius ist tot, es lebe Jeremias Gotthelf, denn er wirkt jenseits des Todes in der Gegenwart.

Treten wir zum Schluss noch einmal ans Grab des vor 150 Jahren verstorbenen Albert Bitzius – Zeugnis einer verwesenden Hülle, eines hohen Geistes und einer unsterblichen Seele – und vernehmen wir seine letzte Botschaft :

Wer wahrhaftig ist, der sagt frei was recht ist,

Und ein wahrhaftiger Mensch bestehet ewiglich.

(Sprüche XII 17,19)

Roland Marthaler

Nichts findet sich auf Erden, das nicht der Menschen Elend oder die Barmherzigkeit Gottes, das nicht der Menschen Unvermögen ohne Gott oder aber des Menschen Größe mit Gott offenbart. (Blaise Pascal)

I

Im Frankreich des ausgehenden neunzehnten und des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts lebte in bürgerlichem Wohlstand und gesellschaftlicher Bescheidenheit ein Mann, dessen Geistesgröße Welten durchdrang, dessen Taten dem Wunderbaren entsprangen und dessen Kräfte aus Quellen gespeist wurden, deren Unerklärlichkeit Widerstand und Unruhe bei den einen, Dankbarkeit aber und Glauben bei den anderen hervorrief. Abgesehen von einigen Auftritten an den Fürstenhöfen Europas, Russ­lands und Nordafrikas und einem mysteriösen Erscheinen in Amerika, vollzog sich sein irdisches Dasein zur Hauptsache in und um die Stadt Lyon.

Der französische Okkultismus stand in später Blüte. Eliphas Lévy hatte zwar diese Welt verlassen, doch Stanislas da Guaita und Gérard Encausse (Papus), Paul Sédir, René Guénon, René Schwaller de Lubicz u. a. m. waren noch am Leben, schrieben Bücher, gründeten Zeitschriften, experimentierten, waren Mitglieder und Mitgestalter von Geheimgesellschaften, disputierten, waren suchende Schüler an einem Orte, bevor sie Meister wurden, um anderswo wiederum Schüler zu werden …

Ohne Aufhebens zieht derweil in stiller Tätigkeit Anthelme Nizier Philippe seines Weges. Er heilt Kranke, auferweckt Tote, unterstützt Bedürftige und lehrt die Botschaft des Evangeliums. Die Menschen, die ihn kennen und lieben, nennen ihn den Vater der Armen. Alle, die ihn aufsuchen und in engere Beziehung mit ihm treten, nennen ihn Monsieur Philippe. Allein für seine wenigen Schüler ist er der Meister, Maître Philippe. Er selbst bezeichnet sich als Hund des Hirten. In die seltsam verborgene Geschichte der Esoterik ist er als Maître Philippe de Lyon eingegangen, als einer jener Unbekannten Meis­ter und Gesandten aus geistigen Sphären.

Sein Einfluss durchlichtete die düsteren Kammern der Ärms­ten der Armen ebenso wie die geheimen Kabinette des Hochadels. Dem Bettler war er ein Bruder, gleich wie er es dem Zaren war. Was wir heute noch von ihm wissen, verdanken wir den Aufzeichnungen seiner Familie, seiner Schüler, Freunde, Patienten und Gegner. Er selbst hat, von ein paar Briefen abgesehen, keine Dokumente hinterlassen. Es ist uns keine Gewissheit erlaubt, kein wissenschaftliches Ja zu seinem Wirken – aber auch kein Nein. Ein paar Gerichtsurteile und Polizeiberichte, biographische Daten, einige Niederschriften seiner Gespräche und Belehrungen und ein paar Dutzend Beschreibungen von Heilungen und außergewöhnlichen Vorkommnissen – immerhin: die Geschichten sind schriftlich bezeugt, sind his­torisch belegt. Die Heilungen fanden vor Zeugen statt, und die überlieferten Worte richteten sich größtenteils an eine Vielzahl von Zuhörern. Die Aufzeichnungen, die wir besitzen, sind uns von jenen Menschen geschenkt, die im Umkreis von Maître Philippe lebten und in irgendeiner Weise mit ihm verbunden waren. Durch die Kraft ihrer Feder tragen sie sein Licht und sein Geheimnis hinaus in die Welt. Mit Recht schreibt Edouard Bertholet:

Dankbarkeit gebührt all jenen Menschen, die es möglich machten, dass so viele wertvolle Worte mit heiligem Eifer gesammelt wurden. Auf jeden Fall kann man bestätigen, dass die Worte von Maître Philippe in ihrer Wesenhaftigkeit bewahrt worden sind.

Dennoch steht die in den Herzen unzähliger Menschen eindrucksvoll leuchtende Spur des Maître Philippe in seltsamem Gegensatz zur Spärlichkeit seiner Spuren in der Welt. Aber eben: Der Weltenrausch hat kein Zuhause im Reich des Geis­tes, der Weltenlärm dringt dort nicht ein, wo Schweigen Hören ist.

Zum Geburtstag des Meisters am 5. April 1905 stellte Claude Laurent-Bouthier eine Anzahl der damals verfügbaren Dokumente zu einer Gedenkschrift zusammen. Darin führt er unter anderem aus:

Als sicherste Zeugnisse muss man wohl diejenigen seiner engsten Angehörigen betrachten, allen voran jene seiner Tochter Victoire, gewisslich jene seines Bruders Hugues Philippe ‘Monsieur Auguste’, dann die des mystischen Schriftstellers Paul Sédir und jene von Auguste Jacquot, Jean Bap­tiste Ravier und Claude Laurent [er selbst].

Der Vollständigkeit halber seien hier als sichere Gewährsleute noch erwähnt: Papus, Marc Haven, der Schwiegersohn von Maître Philippe, und schließlich und vor allem sein innigster Schüler und vom Meister selbst designierter Nachfolger Jean Chapas. Von ihm sagte der Meister einmal zu Sédir:

Ich habe Chapas gleichviel gegeben wie euch allen, er aber, er ist demütig.

Es ist hier wohl angebracht, kurz jener Menschen zu gedenken, denen wird die Zeugnisse und Publikationen verdanken auf die wir uns im Folgenden beziehen werden. Man wird dabei unschwer feststellen, dass es sich dabei keineswegs um weltfremde Träumer und esoterische Schwärmer handelt, sondern um Menschen, die mit beiden Beinen im Leben standen, den Alltag mit all seinen Nöten kannten, ihn aber – im Unterschied zur Mehrzahl ihrer Mitbürger – durch die Praxis ihrer hohen Lehre zu weihen suchten.

Auguste Hugues Philippe (1858-1924)

Ein jüngerer Bruder von Maître Philippe. Er nahm an zahlreichen Sitzungen des Meisters teil. In aller Demut anerkannte er den hohen Geist seines Bruders. Noch in späteren Jahren soll er, wenn dessen Name erwähnt wurde, den Hut vom Kopf genommen haben. Er lebte lange Zeit als Bauer im gemeinsamen Geburtshaus in Loisieux. 1906 zog er mit seiner Frau nach Arbresle bei Lyon, um das Gut von Maître Philippe zu bewirtschaften. Nach dem Tod seiner Gattin zog er sich für den Rest seines Lebens nach Loisieux zurück. Obwohl er den Taufnahmen Hugues erhalten hatte, nannte ihn jedermann Monsieur Auguste.

Auguste Jacquot (1873-1937)

Ein Freund Sédirs und unermüdlicher Teilnehmer an den Sitzungen. Nach dem Tod von Maître Philippe lebte er in der Wüs­te und in den Bergen Nordafrikas, wo er als Ingenieur für die französische Regierung beim Bau des Streckennetzes der Eisenbahn arbeitete. Man sagt von ihm, dass, nachdem er die Sterbesakramente von einem Franziskanermönch erhalten hatte, dieser niederkniete und sich an Auguste Jacquot wendend sprach: „Es ist nun an euch, mich zu segnen.“ Bei seinem Tode am 16. Juni 1937 soll er mit weit geöffneten Armen gesprochen haben: „Herr, da bin ich.“

Dr. Philippe Encausse (1906-1984)

Sohn von Papus, Arzt wie sein Vater. Er wurde nach Maître Philippe benannt. Dank der Verfügbarkeit des Archivs seines Vaters stellte er das ausführlichste Buch über Maître Philippe zusammen, das ihm 198 eine Silbermedallie der Académie Française eintrug.

Alfred Haehl (1870-1957)

Im Jahre 1899 veranlasste Papus dessen Begegnung mit Maître Philippe. Alfred Haehl beschreibt dieses erste Treffen wie folgt:

Wir warteten schon seit geraumer Zeit in dem an das Laboratorium angrenzenden Zimmer, als die Verbindungstür sich öffnete und ein etwa 50 jähriger Mann von durchschnittlicher Größe im hellen Türrahmen erschien. Es war Monsieur Philippe. Diese Erscheinung löste in mir eine tiefe innere Bewegung aus. Mein ganzes Wesen neigte sich ihm zu, als antwortete es auf einen unausgesprochenen Ruf. Zu meinem großen Erstaunen sprach er unverzüglich und mit väterlicher Stimme zu mir: „Ah! Da bist du. Es ist Zeit, dass du kommst.“

Paul Sédir – Yvon Le Loup (1871-1926) Dieser französische Okkultist und Mystiker arbeitete als Bankbeamter in Paris, als er, wie fast alle Schüler des Meisters, von Papus bei Maître Philippe eingeführt wurde. Sein Pseudonym erhielt er von Papus. Es ist ein Anagramm des französischen Wortes Désir, und dies in Anlehnung an das Buch: l’Homme de Désir von Louis Claude de Saint-Martin. Unter der Leitung von Papus ward Sédir nicht nur in die Geheimlehren, sondern zugleich in verschiedene okkulte Kreise eingeführt. Sédir hatte den Ruf eines geachteten und beliebten Lehrers in der von Papus gegründeten École Supérieure libre des Sciences Hermétiques. Auch veröffentlichte er zahlreiche Schriften. Nach seiner Begegnung mit Maître Philippe wandte er sich jedoch vom Okkultismus ab. Er trat aus allen Logen und Bruderschaften aus, um sich hinfort nur noch mit der christlichen Botschaft der Evangelien zu beschäftigen. Er begründete die Vereinigung der Amitiés Sprirituelles, mit Zweigstellen in verschiedenen Städten Frankreichs. Er schreibt:

„Seit 1887 habe ich mich mit mancherlei Studien beschäftigt. Ein unverdientes Glück brachte mich mit den Wortführern der verschiedenen Traditionen in Kontakt. Aus Rücksichten der Konvenienz war es mir nicht möglich, vor aller Welt Dinge preiszugeben, die unbekannte, doch außergewöhnliche Männer als geheim erachteten. Rabbiner haben mir unbekannte Manuskripte geliehen, Alchemisten haben mir Eintritt in ihre Laboratorien gewährt. Mit Sufis, Buddhisten und Taoisten verbrachte ich ganze Nächte im Heiligtum ihrer Götter. Ein Brahmane ließ mich das Buch seiner Mantrams abschreiben, und ein Yogi erklärte mir das Geheimnis der Versenkung. Aber eines Abends, nach einer gewissen Begegnung3, erschien mir alles, was diese bewundernswerten Männer mich gelehrt hatten, wie leichter Dunst, der der abendlich erhitzten Erde entsteigt.

Das Dogma und die Liturgie unserer katholischen Religion sind der vollkommenste Ausdruck der integralen Wahrheit, den es zur Zeit auf Erden gibt. Was die Theologen geschrieben haben, ist nicht der zwanzigste Teil der Wahrheiten, die in diesen Formeln enthalten sind. Alles ist im Katholizismus enthalten, sowohl die Wissenschaft der Mineralien wie jene der Seelen … Erkennen, dass man nichts weiß, erfahren, dass man nichts kann, sich überzeugen, dass der Himmel in uns ist, dass der Freund uns ständig mit seinen gebenedeiten Armen umfasst, das ist die Lehre Jesu.“

Wir verdanken Sédir ein ausführliches, in Romanform verfasstes, Werk über Maître Philippe mit dem Titel: Initiations. Darin lässt er uns an seinen persönlichen Erfahrungen mit seinem Meister teilnehmen. Was diese anbelangt, schreibt er in einem Aufsatz:

„Ich verlange nicht, dass ihr mir glaubt. Stellt euch einfach vor, diese Dinge seien vielleicht möglich. Das ist mir genug. Die Anerkennung dieser Hypothese wird euch später für das Licht empfänglich machen, und damit wird mein Ziel erreicht sein. Ich rede nicht, um einem Wesen gerecht zu werden, das sich nicht kümmerte um das Urteil der Welt; für euch rede ich, für eure Zukunft, auf dass ihr in Zeiten der Erschöpfung den Mut finden möget, trotz allem ein wenig voranzukommen.“

Papus, Dr. Gérard Encausse (1865-1916)

Über Papus selbst wurde so viel geschrieben, dass wir uns im Rahmen unserer Arbeit lediglich auf ein paar von ihm stammende und seinen geistigen Meister betreffende Textstellen beschränken wollen. Aus einem Brief:

„Geliebter Meister. Ich habe Euren Brief erhalten und danke Euch dafür, denn immer ist es eine Freude, Eure so sehr ersehnte Schrift zu sehen. Ihr habt mich Christus kennen und lieben gelehrt, und dafür will ich Euch ewig dankbar sein.“

In seiner Eröffnungsrede an der Schule für Magnetismus in Lyon, zu deren Direktor Monsieur Philippe ernannt wurde, spricht er:

„… mit dem Auftrag nach Lyon entsandt, einen Lehrkörper für die neue Schule zu rekrutieren, erkannte ich rasch und mit Freude, wie viele engagierte und gut ausgebildete Praktiker eure schöne Stadt besitzt. Eine solche Vielzahl, dass man mit Leichtigkeit nicht nur eine, sondern wenn es sein müsste, drei Schulen für Magnetismus eröffnen könnte. Da habe ich mich dann an die Stimme des Volkes gewandt, jene gewaltige Stimme, deren Echo durch die Jahrhunderte tönt, wo sich die Stimme der Akademien kaum über einige Monate zu halten vermag. Von Armen und Demütigen hörte ich Worte der Dankbarkeit, vernahm die Segnung von Müttern, denen ein durch die offizielle Wissenschaft verloren gegebenes Kind wiedergeschenkt worden war, und hörte sie alle den Namen eines einzigen Mannes preisen. Ein gewöhnlicher Name für alle, die ihn nicht kennen, ein mächtiger Name aber für diejenigen, die das Mysterium seiner Werke zu würdigen wissen: Philippe. Ich bin also hingegangen, diesen merkwürdigen Menschen aufzusuchen, diesen Mann, der in aller Einfachheit so große Dinge vollbringt, und habe ihn gefragt: „Wer seid ihr, der ihr solche Kräfte besitzt?“ Und er gab zur Antwort: „Seid versichert, ich bin weniger als ein Stein, und aller Verdienst gehört nur Gott, der zuweilen geruht, das Gebet des letzten seiner Kinder zu erhören. Wahrlich ich sage Euch, ich bin nichts, ich bin weniger als nichts.“

Und in seinen späteren Aufzeichnungen schreibt Papus:

„Er hat mich gelehrt, mich zu bemühen, gut zu sein; er hat mich gelehrt, Nachsicht zu üben; er hat mich die Notwendigkeit gelehrt, nichts Ungutes zu reden, und weiter hat er mich das unbedingte Vertrauen in den Vater gelehrt und das Mitgefühl für den Schmerz des Bruders. Schließlich hat er mich gelehrt, dass man nur weiterkommt, indem man am Leid der anderen teilnimmt, nicht aber dadurch, dass man sich aus Angst, seine Reinheit und seine Weisheit zu verlieren, ein­schließt in einen Elfenbeinturm … Deshalb versuche ich, die Menschheit etwas aufzurütteln und einige Ideen um mich her zu verbreiten, die nicht einem menschlichen Gehirn entsprangen, und bemühe mich, jene beiden großen, uns vom Himmel geschenkten Tugenden in die Welt zu tragen, die da heißen: Güte und Toleranz.“

Marc Haven, Dr. Emmanuel Lalande (1868-1926)

In Anlehnung an den Bericht seines Vaters schreibt Philippe Encausse über die Begegnung von Dr. Lalande mit Maître Philippe:

„Durch Vermittlung von Papus lernte Marc Haven Maître Philippe kennen. Papus hatte ihm, gemeinsam mit anderen Okkultisten seines Kreises, eine Mission aufgetragen: Monsieur Philippe aufzusuchen und über die empfangenen Eindrücke Bericht zu erstatten. Marc Haven begab sich nach Lyon, stellte sich Maître Philippe vor und war von dieser Begegnung so erschüttert, dass er sich in dieser geheimnisvollen und liebenswürdigen Stadt niederließ und täglich den Umgang mit dem von allen geliebten und verehrten Meister suchte. Er, der trotz allem, was er bislang unternommen hatte, daran verzweifelte, kein Heilmittel gegen seine innere Leere zu finden … fühlte sich mit einem Schlag von all seinen moralischen Leiden befreit; zugleich spürte er die Möglichkeit eines endlosen Aufstiegs; er empfand die absolute Überlegenheit des Geistes über die Materie. Die Begegnung mit Maître Philippe verursachte in ihm den Übergang von einem initiatischen Weg zu einem Weg des Herzens, einem mystischen Pfad.“

Und Marc Haven schreibt selbst:

„Übrigens habe ich euch gesagt, dass sich die Lehre von Maître Philippe in einigen wenigen Worten zusammenfassen lässt. Ein einziger Punkt ist es, von dem alles ausgeht: die Verwandlung von sich selbst, das Schmieden, das Modellieren, die Bearbeitung des Ichs, bis es nichts Egoistisches mehr an sich hat, bis es nur noch Liebe ist und gütige Tat für seinen Nächsten. Ohne dies ist alles notwendigerweise falsch und zu sterben berufen, die Wissenschaft wie die Tugend, die Taten wie die Theorien oder Ideen, das Leben wie das Glück, alles! Mit diesem aber wird uns alles geschenkt. Fortschritt, Harmonie, Können, Glück und die Möglichkeit zum Glück der anderen beizutragen, sowie eine stets sich erweiternde Kenntnis von allem, von der Welt, von den Menschen, von Gott … Ich schwöre euch, das ist alles. Nichts anderes als eben dieses hat Maître Philippe gelehrt und gelebt.“

Jean Chapas (1863-193)

Folgende Geschichte ist von Augenzeugen überliefert: Mit 7 Jahren stirbt der kleine Jean Chapas. Der Totenschein wird von zwei Ärtzten ausgestellt. Von den Schreinern, die seinen Sarg zimmern, heißt einer Jean Baptiste Ravier. Er ist es, der das Nachfolgende miterlebt und niederschreibt:

„Maître Philippe stand vor dem Bett des Frühverstorbenen und fragte die Mutter Chapas, mit der er bekannt war: „Gibst du mir jetzt deinen Sohn?“ und auf ihr „Ja“ redete er Jean folgendermaßen an: „Jean, ich gebe dir deine Seele zurück.“ Da öffnete dieser die Augen und ward später der treuste Schüler, der engste Mitarbeiter und der direkte Nachfolger von Maître Philippe.“

Mit diesen knappen Hinweisen auf jene Menschen, die die auf uns überkommenen Zeugnisse des Maître Philippe bewahrten und niederschrieben, hoffen wir zugleich, eine erste, skizzenhafte Darstellung dieses geheimnisvollen Menschen vermittelt zu haben. Der Entwurf soll sich bis zum Ende dieser Einführung noch verdeutlichen und dem Leser den Einstieg in das vorliegende Werk erleichtern.

Die von uns verwendeten Schriften, die bislang die wichtigs­ten und vollständigsten sind, haben sich im Großen und Ganzen auf dieselben Dokumente gestützt. Daher finden sich viele Belehrungen und Geschichten gleicherweise in allen vier Büchern. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, das allen Gemeinsame zusammenzustellen, das den jeweiligen Schriften Besondere hinzuzufügen, eine Auswahl zu treffen, die nicht nur repräsentativ ist, sondern auch den größten Teil der Dokumente erfasst, und schließlich den solcherart zusammengestellten Text aus der französischen in die deutsche Sprache zu übertragen.

Im ersten Teil begegnet der Leser den biographischen Zeugnissen von und über Maître Philippe, im zweiten und dritten Teil findet er jene Geschichten beschrieben, die die wunderbare Kraft seiner Lehre zum Ausdruck bringen und – im Rahmen des Möglichen – beweisen. Der vierte Teil beinhaltet Aussagen des Meisters, die man gemeinhin als seine Lehre bezeichnet.

II

Während  Jahren wurden die Sitzungen, in denen Maître Philippe sich der Öffentlichkeit als Heiler und Thaumaturg zur Verfügung stellte, in der Rue Tête d’Or in Lyon durchgeführt. Vor unzähligen Zeugen vollzogen sich dort Tausende von Heilungen. Fast täglich wurde hier gearbeitet, und die um Zutritt besorgten Leute standen in Warteschlangen auf der Straße. Sédir beschreibt den Ablauf der Sitzungen wie folgt:

„Chapas ließ die Zuhörer einzeln eintreten; im großen Salon des Erdgeschosses, dessen Vorhänge zugezogen waren, setzte man sich hin. Dieser Raum fasste bis 00 Personen. Manchmal war man so eng beieinander, stehend und sitzend, dass die Luft fast unerträglich war. Gegen 14 Uhr 30 trat MP ein, schritt die Stuhlreihen entlang und fragte einen jeden nach seinem Begehren. Einiges notierte er. Hernach erhoben sich alle und MP schien während zwei Minuten zu beten. Daraufhin setzte man sich wieder. Nun begann MP im Saale auf und ab zu gehen und die Kranken wie zufällig aufzurufen. Oftmals duzte er sie dabei. Die meisten Teilnehmer spürten zuweilen die unsichtbaren Kräfte des Fiebers, des Wahnsinns, einer heilenden Kraft usw. Der Großteil der Kranken verließ die Sitzung mit merkbarer Erleichterung, und bei jeder Sitzung wurden immer etwa zehn Unheilbare völlig geheilt. Auch abwesende Personen heilte er. Aber er half den Geprüften auch in ihren Geschäften, ihren beruflichen Unternehmungen usw. Die Mehrzahl der Zuhörer bezahlte ein geringes Eintrittsgeld, das Chapas gleich nach den Sitzungen in einem Raum im Untergeschoss an Bedürftige verteilte.“

Claude Laurent schreibt zu demselben Thema:

„Für diejenigen, die nicht an den Sitzungen des Meisters teilgenommen haben, ist es schwierig, sich ein Bild jener Andacht zu machen, die dort herrschte. Nachdem die Menge den Saal betreten hatte, klopfte der Meister dreimal an die Tür und trat inmitten tiefster Stille ein. Alle Anwesenden standen. Er redete zu jedem Einzelnen und, nachdem er ein stilles Gebet gesprochen hatte, befahl er den Lahmen zu gehen. Hernach beantwortete er Fragen, die man an ihn stellte, und unterwies uns im Wort Gottes, ohne je die Empfindlichkeit oder den Glauben eines Teilnehmers zu verletzen. Oft gab es drei aufeinanderfolgende Sitzungen. Immer hatten die Kranken den Vorrang. Trotz der herrschenden Ordnung versuchte sich dennoch jeder zur ersten Sitzung in den Saal zu drängen, aus Furcht nämlich, die Belehrungen des Meisters, der manchmal nur der ersten Sitzung vorstand, nicht mithören zu können. In diesem Falle war es Monsieur Chapas, der die nachfolgenden leitete. Der Meis­ter sprach mit klarer, wohllautender Stimme, und wir alle bewunderten die unaussprechliche Leichtigkeit, mit der er uns das Evangelium lehrte. Besonders vertraut war er mit den Entrechteten und den Armen dieser Welt, und voller Güte gab er Antwort auf alle Fragen. Einmal schien es ihm, als schämte sich ein mit einem schlichten blauen Hemd bekleideter Bauer, dass es ihm nicht möglich war, in einem eleganteren Anzug an der Sitzung teilzunehmen. Da sprach der Meister ihn an: „Du bist sehr gut, wie du bist, und ich mag dich sehr in diesem Hemd.“ Darauf umarmte er ihn zärtlich. Was die Heilung der Kranken anbelangt, sagt Maître Philippe selbst:

„Um Kranke zu heilen, muss man sie seit Jahrhunderten kennen, muss auf ihrer Stirn und in ihrem Herzen lesen und ihnen sagen können: „Gehet hin, eure Sünden sind euch vergeben.“ Dazu aber darf man nicht davor zurückschrecken, wie die Wurzel eines Baumes in die Tiefe zu steigen. Ein Teil von euch selber ist im Himmel und der andere in den Tiefen. Wenn das Leben, die Liebe und das Licht in euch sind, werdet ihr alles wissen und wirken können, ganz wie es euch beliebt.“ (4.3.1903)

Folgendes Verfahren benutzen wir hier (in den Sitzungen). Es ist das Einfachste und das Schwierigste. Ich gehe an euch vorüber, ihr sagt mir, was euch plagt; in dem Augenblick, da ihr mir eure Empfindung mitteilt, geschieht in euch etwas Übernatürliches, und wenn meine Seele eure Rede hört, seid ihr auf der Stelle geheilt. (5.7.1896)

Um den Kranken Linderung zu verschaffen, muss man Gott um die Vergebung ihrer Sünden bitten; alsbald spürt die Seele eine Stärkung, und in der Folge empfindet der Körper die Erleichterung seiner Leiden. Würden wir den Glauben haben, wir vermöchten einander gegenseitig Linderung zu verschaffen. (5.7.1896)

Am 1. Mai 1901 gab er noch einen geheimnisvollen Hinweis, betreffs der wunderbaren Geschehnisse in der Rue Tête d’Or:

Um Sitzungen abzuhalten, muss man gleichzeitig auf anderen Ebenen leben …“

III

Neben dem Miterleben physischer Heilungen nahmen die Anwesenden auch an einer Fülle theoretischer Belehrungen teil. Fragen wurden beantwortet, Experimente durchgeführt und kommentiert und kurze Unterweisungen erteilt. Diese bruchstückhaft anmutenden Lehren sind es, die den vierten und umfangreichsten Teil dieses Buches ausmachen. Marcel Roche gibt mit Recht zu bedenken:

„… damit die Worte von Maître Philippe von all jenen, die sie später vernehmen, verstanden werden können, müssen diese im Rahmen der Zeit, dem Ort und den Umständen, in denen sie gesprochen oder gesammelt worden sind, gesehen werden … Die publizierten Notizen über die Belehrungen des Maître Philippe entstammen meistenteils den Aufzeichnungen von Zeugen. Die Zuhörerschaft setzte sich aus sehr unterschiedlichen Personen zusammen. Es gab Menschen aus dem Volk, aus den verschiedensten sozialen Schichten: Arbeiter, Handwerker, kleine Geschäftsleute, Angestellte usw. Doch gab es auch gebildete Leute: Professoren, Wissenschaftler, Wissende, Eingeweihte … und sogar Adepten. Zweifelsohne war das Bedürfnis nach Aufzeichnungen unter jenen Teilnehmern besonders stark, deren Ausbildung eine intellektuelle war, denn ihrem Verständnis war es ein Bedürfnis, das Vernommene, das ihnen, die an diese Themen gewöhnt waren, beim ersten Hören schon verständlich war, später auch nachlesen zu können.“

Und Maître Philippe selbst fügt dem noch bei, dass seine Aussagen

„… nicht einfach so hingenommen werden dürfen, denn nicht immer sind alle Erklärungen für jeden verständlich. Jedem ist gegeben, was sein Magen zu verdauen fähig ist. Man soll einem Magen nicht mehr zumuten, als was er zu verdauen vermag. Es erträgt ein kleines Kind, das Milch benötigt, keine schwerere Kost.“

Die zu Papier gebrachten Aussagen oder überlieferten Lehren des Maître Philippe lassen keine Methode pädagogischen Aufbaus erkennen. Wenn auch die zahllosen Fragmente von der Erhabenheit des Ganzen zeugen, so sieht sich der Leser dennoch einem Nebeneinander und scheinbaren Durcheinander von Teilen gegenüber. Sie stehen alle da wie Blumen auf der Wiese. Noch keine Hand hat sie gepflückt und zu Sträußen gebunden. Dem Leser steht diese Tat bevor. Hingestreute Gedanken, samenträchtig dem Bereiten, der sich nicht scheut, sie einzusammeln.

Die Worte des Meisters sind wie väterlicher Zuspruch: streng und barmherzig zugleich. Gelegentlich mündet seine Rede in eine ausholende Belehrung, und manchmal fasst sie sich kurz und weist zurecht, dann wieder kommen Antworten auf Fragen, oder es werden Aufgaben an Teilnehmer verteilt. Anstelle einer sich stufenweise entfaltenden Lehre finden wir eine stufenlose Aneinanderreihung von Lektionen, die sich aus unterschiedlichen Zusammenhängen an unterschiedliche Verständnisebenen richten. Einiges kehrt unverändert und in regelmäßiger Folge wieder. Und gerade dieses vom Verstand oftmals als leichtverständlich Wahrgenommene sollte nicht allzu rasch überlesen werden, ist es doch vielleicht gerade das Anspruchsvollste und Höchste, das es zu erkennen und zu verwirklichen gilt. Solch wiederkehrende Hinweise sprechen oft direkt zum Herzen, während anderes – bloß einmal Aufgeführtes – den vorurteilsbeschwerten Kopf bewegen will. Trotz der großen Anzahl der aufgeführten Aussagen wird dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, an welch räumedurchdringende, vertikale Achse diese Worte gebunden sind. Die Rede des Meisters ist präzis, kurz und ungekünstelt, meist ohne lange Nebenrede, und der Hörer selbst muss sie als Einstieg nutzen, um hinunter zu steigen in die eigenen Tiefen, in den ausgetrockneten Brunnenschacht einstigen Wissens. Dort aber suche er nach der Quelle, der bloß scheinbar versiegten.

Die damaligen Zuhörer in der Rue Tête d’Or lauschen den Worten des Lehrers. Sie hören, was ihnen zu hören möglich ist, und sie notieren, was ihrem Verständnis naheliegt. Bisweilen – und dies besonders bei ungeübten Studenten – sind die Aufzeichnungen dem Zusammenhang entrissen und stehen für sich selbst. Manchmal hat wohl auch der Meister selbst, der sich diesen unterschiedlichsten geistigen Voraussetzungen gegenübersah, gewisse Dinge verschwiegen. Denn zu allen spricht er in der ihnen eigenen Sprache, jede Verständnisebene will er berühren und nach Möglichkeit beleben. Bisweilen spricht er in symbolischer Weise, dann wieder ganz eindeutig, scheinbar einfältig, dann wieder lässt er Dinge aus, um Gedanken anzuregen. Immer aber hört und modifiziert der Zuhörer entsprechend seiner geistigen Voraussetzungen. Widersprüche tauchen auf, weil man den Wechsel von einer Ebene auf die andere nicht nachvollzogen hat. Oder etwas, das dem Verstande unzweifelhaft erschien, wird vom Lehrer plötzlich in unerwarteter Weise relativiert und ins Unabsehbare erweitert, und der Schreiber notiert, was ihm zu fassen möglich ist. Manchmal – wenn auch selten – findet sich auch Gegensätzliches in diesen Aufzeichnungen. Kontradiktorisches, das sich zu einem späteren Zeitpunkt als ergänzend herausstellt oder aber als absichtliche Beschränkung, dessen Wiederaufnahme und Erweiterung einer späteren Belehrung vorbehalten ist. Auch der Leser dieses Buches wird zuweilen die unvermittelte Verwandlung eines allerverständlichsten Hinweises in eine überrationale Dimension erleben. Dann steht sein Verstand still an der ihm eigenen Grenze, an der Schwelle zu noch unbekannten Reichen. Das Denken schweigt, weil das Vernommene unmöglich scheint; mit seinen gewohnten Strukturen und Prozessen vermag es dies weder zu fassen noch zu begreifen. Diese Beschränkung anzunehmen, ohne sie mit den Waffen des Intellektes zu verneinen, ist die Voraussetzung höheren Fragens. Die daraus sich ergebenden Antworten werden einst denjenigen zu höherer Erkenntnis führen, der zur rechten Zeit zu schweigen verstand.

In dieser Art und Weise also werden die Aufzeichnungen dem Leser vorgelegt. Es ist eine derart authentische Wiedergabe der Geschehnisse in der Rue Tête d’Or, dass man zuweilen glaubt, man nähme selber daran teil. Wenn dem so ist, dann sei uns – gleich wie den Hörern vor über hundert Jahren – der Auftrag, diesen ungewohnten Worten eine vorurteilslose und wohlwollende Bedenkzeit zu gewähren.

Es werden Thesen vorgetragen, die neu und unerhört sind für den einen, für den anderen jedoch altbekanntes Wissen. Man bedenke aber: Wenn der Verstand das Wort versteht, dann ist damit noch keineswegs gesagt, dass es auch eingegangen ist ins Herz, um an jenem Tempel zu bauen, von dem der Heilige Paulus spricht. Beide Schüler – jener nämlich, der noch nicht weiß, und jener, der zu wissen glaubt – haben noch zu lernen, wenn auch jeweils etwas anderes. Maître Philippe sagt:

„Die Erklärungen, die ich gebe, sind nicht für alle gleich, denn im Hause Gottes sind viele Wohnungen. Vermögt ihr nicht gerade darin den Beweis zu sehen, dass kein Mensch dem andern gleich ist?“

Wenn wir weiter oben sagten, die Lehre sei aus zahllosen Fragmenten zusammengesetzt, so schließt dies mit ein, dass  jedes Teilchen ein Stück Wahrheit in sich trägt, Wortkleid ist von einem Funken Licht. Der Leser verdunkle also nicht mit dem eigenen Vorurteil – das immer eine Verneinung ist der großen Wahrheit – das Licht dieser Lehre.

IV

Was nun den Umgang mit den ungewohnten, zuweilen phantastisch anmutenden Themen angeht, die einen ansehnlichen Teil der vorliegenden Zeugnisse ausmachen, empfehlen wir Ruhe; empfehlen wir, die Dinge einmal so anzunehmen, als wären sie wahr; empfehlen wir, die in weiten Räumen sich bewegenden Worte weder einem schon übervollen Hirnwissen hinzuzufügen noch sie mangels denkerischen Nachvollzugs von sich zu weisen. Wir empfehlen, diese Texte langsam zu lesen, Abschnitt für Abschnitt, ganz so, als würden sie uns gerade jetzt und ganz persönlich zum Studium vorgetragen. Wir wollen zuhören, anhalten, still werden, betrachten.

Die vielen Paragraphen sind wie zerstreute Steinchen eines prächtigen Mosaiks geistiger Bildung, dessen Vorlage zwar nicht in ihrer Ganzheit deutlich ist, dessen Konturen jedoch spürbar sind. Es sind die Umrisse eines lebendigen Glaubens, Spuren der Wahrheit, Spuren, denen man sich anvertrauen kann, meisterliche Spuren, die uns führen. Man wird Worte finden, die gewohntes Wissen zertrümmern, die neue geistige Räume öffnen, die ganze Lehrsysteme in sich enthalten, und man wird auch andere Worte hören, scheinbar sehr einfache, nachvollziehbare. Ein gewaltiges Wissen breitet sich vor uns aus. Manchmal umgibt es uns traulich wie die lauen Wasser eines verschlafenen Meeres, doch unvermutet schwillt es an und bricht sich wie stürmische Brandung überschäumend am harten Verstandesfelsen, um wieder zurückzufluten, abzunehmen, lieblich dahinzuplätschern, bevor es von neuem eskaliert, unheimlich und nah … und doch unendlich weit, unfassbar …

Je weiter wir lesen, desto mehr gewahren wir, wie diese schlichten Worte dem Leben eine Dimension verleihen, die das Große im Kleinen und das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen offenbaren. Es ist der gewaltige Anspruch, das Leben zu heiligen. Damit wohnt jedem Wort auch die Aufforderung inne zur Tat, das Zögern zu lassen dem Bruder zuliebe.

Herrgott, wie ist der Weg so weit! Ihn zu betreten, endlich aufzubrechen ins Unendliche, dem alleinigen Gott zu dienen und zu lieben unseren Nächsten wie uns selbst, das ist in einfachen Worten die gewaltige Botschaft des Maître Philippe de Lyon.

V

Es wird dem achtsamen Leser nicht entgehen, dass die in diesem Buch unter Lehren vorgetragenen Paragraphen einer Wissenschaft angehören, die alle Bildungsschichten und Fachgebiete berührt und durchdringt. Es ist eine Wissenschaft des Geistes. Eine Wissenschaft, die weiß, dass allen Phänomenen und Prozessen eine geistige Gesetzmäßigkeit zu Grunde liegt. Nicht die Erscheinung an sich, sondern das dahinter liegende Wirkprinzip ist ihr Anliegen. Dabei handelt es sich um ein unsichtbares, die menschlichen Sinne übersteigendes Etwas. Der auf Analyse der Phänomene gegründeten Wissenschaft ist dies ein Unding – was es im wahren Sinne des Wortes auch ist!

Die rationale, berechnende, von der Maschine beherrschte Welt geht den Weg der sinnlichen Wahrnehmung und des ‘verlorenen Gefühls’, das sie wiederfinden will. Ich will fühlen, dass ich bin, und ich will sehen, was ich glaube. Eine unstillbare Gier nach Sensationen, nach sinnlicher Empfindung stimuliert die menschliche Kraft und erwürgt sie zugleich. Der Mensch muss die höhere Vernunft, die erst aus dem allmählichen Opfer der Sinnlichkeit erwachsen kann, wiederfinden. Nicht, was ich fühle, ist das Ziel heiliger Lehre, wohl aber was ich bin. Dieses Seiende aber ist jenseits aller Launenhaftigkeit des Körpers, der Gefühle und der Gedanken, es ist ein göttliches Licht, ein Funke des Ewigen.

 

VI

Viele von uns glauben, der Zeitumstände Opfer zu sein. Die Ungeduld rast uns im Blut, das Auge begehrt nach Formen und Gestalten und Bewegung, die Sinne verlangen Nahrung, und es müssen sich fügen der Geist und die Seele. Die Sinne regieren den inneren Menschen, halten ihn fest in einer vergänglichen Welt, und dabei denkt sich der Mensch einen, seiner Vorstellung gemäßen und seinem Verstand begreifbaren, Sinn. Wohl dauert es seine Zeit, bis Überdruss und Langeweile und vor allem Leid die Lust nach Welt entkraften und der Geist erkennt, wie sehr sich seine lichte Welt im emotionalen Nebel von Gier und Sinnendurst verdunkelt hat. Dann erschrickt der Mensch. Angst und Trauer fassen ihn am Hals. Wer bin ich wirklich?, fragt er sich und nähert sich einem vielversprechenden Anfang … doch allzuoft vergisst er’s wieder und anstatt, dass er Altes lässt für immer, sucht sein Denken sich – wir haben’s oben schon gesagt – mit alten Waffen neuem Kampf zu stellen.

Doch manchmal hängt noch – wie das Kind am Rockzipfel der Mutter – die heilträchtige Frage nach dem Sinn im Gedächtnis des Leidenden, und er ahnt, dass es nicht um Vergangenes geht, dass aber ein unerkannt Künftiges das Seiende ins Werden ziehen will.

Aber auch diesem Erkenntnisimpuls droht Wirrnis und Verführung. Denn allsogleich umfängt ihn der dichte Wald psychologischer Systeme und esoterischen Halbwissens. Der solcherlei Bedrängte dreht sich rund um seine Qual herum und kreist und denkt, dass dies und jenes ihm geschehen, weil er da und dort gefehlt. Das Böse sei ihm widerfahren, weil er zu viel von diesem und von jenem allzu wenig… und bessern will er sich, auf dass solches niemals wiederkehre, dass der Lohn ihm werde und alles sei, wie er sich’s wünscht. Es ist jene teuflische Verkehrung des: ich muss Gutes tun, damit ich das erhalte, was ich wünsche, anstelle der Erkenntnis: um Gutes tun zu können, muss ich mich selber lassen, muss geben anstatt nehmen.

So lebt der Mensch in seinem Eigenbild gefangen und will es ändernd bessern, anstatt dass er es sterben lässt! Der tragische Knoten, sich selbst als das Maß zu sehen aller Dinge, ist eine jener irrlichtigen Sichten, die unsere Welt mit falschem Licht erhellt – das Drama des verblendeten Menschen. Denn damit hat sich der Verstand eine Norm erkoren, an der er fortan alles misst, nach der er alles ausrichtet und die er im eigenen Unmaß selber ist! Vermessene Menschen! Dies führt uns in die Welt sterilen Psychologisierens, in die Welt der Selbstbespiegelung, des Suchens nach Gründen und scheinbaren Findens biographischer Umstände für Zustände, die uns selbst zuwider sind, und all dies mit dem illusionären Ziel, dass, wenn wir fündig werden, wir fürderhin dem Leid entgehen. Ein Trugschluss sondergleichen, denn es ist solange keine Aussicht auf wahre Heilung möglich, als tief unten im Be­wusst­sein jener Götze angebetet wird, der schreit: Der Mensch ist das Maß aller Dinge; werde, der du zu sein begehrst, sei dir selbst der Nächste, verliebe dich in dich, usw. Das ist die große Lüge, der Verrat an der Wahrheit! Maître Philippe weist uns hoch und heilig jenes andere Maß, das da besagt: Nein, nicht der irdische Mensch, Gott ist das Maß aller Dinge!

Wenn wir aber Gott nicht kennen? Ihn nicht denken können? Wie soll er da unser Maßstab sein?

Undenkbar, sagt der Verstand! In der Tat, undenkbar. Undenkbar heißt, dass wir etwas nicht denken können. Was heißt das schon! Den Duft der Rose können wir auch nicht denken! Dennoch gibt es ihn. Wir können ihn auch nicht sehen, dennoch vermögen wir ihn wahrzunehmen: Wir können ihn riechen. Desgleichen sind auch dem Geiste andere Erkenntnisfähigkeiten eigen, als es der geistig wenig entwickelte Mensch für möglich hält.

So ist auch für das geistige Verständnis eines Großteils der vorliegenden Aufzeichnungen das Gewohnheitsdenken ungenügend. Es ist übervoll vom Eigenen und somit allzu sehr der Beschränkung unterworfen. Erst die Verneinung von sich selber ist das Ja zu Gott.

 

VII

Um einen Text exegetisch zu bearbeiten, ist es daher wichtig, ihm nicht das eigene Wissen überzustülpen und ihn in eine Form zu zwängen, die in unserem rationalen Gedächtnis ein strukturelles Vorbild hat. Es wäre dies, als würde man das Neue solange bearbeiten, bis es, mit dem Messer alten Vorurteils zurechtgestutzt, dem Verständnis bereits vorhandenen Wissens assimilierbar ist. Dadurch ginge alles Neue, Unbekannte – um das es ja gerade geht – verloren. Im besten Falle ergäbe sich ein Zuwachs an Information im Gedächtnis. Doch Texte wie die vorliegenden suchen die Transformation des Lesers, die Evolution im Geiste, sie wollen den Menschen vorwärts bringen. Deshalb soll der Leser die ungewohnten, seinem Weltbild fremden Textstellen nicht nur bedenken, sondern bebrüten, betrachten, achten auf deren Wirkung innen. Was aber heißt bebrüten, was heißt betrachten?

Bebrütet wird das Ei durch gleichmäßiges Erwärmen, und zwar solange, bis seine Schale brechend stirbt und neues Leben sichtbar wird. Diese stete Wärme, einem unbeirrbaren Interesse vergleichbar, ist es, mit der wir solche Schriften aufnehmen und für eine gewisse Zeit umfassen sollten, im Gedächtnis erst … und dann im Herzen. Urteilslos nehmen wir sie in uns hinein und lassen werden, anstatt uns nach außen hin zu denken, um analysierend zu begreifen, was uns dünkt zu sein. Nicht die Schale gilt es zu beschreiben, sondern das Küken will geboren werden.

Was wir Betrachtung nennen, ist die tätige Erwartung von einem Etwas, das in uns geschieht. Dabei sind wir vorerst passiv im Denken und aktiv im Betrachten. Dies im Gegensatz zum Alltagsdenken, das aktiv ist und linear, das sich nach außen begibt, das dreidimensionale Objekt – oder die Aussage – beschnuppert und Schlüsse zieht, diskursiv oder synthetisch. Das gewöhnliche Denken stößt und zieht und dreht das Objekt, weil es mental begreifen und erfassen will. Es gehorcht einer Willensanstrengung. Demgegenüber verläuft die Betrachtung vertikal, sie holt das Objekt nach innen, und dieses untersteht dann einem Werdeprozess jenseits intellektueller Bedrängnis. Ihr – der Betrachtung – Gesetz heißt Stirb und Werde. Dabei geschieht eine wesentliche Veränderung im Betrachter. So führe das Denken zur Betrachtung, die Betrachtung aber zu offenbarender Erkenntnis.

Zusammengefasst: Wir bebrüten den Text wie die Henne ihr Ei – schweigend, achtsam und unermüdlich. Das Objekt der Betrachtung in uns tragend, tragen wir es aus. Wir hegen und ernähren es mit dem notwendigen Maß an Wärme, an Hingabe, nicht zu wenig, nicht zu viel, aber ununterbrochen! Zu ihrer Zeit wird die Schale brechen, und das Geborene wird etwas bisher Unbekanntes, etwas Neues sein. Nicht die Schale ist uns die Hauptsache, sondern das in ihr potentiell Enthaltene. Doch unverzichtbar, wie die Gebärmutter dem Kinde, ist unserem geistigen Werden die Schale. Wir nehmen sie dankbar an und schaffen – nach bestem Vermögen – die Voraussetzungen zur Geburt des neuen Lebens, das, wenn einmal geboren, ein Werdendes ist.

 

VIII

Immer steht das Eigene einem Fremden gegenüber und es entsteht die Wahlfreiheit: Wem gilt nun meine Sorge, um wen soll ich mich kümmern? Um mich selber oder um das andere?

Eigenliebe oder Nächstenliebe … Geistiges Betrachten, wie wir es eben beschrieben, ist eine Art von Nächstenliebe! Das andere aufnehmen, es als ein Stück Ich-selber lieben, setzt aber voraus, dass ich mich in einem gewissem Grade von mir selber löse, mich hingebe an das andere. Das Ich wird kleiner, geringer. Ich bin der Geringste … der Kleinste, sagt Maître Philippe von sich selber und offenbart uns ein Geheimnis: Der Geringste, der aller Eitelkeiten, aller eigennützigen Umhüllung Ledige, ist Gott am nächsten. Die Schale der Eigenliebe ist zerbrochen. Der Liebesfunke entströmt und verbindet sich Ihm, der Liebe ist, von der wir uns im Wahn des Sonderseins so lange schon getrennt und abgewendet hatten.

Wer Seinem Willen keine Hindernisse mehr entgegensetzt, sich Ihm hingibt, auf dass Er in ihm und durch ihn wirke, der … wird seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Aufgehoben ist die Trennung, befreit ist er und wieder eins geworden, und sein Bewusstsein lebt und west in allem, weil er selber alles ist3. So spricht Maître Philippe: Wer seinen Nächsten liebt, weiß alles.

An diesem Lebensbrunnen füllt Maître Philippe den Becher, den er uns zur Labung reicht, auf dass wir bestehen mögen auf unserem Weg, und er weist uns die Richtung, beweist uns das Undenkbare, dennoch Mögliche, geht uns voran und wünscht, dass wir ihm folgen. Drehen wir uns aber einmal nicht mehr karussellig um uns selber, wird der gerade Weg uns sichtbar, der zum Ziel des Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selber führt. Dann dreht sich alles um Gott! Und wenn man bislang sagte: Ich schenke Liebe, taucht nun die Frage auf: wie sollte das denn gehen, da doch Gott allein die Liebe ist und Er uns nicht gehört, solange als wir Ich-selber sind? Und wir vernehmen die Antwort: Alles, was Odem hat, ist göttlich! Alles Lebendige hat seinen Ursprung in Gott. Alles enthält in dem Maße, wie es lebendig ist, den Hauch göttlicher Liebe.

Auch dem Menschen ist ein Stück Göttlichkeit eigen. Im Gegensatz zur Natur, die sich stets verschenken muss, kann er frei über diese Liebe verfügen. Er kann sie behalten und beschränken, er kann sie zur Eigenliebe verkümmern lassen und einsperren in sein zeitliches Daseinsgehäuse, oder er kann sie verschenken, indem er die Schranke der Eigenliebe niederreißt, sie auf dem Altar der Nächstenliebe opfert, damit, solang er lebt – nicht nur in dieser Welt –, seine befreite Liebe Flamme sei, die, auch wenn sich tausend Lichter an ihr entzünden, niemals schwächer wird. So schenkt der werdende Mensch seinem Bruder ein Licht … und es wird heller.

Wer liebt, verringert seine Eigenliebe. Wo Du warst, wird Ich, und wo bloß Ich war, wird ein Stück Du. Das ist der Anfang der Wiedereinswerdung des Getrennten. Was wir also hingeben müssen, zuallererst und ohne Vorbehalte, ist unsere Eigenliebe, und dann, nur dann, tritt Göttliches hervor, eint sich das Göttliche in uns mit dem Göttlichen im Geliebten, denn Göttliches erkennt Göttliches, Göttliches liebt Göttliches!

 

IX

Wer kennt die Mühen dieses Pfades? Wer kennt die Tücken, die Gefahren? Wer kennt seine wahre Dimension? Und wer kennt die Höhe dieses heiligen Berges?

Eins nur wissen wir: Viele Wegstücke können allein an der Hand eines Meisters gegangen werden, eines Wesens, das diesen Weg hinter sich hat; und wenn dieser Meister redet, schweigt der Schüler, hört zu und fasst, was ihm zu fassen möglich ist … und er vernimmt die Worte:

Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst.

Das ist der Auftrag; das ist die Arbeit … Das ist das Große Werk!

 

Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter.

Darum bittet den Herrn der Ernte,

dass er Arbeiter in seine Ernte sende.

Matthäus 9,37-38

 

Vorwort zum Buch über Maître Philippe, das 2009 im Novalis Verlag Quern-Neukirchen erschienen ist.

 

Gerhard Wehr

Wer sich an der Wende zweier Jahrtausende nach vorausschauenden, wegweisenden und impulsgebenden Gestalten des geistig-religiösen Lebens umsieht, der rechnet in der Regel damit, dass ihm in erster Linie die Namen von Männern und Frauen genannt werden, die bereits im Bewusstsein vieler beheimatet sind. Etwa berühmte Theologen, religiös und karitativ Wirkende, die in Wort und Schrift eine große Ausstrahlungskraft bewiesen haben; eben Menschen, die „man“ kennt, die im Gespräch sind und von denen man Richtungsweisendes erwarten zu können meint.

Daneben gibt es auch andere, die zu ihren Lebzeiten nicht oder kaum ins Rampenlicht der öffentlichen Diskussion getreten sind, Menschen, die zwar ebenfalls ihre Stimme erhoben haben, denen es aber offensichtlich nicht gegeben war, die wohlwollende Aufmerksamkeit der gerade dominierenden Autoritäten in Theologie und Kirche auf sich zu richten. Als „religiöse Außenseiter“ pflegt man – mit einiger Geringschätzung – solche Personen zu bezeichnen, auch wenn sie Erwägenswertes verlauten ließen, was jedoch offensichtlich nicht dem allgemeinen „Trend“ entsprach.

Einer von ihnen ist Alfons Rosenberg: der vielseitige spirituelle Schriftsteller, der Symbolkundige, ein Ökumeniker des Geistes, ein mit dem Charisma der Zukunftsschau ausgestatteter weltoffener Christ.

Auch wenn er als Vortragender und als Meditationslehrer nur eine relativ kleine Gemeinde von Freunden und Weggefährten um sich zu scharen vermochte, so hat er doch als Autor Ungezählten die Tiefendimension der Wirklichkeit erschlossen und für den eigenen Innenweg mancherlei praktische Anregungen vermittelt. Wer heute eines seiner Bücher zur Hand nimmt, der kann sich von der fortwirkenden Strahlkraft seiner Gedanken überzeugen. Allein schon dies rechtfertigt es, dass man sich in veränderter Zeitlage seines Schaffens erinnert und durch seine Gedanken anregen lässt.

Alfons Rosenberg, der einer begüterten jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte, wurde 1902 in München geboren, im 84. Lebensjahr stehend verstarb der bis ins hohe Alter Tätige 1985 in Zürich. Überaus bewegt und wechselvoll gestaltete sich seine Entwicklung zunächst als Maler, als Tänzer, als Kunsthandwerker und Bauer, ehe er 1949 zum Schriftsteller in Bereichen der Geistes- und Religionsgeschichte wurde. Damit entging er der familiären Bestimmung, die Leitung der großen Schuhfirma seines früh verstorbenen Vaters zu übernehmen. Von sich selbst sagt der Autor: „Erst nach der Mitte meiner bisherigen Lebenszeit wandte ich mich dem Schreiben zu. Bis dahin wirkte ich als Malergraphiker aus der Schule von Paul Klee und Wassily Kandinsky. Die Brücke vom Malen zum Schreiben bildete für mich die Symbolforschung. Denn ich war Ende der zwanziger Jahre, nachdem der Expressionismus ausgeglüht war, auf das Urphänomen Symbol gestoßen, in dem ich das Sinnliche und das Geistige, das Äußere und das Innere vereint fand. Diese Entdeckung wurde sodann das Fundament meiner gesamten schriftstellerischen Arbeit: das Symbol als Zeichen der Viel-Einheit.“

Politisch begeisterte er sich im München der frühen zwanziger Jahre für die Ideale der bayerischen Räterepublik. Früh zerstoben jedoch seine sozialistisch-utopischen Jugendträume. Sie hielten der Realität nicht stand. Der knapp Siebzehnjährige war am 21. Februar 1919 am Münchner Promenadeplatz Zeuge des Attentats auf den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner geworden. Unter der Überschrift „Der Tod eines Volkstribuns“ hat Rosenberg diese Begebenheit in seiner Autobiographie Die Welt im Feuer geschildert.

Ehe die Nationalsozialisten in den 30er Jahren seine Flucht in die Schweiz erzwangen, arbeitete er von 1925 an in strenger Arbeit als Bauer und Handwerker auf der im oberbayerischen Wörthsee gelegenen Insel Wörth. Schon während dieser Zeit, in der er das Neue Testament für sich entdeckte, fand er Zugang zu den im Symbol niedergelegten spirituellen Traditionen der Menschheit, angefangen bei der Astrologie als einer Möglichkeit, von der sinnenhaften Anschauung zu den Tiefenschichten von Sinn und Bedeutung im Gang der Menschheitsgeschichte vorzustoßen:

„Einer meiner ersten Versuche hierzu war eine Art Geistesgeschichte der Astrologie ‚Zeichen am Himmel‘, mit der Absicht, die Gnosis der Astrologie mit dem christlichen Glauben zu versöhnen. Diesem Werk folgte die Biographie des einst berühmten, dann vergessenen evangelischen Pfarrers Friedrich Oberlin, Sozialreformer, Pädagoge und Jenseitskundiger im Steintal der Vogesen. Sie wurde ergänzt durch die ‚Seelenreise‘, eine Sammlung von Dokumenten über das jenseitige Leben und dessen Wandelzustände aus dreitausend Jahren. Die Kult- und Wirkungsgeschichte des Erzengels Michael in dem Buch Michael und der Drache war der Vorläufer des zehn Jahre später veröffentlichten grundlegenden Engelbuches Engel und Dämonen, in das auch noch die Engel der Gegenwartskunst (Klee und Chagall) einbezogen waren.“

Im Schweizer Exil, das ihm bis zu seinem Lebensende zur Wahlheimat geworden war, trat er in einen vielfältigen geistigen Austausch mit profilierten Gleichgesinnten, die sein Schaffen in mehrfacher Hinsicht bereicherten. Die Freundschaft mit Olga Fröbe-Kapteyn, der Initiatorin der im Jahre 1933 eröffneten internationalen Eranos-Tagungen in Ascona am Lago Maggiore, ermöglichte ihm beispielsweise die Begegnung mit C.G.Jung. Er wurde ihm ein Vorbild und ein Lehrer, ebenso der Jesuit Hugo Rahner, der als der Begründer und Wiederentdecker einer die antiken Traditionen integrierenden christlichen Symboltheologie gelten kann. Dessen Werk Griechische Mythen in christlicher Deutung gab Rosenberg noch in seinem letzten Lebensjahr mit einem einfühlsamen Vorwort versehen heraus. Darin heißt es: „Die mythische Welterfahrung schlug allenthalben durch und gelangte durch Hölderlin und Novalis zu erneuter Gestalt. Heute – man schreibt das Jahr 1984 – ist es nicht anders. Während die Menge und das Gros der Wissenschaftler noch in der Brühe des Aufklärlichts schwimmt, sind einige von ihnen diesem entstiegen, so Walter Heitler, Adolf Portmann, Joachim Illies, Carl Friedrich von Weizsäcker oder die großen Mythologen dieses Jahrhunderts wie Walter F. Otto, Karl Kérényi, Dichter wie Erhart Kästner, Werner Bergengruen und Theodor Däubler, um nur wenige Beispiele zu nennen.“

Man wird nicht fehlgehen, wenn man behauptet, dass der Weg Alfons Rosenbergs durch innere Erfahrungen bestimmt war, die ihn an die esoterischen Überlieferungen der Menschheit heranführten. Seine bereits in jungen Jahren vollzogene Konversion vom Judentum zum Christentum entsprach einer inneren Begegnung mit Christus, die über das konfessionelle Kirchentum, den Protestantismus und den römischen Katholizismus, hinausweist. Jesus, der Jude Jeschua aus Nazareth, und die Wirkmacht des kosmischen Christus sollten lebenslang das Denken und Schaffen Alfons Rosenbergs bestimmen. Bei seiner Spurensuche stieß er aber auch auf ein vielgestaltiges Geistesgut mystisch-gnostischer Prägung, das er als Herausgeber und als vermittelnder Autor in einem Augenblick der Gegenwart zu vermitteln vermochte, als die Zeit dafür noch nicht reif zu sein schien, etwa in den fünfziger und frühen sechziger Jahren dieses Jahrhunderts. So betreute er unter anderem die im Münchner Otto Wilhelm Barth Verlag zwischen 1954 und 1960 erschienene zwölfteilige Buchreihe „Dokumente religiöser Erfahrung“.

Auf diese Weise machte er weithin vergessene Texte von neuem zugänglich, die als Belege für die lange vernachlässigte esoterische Dimension des Christentums gelten können. Unter ihnen beispielsweise Schriften des mittelalterlichen Sehers Joachim von Fiore oder die Chymische Hochzeit des Christian Rosencreutz, einen der Grundtexte des neuzeitlichen Rosenkreuzertums. In seinen Erläuterungen ging es ihm darum, das lange unbeachtet gebliebene spirituelle Traditionsgut mit Erfahrung und Einsichten der Gegenwart in Verbindung zu bringen und suchenden Zeitgenossen zugänglich zu machen. Er hatte gesehen, dass Geschichte nicht geradlinig verläuft, sondern dass in ihr spiralförmig erscheinende Zyklen aufeinander folgen. Auch sei in jedem Augenblick insgeheim schon ein Zukünftiges enthalten, das zur Manifestation drängt. Seine besondere Aufmerksamkeit richtete er immer wieder auf ein qualitatives Zeitverständnis und auf bevorstehende Entwicklungsmöglichkeiten der Christenheit: „Beunruhigt durch den Einsturz der abendländischen Wertordnung, mit dem Wunsche zu klären, was dem vergehenden Aeon, was dem in die Zukunft weisenden Werden unserer gegenwärtigen Zustände angehört, erneuerte ich in dem Werke Durchbruch zur Zukunft (1958) die bis in die Antike zurückreichende Weltalterlehre und gelangte dadurch zu fundamentalen Erkenntnissen, die mir eine Prognose für die nächsten Jahrhunderte der europäischen Geschichte erlaubten.

– Eine ungeheure Erweiterung meines geistigen Horizontes wurde in mir schließlich durch die Begegnung mit dem Werk Wolfgang Amadeus Mozarts bewirkt. Ein neues Mozartbild liegt meiner Deutung der ‚Zauberflöte‘ (1964) und danach des ‚Don Giovanni‘ (1968) zugrunde.“

Solche kultur- und geistesgeschichtlichen Studien ergänzte Rosenberg durch seine ungefähr gleichzeitig einsetzende Beschäftigung mit der Meditation, speziell mit der Meditation des Kreuzes als eines universellen, gesamtmenschheitlichen Symbols sowie der Christlichen Bildmeditation, die er 1955 im gleichnamigen Werk zur Darstellung brachte. Vorbereitet und praktisch eingeübt wurde das meditative Geschehen im Rahmen von zahlreichen Kursen. Der frühe Beginn dieser Tätigkeit zeigt, dass Alfons Rosenberg zu den Wegbereitern der christlichen Meditationsbewegung gehört. Eine ausgedehnte Vortragstätigkeit ergänzte sein schriftstellerisches Schaffen. Der Kreis seiner Schüler und Freunde erhielt von 1958 an die mit einer gewissen Regelmäßigkeit ausgesandten „Flugblätter … Aus der Werkstatt von Alfons Rosenberg“. Es handelte sich um Aufsätze, Mitteilungen und Entwürfe, durch die er aus seinem Schaffen berichtete und über ausgewählte Stationen seines Lebenswegs von Fall zu Fall Rechenschaft ablegte. Auf die Frage, was seinem Tun und den einzelnen Themen seiner zahlreichen Publikationen gemeinsam sei, pflegte er einmal zu antworten: „Meine Bücher blicken alle von der Grenze, dem irdischen Leben, auf die Mitte der Einung und des Friedens. Und diesem Bezug wollen sie dienen.“

Aufgrund der Einsicht, dass die uns zugestandene Zeit nicht allein eine messbare und damit quantitative Größe darstellt, beschäftigte sich Rosenberg mit dem qualitativen Charakter der Zeit, das heißt mit ihren rhythmischen Gesetzmäßigkeiten und Wandlungsvorgängen, mit der Abfolge von Zeitperioden und Weltaltern. In dem erwähnten Buch Durchbruch zur Zukunft hat er 1958 erstmals wesentliche Ergebnisse seiner Studien in einem größeren Zusammenhang niedergelegt. Da heißt es: „Die Gegenwart, der wir verpflichtet sind, kann heute und niemals nur aus sich selbst begriffen werden. Sie aber nur zu erleiden genügt nicht. Der Mensch ist ein von Gott absichtsvoll in die Welt gesetztes Wesen, darum sind ihm Setzungen, Sinngebungen aufgetragen – und ohne solche, die ihn erst in den größeren Zusammenhang einreihen, verdirbt das Werk seiner Hände. Gerade weil nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft Quelle der Gegenwart ist, erweist es sich als notwendig, dass sich der Mensch in schöpferischer Überschau über die Gegenwart erhebt und es unternimmt, Entwürfe für die Zukunft bereitzustellen, sei es als rationale Konstruktion oder als irrationale Utopie, deren geschichtsbestimmende Macht sich heute erneut beweist. Wird solches versäumt, besteht die Gefahr, dass der Mensch es nicht mehr vermag, die Gegenwart auf die Zukunft hin zu gestalten.“

Sieht man einmal von den weit ausholenden Darstellungen und Prognosen ab, die Rosenberg in seiner Entfaltung der traditionellen Weltalter-Lehre unternommen hat, dann ist es vor allem der Ausblick, der sich ihm auf die Zukunft der Christenheit ergeben hat. Er spricht geradezu vom „Experiment Christentum“, das den ebenso wachen wie zukunftserschlossenen Menschen in der Nachfolge Christi heute aufgetragen und zugetraut sei. Der Publizist Hans Jürgen Schultz veranstaltete vor vier Jahrzehnten im Süddeutschen Rundfunk ebenso umfängliche wie perspektivenreiche Sendereihen, die er unter die Überschrift „Kritik an der Kirche“, über christliches Ketzertum sowie über „Frömmigkeit in einer weltlichen Welt“ stellte. Alfons Rosenberg gehörte nicht nur lange Jahre hindurch zu seinem illustren Mitarbeiterkreis, sondern er trat seinerseits mit Entwürfen an die Öffentlichkeit, in denen er darlegte, inwiefern die Christenheit eine Übergangsphase zweier Zeitalter durchzustehen habe und worauf sie sich einstellen müsse, wenn sie den an sie gerichteten Herausforderungen gewachsen sein wolle.

Mit bloßer Kritik an äußeren Formen des Kirchentums begnügte sich Rosenberg ebenso wenig wie mit einem Aufruf zu einer moralischen Umkehr. Sein für die Phänomene geschärftes Auge richtete sich zum einen auf die „Zeichen der Zeit“, deren spirituelle Signatur er zu entschlüsseln versuchte. Zum anderen war er bestrebt, bei seinen Zeitgenossen einen Sinn für das Kommende zu entwickeln, für die wieder zu gewinnende Urgestalt und für die Zukunft des Christentums: „Mir wurde durch langjährige religionsgeschichtliche Studien klar, dass auch ein so mächtiger Baum wie die evangelische Botschaft, die sich in der Kirche ausgefaltet hat, aus vielen tiefreichenden Wurzeln gewachsen ist. Mir wurde immer deutlicher, dass das Christentum kein Monolith ist, sondern aus vielen Quellgründen genährt wurde und noch immer genährt wird. Verleugnet man aber in rechthaberischer Orthodoxie die Nährkraft dieser vorchristlichen Quellflüsse, so entsteht ein abstraktes, in intellektueller Dogmatik erstarrtes Christentum, das es nicht mehr vermag, die Herzen zu ergreifen und Begeisterung zu erwecken. Meine Mitgift aber war, als ich – aus dem Judentum kommend – zur Kirche heimfand, die Wiederherstellung der Quellflüsse, aus denen sich die Kirche einst öffentlich nährte, aber auch heute noch insgeheim nährt.“

Mit diesen Worten aus seiner Autobiographie Die Welt im Feuer – Wandlungen meines Lebens ist bereits angedeutet, worin Rosenbergs Beitrag zum „Experiment Christentum“ zu bestehen hatte. Da ist zunächst einmal nüchterne Bilanz zu ziehen. Der Autor überblickt die letzten beiden Jahrhunderte, in der das Christentum in einer sich erweiternden Welt „nicht mitgewachsen“ sei. Wer wie er über einen „Durchbruch zu einem reicheren, größeren Leben, zum umfassenden Christus“ nachdenkt, der wird sich der spirituellen Enge und Eingeschränktheit der Konfessionskirchen sowie deren rückwärtsgewandten hierarchischen Herrschaftsstrukturen bewusst.

Er muss auf Ausblicke und auf Wege sinnen, die ins Offene weisen. Rosenberg dachte über eine „Strukturänderung von Glaube und Kirche“ nach. Dabei kam ihm die besondere Fähigkeit zustatten, die Symbolhaltigkeit der Wirklichkeit zu erfassen. Er schreibt: „Gott tut nicht zweimal das gleiche Ding … Wir ehren heute zwar das Vergangene, bewundern die einstige Größe der Kirche, aber dennoch sind wir im Begriff, von ihrer bisherigen Gestalt Abschied zu nehmen. Auf diesem Wege genügt jedoch nicht die bloße Anpassung der bisherigen Glaubensformen an die neuen Lebensverhältnisse. Das mag vielleicht vordergründig und taktisch richtig sein, doch hindert bloße Anpassung den schöpferischen Akt der Umwertung und Umbildung, der heute von uns gefordert ist. … Es ist darum bereits zu spät, bloß zu reformieren.“

Auf die Frage, wie sich der gemeinte Strukturwandel zur Verdeutlichung ins Bild setzen lasse, antwortet Rosenberg mit einem Vergleich: „Bisher hat sich die Kirche unter den evangelischen Bildern vom Felsen und vom Baum verstanden: als den harten, unzerstörbaren, allerdings auch unlebendigen und unwandelbaren Felsen einerseits, andererseits als den aus einem Senfkorn bis in den Himmel wachsenden Baum des Lebens. Die Gegensätze von Unwandelbarkeit und Wachstum waren bisher die Grundprinzipien der Kirche. Ein drittes evangelisches Symbol trat jedoch noch nicht ins Blickfeld: das bewegliche Netz, das weder unwandelbar ist noch einem Wachstumsgesetz untersteht.“

Auf die Kirche übertragen heißt das: Die Christenheit und der christliche Glaube der Zukunft werden einem solchen Netze gleichen, das – mehr unsichtbar als sichtbar – ins stürmische Meer der Welt versenkt wird, ein Fischernetz von besonderer Art. Die Kirche der Zukunft werde daher nicht länger ein in sich gefügtes, ein statisch-starres Gebilde bleiben können, als das sie sich je nach Konfession und Frömmigkeitsstil darstellt. Sie werde sich einem grundlegenden Wandlungsprozess unterziehen müssen. „Ein Netz ist wesentlich labiler … Fels und Baum haben Gestalt und Schönheit. Dem Netz ermangeln diese. Die Kirche als Fels und Baum repräsentiert durch ihre Erscheinung. Sie kann sich selbst verherrlichen und hat dies in sowohl großartiger wie hybrider Weise im Laufe ihrer Geschichte immer wieder getan. Das Netz aber ist seiner Funktion nach dann am gemäßesten, wenn es unsichtbar wird. Dennoch wird die künftige Kirche auch keine abstrakte ecclesia spiritualis, keine lebensferne ‚Geistkirche‘ sein, denn der Geist manifestiert sich in konkreten Gestalten. Er manifestiert sich nicht als bloße dogmatische Form, sondern als eine lebenerzeugende Dynamis.“

Nun sind im Laufe der Jahrhunderte, auch während der letzten Jahrzehnte immer wieder prophetische Gestalten, „Rufer in der Wüste“, auf den Plan getreten. Die Summe ihrer Einsichten und Erkenntnisse hat sich da und dort nicht immer in spektakulärer Weise ausgewirkt. Das trifft auch auf Alfons Rosenberg zu, der sich bei seinem Tun ein Wort Martin Bubers zueigen gemacht hat.

Es ist ein Wort, das den Kritiker an der in die Krise geratener Kirche wie den in die Zukunft Blickenden auf jedes Erkenntnismonopol verzichten und Bescheidenheit üben lässt. Buber sagt: „Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.“

So wollen Rosenbergs Ausführungen zu dem „Experiment Christentum“ als Gesprächsbeiträge und als Fingerzeige verstanden werden. Zunächst eine weitere nüchterne Feststellung: „Die Erwartung der ‚Zukunft des Christentums‘, im Wissen um die Vergänglichkeit der historischen Formen der Kirche, kann sich trotz möglicher sachlicher Argumentation im Grunde nur auf die Verheißung Christi berufen: ‚Himmel und Erde werden vergehen, aber mein Wort wird nicht vergehen.‘ Sich daran erinnernd kann man getrost dem Wandel der Formen des christlichen Glaubens entgegensehen … Wir gehen keineswegs einem idealen Weltzustand entgegen, sondern einem Massenzeitalter, innerhalb dessen sich der einzelne, so sehr für ihn gesorgt wird, nur mit Mühe und Unbehagen wird behaupten können.“

Der Theologe Emil Brunner, ein Weggefährte Karl Barths, dessen Vorlesungen Rosenberg an der Universität Zürich gehört hatte, machte einst darauf aufmerksam, dass die Theologen aus den Traditionskirchen „das Monopol der Christusverkündigung längst verloren“ haben. Die Gültigkeit dieses Wortes steht längst außer Frage. Für Rosenberg drückt sich der notwendige, sich zumindest langsam anbahnende Strukturwandel darin aus, dass die Klerikerkirche ebenso wie die immer noch dominierende Theologenkirche abgewirtschaftet haben. Die hierarchische Exklusivität, die maßlose Überbewertung des Priestertums beim Vollzug der Sakramente, die ethische Bevormundung der Gemeinde im Katholizismus, aber auch die immer fragwürdiger werdende Dominanz einer entspiritualisierten Theologie im Protestantismus stehen im eklatanten Widerspruch zum Evangelium. Ein ganz anderer Wesenszug christlicher Verwirklichung ist für die Zukunft angezeigt:

„Am Ende der Neuzeit wächst aus dem Verborgenen, von der Sehnsucht Zahlloser heraufbeschworen und genährt, eine dritte Weise der Kirche unter uns auf. Ihr Same ist über die ganze Christenheit ausgestreut, ja, es hat den Anschein, als sei er auch teilweise auf die Saatfelder der Nichtchristen gefallen. Es ist dies die Bruder-Kirche – falls die Verbindung von Bruderschaft und Kirche künftig noch angebracht sein wird. Es ist dies die Gemeinschaft der durch Christus als Brüder und Schwestern Zusammengeführten.“

Von daher ergeben sich mancherlei Konsequenzen, die sich in mehrfacher Hinsicht ergänzen müssen. Es sind Folgerungen für die Wiedergeburt des Gottesbildes und der Christusanschauung ebenso wie für die Weise der Schriftauslegung und der Verkündigung, nicht zuletzt aber für das gemeinsame Leben derer, die in Christus zu einer geistlichen Gemeinschaft verbunden sind. Da ist zunächst das Gottesbild als solches, das wie jede menschliche Vorstellung von Zeit zu Zeit der Veränderung unterworfen ist: „Gottesbilder können sterben, wenn sie nicht mehr imaginiert werden können, wenn die inneren und äußeren Voraussetzungen, die ihr Hervorgehen ermöglicht und bedingt haben, geschwunden sind … Gott als Bild, Vorstellung und Botschaft kann nur so lange sinngebend wirken, als er auf das Ganze des Lebens bezogen werden kann … Aber das Gottesbild stirbt, das heißt es verliert seine seelenergreifende Kraft und hört auf, durch numinose Mächtigkeit Menschen zu binden und zu verpflichten, wenn es vom Ganzen abgespalten, zum Beispiel nur noch auf ein Volk oder nur auf die innere Welt bezogen ist. Dann wird Gott unverständlich und schließlich sinnlos. Doch nur, wenn der Mensch die Macht, die sein Leben bestimmt, als sinnvoll erfährt, wird er bereit sein, die ‚Last Gottes’ auf sich zu nehmen und sich in die durch tätigen Glauben sich verwirklichende Gemeinschaft einfügen.“

Von daher fällt Licht auf die Gestalt Jesu. Auch sein Bild, die Vorstellung, die wir uns von diesem in vieler Hinsicht geheimnisvollen und rätselhaften Mann aus Nazareth machen, ist im Gang der Zeiten der Wandlung unterworfen. In seinem Fragment gebliebenem Jesus-Buch Jesus der Mensch widerspricht der selbst aus dem Judentum kommende Autor energisch einer heute wieder gängigen Rejudaisierung des Nazareners. Er widerspricht damit dem nicht allein von jüdischen Schriftstellern unternommenen Versuch seiner „Heimholung in den Geist- und Volksbereich des Judentums, das er auf so nachdrückliche Weise hinter sich gelassen“ hat, und zwar bis in seinen Tod hinein. Welch anderer, welch neuer Aspekt ist dann der Gestalt Jesu abzugewinnen, damit sie, heutigem Bewusstsein gemäß, in einem neuen Licht erstehen kann? Die Antwort lautet: „Es ist nun einmal so, dass die alten Christusbilder verblassen, ein Prozess, dessen Verlauf von Jahrzehnt zu Jahrzehnt beschleunigter verläuft. Große, erhabene Bilder von Jesus sind in den vergangenen Jahrhunderten am Horizont des menschlichen Bewusstseins und der Imagination emporgestiegen. Nun sind sie über die Höhe des Bewusstseins gewandelt und sanken dann unter den abendlichen Horizont wieder hinab. Die Kirche kann jene großen Christusbilder, durch welche bisher Kunst, Ritus, Moral und Sozialverhalten geprägt wurden, nicht mehr glaubwürdig herstellen. Wenn Jesus noch künftig als Leitstern des Menschseins wirken soll, bedürfen wir einer neuen Anschauung der unausschöpflichen Gestalt des großen Menschen.

Ob und wie die Kirche künftig sein wird, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Denn Jesus wirkt auch über die Kirche hinaus, aber die Kirche wird ihres Kernes ledig, wenn sie Jesus in ihre alten, einmal gültigen Vorstellungen einsargt.“

Wie verhält es sich aber mit der Bibel Alten und Neuen Testaments? Bedarf nicht auch sie einer neuen Einstellung des Lesers, damit aus den uns überkommenen irdenen Gefäßen etwas von der unerschöpflichen Botschaft von neuem zugänglich werden kann? – Was die Schriftauslegung anlangt, so ist im Laufe von Jahrhunderten ein Höchstmaß an philologischer und technologisch-exegetischer Gelehrsamkeit auf die ältesten Glaubenszeugnisse der Christenheit verwandt worden. Der von der historisch-kritischen Schriftforschung erbrachte wissenschaftliche Ertrag ist das eine. Er förderte jedoch offensichtlich nicht ein inneres Verständnis für das „Wort in den Wörtern“. Er trug vielmehr dazu bei, dass der geistliche Gehalt des göttlichen Wortes mehr und mehr in den Hintergrund trat.

Wie soll die „viva vox Evangelii“, die lebendige Stimme des Evangeliums, zum Menschen sprechen, wenn lediglich nach historischer Echtheit, nach Entstehungszeit und Überlieferungsform gefragt wird? Weil Alfons Rosenberg symbolkundig und im Jung’schen Sinne tiefenpsychologisch geschult sich darin übte, die biblische Botschaft auf sich wirken zu lassen, gewann er Einblicke in die spirituellen Tiefenschichten des Neuen Testaments. Mit Joachim von Fiore, dem mittelalterlichen Seher, lernte er, auf das „ewige Evangelium“ Acht zu haben, das aus den Aufzeichnungen der Evangelisten spricht.

Er fühlte sich mit jenen verbunden, die die esoterische, das heißt die innere Dimension des evangelischen Wortes zuwandten. Es sind dieselben, für die Pistis und Gnosis, also Glaube und Erkenntnis, aufeinander bezogen bleiben. Mit Gnosis ist jedenfalls die der religiösen Erfahrungen angemessene Erkenntnisart gemeint. Daher Rosenbergs These: „Ein – so verstandenes – gnostisches Verständnis, ein Verständnis der Tiefendimension der Evangelien, ihre spirituelle Interpretation scheint der einzige Ausweg zu sein aus dem ‚Gott-ist-tot-Sumpf‘ (vor dem einst der amerikanische Theologe Harvey Cox gewarnt hat) … Die Wiedergewinnung der Ganzheit, der Erkenntnis des Lebens aus der Mitte … ist im übrigen die dringlichste Aufgabe für diese Zeit. Sollte ihre Lösung – wider Erwarten – nicht gelingen, gehen wir der Atomisierung nicht nur der Kultur und der Religion, sondern auch des Menschen entgegen.“

Angesichts des Zerfalls der personalen Beziehung unter den Menschen, auch angesichts der immer bedrohlicher werdenden Pseudo-Kommunikation durch elektronische Medien, die in absehbarer Zeit katastrophale Auswirkungen annehmen dürfte, wird schließlich ein anderer Zukunftsaspekt wichtig. Hatte einst Platon verkündet: „Gott bringt den Freund zum Freunde“, so blickt Alfons Rosenberg prophetisch-sehnsuchtsvoll nach der Heraufkunft der Freundschaft, wie sie im Johannesevangelium verheißen ist: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte … Ich nenne euch Freunde, denn alles, was ich vom Vater gehört habe, das habe ich euch kundgetan“, sagt Jesus. Und weiter: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde!“ Und eine der drei Liebesfragen, die der Auferstandene bald prüfend, bald ermunternd an Petrus richtet, lautet: „Phileisme – bist du mein Freund?“ – So geht es um die johanneische Philiá, um die Freundschaftsgestalt menschlicher Beziehung, die als Ziel einer großen Sehnsucht, als einer Lebensnotwendigkeit angesichts der genannten Gefährdungen für die Zukunft christlicher Existenz unverzichtbar geworden ist. Rosenberg bemerkt hierzu: „Zwar hat Jesus die Geschlechterliebe keineswegs abgewertet. Er weiß um ihre fundamentale Bedeutung. Aber dennoch verkündet er über sie hinaus, als Mitte zwischen der Geschlechterliebe und der geistigen Liebe; jene ‚dritte Weise’ der Liebe, den ‚Eros uránios’, der in der Freundschaft menschliche Wirklichkeit wird und in dessen Realisation der Mensch erst zur Fülle seines Menschseins gelangt, zum Frieden mit Gott, mit sich und dem Nächsten.“

Wie diese zwischenmenschliche Beziehungskraft erprobt und ins konkrete Leben übertragen werden kann, lässt sich nicht durch normsetzende Vorgaben bestimmen. Diese Freundschaft, die im Laufe der Menschheitsgeschichte – bald gelingend, bald scheiternd – bereits vielfältige Formen erlebt hat, entspricht einer einzigen großen Einladung zu spirituell-realer Umsetzung. Sie gehört jedenfalls zu jenem in den Blick gefassten „Experiment Christentum“, das mit dem Wandel unseres Gottes- und Christusbildes ebenso korrespondiert wie mit der Bemühung um ein spirituelles Verständnis des Evangeliums.

Wohl ist einzuräumen, dass Jesus als Verkünder und Inbegriff der Philia, dieser Gottes- und der Menschenfreundschaft, bisher nur von wenigen, dafür charismatisch Begabten erahnt und verwirklicht worden ist. Einzuräumen ist ferner, dass das Verlangen nach existentieller Freundschaft seinerseits gefährdet ist, durch Selbsttäuschung wie durch Verkennung jeglicher Art. Und doch hat Alfons Rosenberg Fragen gestellt, Zeichen gesetzt und Hinweise gegeben, die ermutigen. Prüfen wir doch, inwiefern auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend gilt, was er bereits vor dreieinhalb Jahrzehnten niedergeschrieben hat:

„Wir stehen in einer Weltrevolution des Evangeliums und seines Verständnisses, mitten in der Revolution der Liebe – im Anbruch eines Zeitalters der Freundschaft.“

10.01.2012

Die Sophien-Ritter

Natalja Bonezkaja

Die Gestalt des Wladimir Solowjew (1853-1900), jenes Visionärs und Ritters der Himmlischen Sophia, der zugleich herausragender Philosoph und Dichter war, ist eine Schlüsselfigur der neueren russischen Geistesgeschichte. Mit vollem Recht kann man von einem mächtigen Impuls für die russische Kultur sprechen. Solowjew hat die Grundlagen der traditionellen Religion Russlands erschüttert und ein auf seinen persönlichen Sophien­Erfahrungen beruhendes neues Bild des Christentums gezeichnet.

Die erste Welle, die durch das Phänomen Solowjow hervorgerufen wurde, war der russische Symbolismus der ersten ein bis zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit seinem allgemein-weltanschaulichen Anspruch (hierin unterscheidet er sich von seinem westeuropäischen Vorläufer, der eine rein ästhetische Erscheinung war). Die entsprechende Epoche wird Silbernes Zeitalter der russischen Kultur genannt.

Aber die Ideen Solowjows lebten auch in den nachrevolutionären Jahren weiter, in der wohl tragischsten Zeit der neueren russischen Geschichte. Gerade damals wurden Versuche unternommen, Solowjows Ideen in die Praxis umzusetzen, sein Bild eines neuen Christentums zu realisieren und die Wirklichkeit der Göttlichen Sophia zu erleben. Innerhalb der religiös ausgerichteten Bildungsschicht erinnerte man sich wieder an Solowjews Hauptideal: die universale Kirche, die mit der Idee der ganzheitlichen Schöpfung eng verbunden ist und eine Widerspiegelung der Göttlichen Sophia in der Welt darstellt. Pläne für Sophien-Vereinigungen wurden entworfen, in denen man Keime für die christlich-sophianische Kirche der Zukunft sah.

Das erste dieser Projekte war eine Bruderschaft der Heiligen Sophia in der Emigration, deren Oberhaupt Sergius Bulgakow (1871-1944)1 wurde, ein Geistlicher und hervorragender russischer Denker, der zugleich ein bemerkenswerter Mensch war.

Eine geistige Sophien-Kathedrale

In den letzten Jahren sind sowohl in Russ­land als auch in der russischen Emigrantenpresse außerordentlich interessante Archivmaterialien veröffentlicht worden – die Tagebücher, die Pater Sergius zu Beginn der 1920er Jahre geschrieben hat, sein Traktat An den Mauern von Chersonis (geschrieben auf der Krim im Dezember 1922 unmittelbar vor seiner Abreise in die Emigration), und auch die Sitzungsprotokolle der Bruderschaft der Heiligen Sophia sowie der Briefwechsel von deren Mitgliedern (2). Diese Texte offenbaren uns ein neues Antlitz von Pater Sergius – das eines christlichen Mystikers – und präsentieren mit der Geschichte der Bruderschaft den ersten Versuch von russischen Intellektuellen, in der Emigration eine geistige Sophien-Kathedrale zu erbauen.

Die Quellen für diese Organisation finden sich in Russland. Die Personen, die später die Bruderschaft gründeten, hatten für ihr Werk 1919 den Segen von Patriarch Tichon (3) empfangen. Zu dieser Zeit waren im christlichen Russland deutlich zwei religiöse Typen, zwei verschiedene geistige Haltungen hervorgetreten – eine sophianische und eine a-sophianische (4).

Diese Einteilung gab es jedoch schon früher (5). So hatte zum Beispiel der genial-scharfsinnige Dostojewski in seinem Roman Die Brüder Karamasow das Christentum des Starez Sossima, das die Welt der Geschöpfe liebend annimmt, der „monophysitischen“ Askese des Mönches Ferapont gegenübergestellt. Das „a-sophianische“, „unweltliche“ Christentum konnte sich auf einen Jahrhunderte alten Weg, eine ausgearbeitete geistige Praxis und Myriaden byzantinischer, syrischer und russischer Heiliger berufen; die „sophianische“ Tendenz dagegen verkörperte sich in einzelnen meist schöpferischen Persönlichkeiten, in deren geistiger Erfahrung es äußerst schwierig ist, irgendwelche gemeinsame Merkmale zu entdecken.

Die Vertreter des sophianischen Christentums betrachteten ihre Weltanschauung als „kosmische“; sie bestanden auf dem absoluten Wert der einzelnen Person und verbanden die religiöse Dimension mit der als göttlich aufgefassten Schöpfung und mit kulturellen Werten. „Das ist der Menschentyp, der den Glauben und die Ergebenheit an die Kirche verbindet mit Liebe und positiver Bewertung des Wissens, der philosophischen Kultur und der geistigen Freiheit“, schrieb der russische Philosoph Semjon Frank (6), Mitglied der Bruderschaft der Heiligen Sophia, über die „sophianischen“ Christen. Diesen ging es gerade nicht um eine einfache Koexistenz von Gottesglauben und Liebe zu Musik und Dichtung in der Seele, sondern darum, die religiöse Tragweite der künstlerischen Tätigkeit anzuerkennen. Kreatives Schaffen bedeutete für sie einen der Wege zu Gott, Genialität eine Art von Heiligkeit.

Die Blüte des Silbernen Zeitalters in der Emigration

Es war die Blüte der russischen Kultur des Silbernen Zeitalters, die in die Emigration gegangen war und dort die Bruderschaft bildete: der existentialistische Philosoph N. Berdjajew, der brilliante Theologe G. Florowski, der Metaphysiker N. Losski, der Kirchenhistoriker A. Kartaschow… Ihren Büchern verdankten wir Studenten der 1970er Jahre, dass wir im sowjetischen Russland zum Glauben finden und seine Wahrheiten studieren konnten; aus ihren Händen empfingen wir das Christentum in jener Gestalt, die es im 20. Jahrhundert nur haben konnte: voller tragischer Dissonanzen, neue Wege zu Christus einschlagend, eine verfeinerte Seele fordernd und ebenso die Fähigkeit zu intim-tiefem und herzlichem Umgang mit dem Nächsten.

Heute besteht für uns die Aufgabe, sich in diese Tradition einzureihen, sie zu unterstützen und zu bereichern – freilich gemäß unseren Kräften, wobei jene Kluft zu berücksichtigen ist, die diese hervorragenden Vertreter der alten russischen Kultur, die noch eng mit der Weltkultur verbunden war, von uns, die wir uns mit großen Anstrengungen den Weg aus dem Dunkel der Sowjetzeit zum Licht bahnen, trennt.

Die Vorgeschichte der Bruderschaft

Bulgakows Leben in Russland war, außer mit Orlowschtschina, Moskau und Kiew, eng mit der Krim verbunden: 1898 heiratete er Jelena Tokmakowa, die aus dem kleinen Ort Koreïs (in der Nähe von Jalta) stammte und die Tochter des Weinhändlers I. Tokmakow von der Krim war. Die Sommermonate verbrachte er auf dem Gut seiner Schwiegereltern. Auf dem Friedhof von Koreïs ist Bulgakows Sohn Iwaschetschka (1905-1909) begraben (7). In Verbindung mit dem Tod dieses engelgleichen Kindes durch Nierenentzündung erlebte Bulgakow eine religiöse Offenbarung (die etwas vom Opfermysterium des Göttlichen Vaters wiederspiegelt) und kehrte von marxistischen Bestrebungen zum Glauben seiner Vorfahren zurück.

Am zweiten Pfingstfeiertag des Jahres 1918 – als die Revolution ihren Höhepunkt erreicht – wird Bulgakow mit dem Segen des Patriarchen Tichon zum Priester geweiht. Zwei Wochen später reist er zu seiner Familie auf die Krim. Der für einen Monat geplante Aufenthalt verlängert sich, da er wegen des Bürgerkrieges trotz aller Bemühungen nicht nach Mos­kau zurückkehren kann. Eine Zeitlang hält er Vorlesungen an der Universität Simferopol, wird aber wegen seines Priestertums entlassen. Wie durch ein Wunder gelingt es ihm, in der Alexander Newski-Kathedrale in Jalta eine Stelle zu bekommen, und so zieht er mit seiner Familie in das Haus neben der Kathedrale (8). Bis zu seiner Verhaftung im Oktober 1922 übt er in der Kathedrale sein Priesteramt  aus.

Während der Haft wird er als Priester, der die Beichte abnimmt, Zeuge der schrecklichen Leiden, die diesen Menschen in den Jahren des Krieges und des Zusammenbruchs angetan wurden. Von den geistigen Erlebnissen Bulgakows, von seinem tiefen Gefühl der Schuld und des eigenen Unwürdigseins berichtet uns sein Tagebuch aus Jalta.

Die Regierung beschließt, Bulgakow aus Russland auszuweisen, und so reisen er und seine Familie am 30. Dezember 1922 mit dem Dampfer von Sewastopol nach Konstantinopel.

Somit hat Bulgakow unmittelbar vor dem Verlassen seiner Heimat vier Jahre lang ununterbrochen auf der Krim gelebt. In Konstantinopel angekommen, besucht er Justinians Sophien-Kathedrale aus dem 6. Jahrhundert, die von den Türken in eine Moschee umgewandelt worden war. Das Betrachten der architektonischen Formen der Kirche wird für ihn zu einer Begegnung mit der Göttlichen Sophia selbst; er spürt dort ihre Anwesenheit. „Der Seele hat sich etwas Absolutes offenbart, etwas Unanfechtbares und Offensichtliches… Das ist die Kirche, ‚der Dom‘ (9) im absoluten und unbestreitbaren Sinne, die universale Kirche… Das ist wirklich die Sophia, die zeitgemäße Einheit der Welt im Logos, die Verbindung alles mit allem, die Welt der göttlichen Ideen“. Für Bulgakow ist „die Kathedrale der Heiligen Sophia ein künstlerisches und folglich anschauliches Zeugnis […] für die Erscheinung der Heiligen Sophia, für ihre kosmische Dimension und die sophianische Natur des Kosmos“ (10).

In Konstantinopel befasst sich Bulgakow besonders intensiv mit der Idee der Universalen Kirche, wobei er in Justinians Sophien-Kathedrale ihr Symbol sieht, das eine große Zukunft in sich trägt: Die Kirche wird – so der Wunschtraum Bulgakows – zu den Christen zurückkehren, wenn sie die Teilung von West und Ost überwunden haben…(11)

Erfüllt von der Idee der Sophia, die sich in Bulgakows Seele immer tiefer einwurzelt und immer neue Bedeutung erlangt, wendet sich der Philosoph nach Bulgarien; er lebt in Sofia (sic!), anschließend in Wien, ehe er schließlich nach Prag reist. Hier gründet er im September 1923 gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter die Bruderschaft der Heiligen Sophia – den Keim für die zukünftige geeinte Kirche. In der Folge verlagert sich das Wirken der Bruderschaft nach Paris.

Die Idee der Sophia hatte sich bei Bulgakow auf metaphysisch-theologischer Ebene im Verlauf der 1910er Jahre herausgebildet. In den 1920er Jahren machte sie einen qualitativen Entwicklungssprung durch und erstreckte sich von da an auf das Gebiet der Praxis.

Sophia – die geeinte Universale Kirche

Noch in Jalta hatte Bulgakow einen Traktat in der Form von Platons Dialogen verfasst: An den Mauern von Chersonis, in dem er eine praktische Variante seiner Idee der Sophia ausarbeitet, die zur Realisierung im Leben bestimmt ist. Die Dialogteilnehmer sind: der Laientheologe Beschenez, ein gelehrter Geistlicher und ein Gemeindepriester. Auch wenn Bulgakows eigene Position derjenigen von Beschenez am nächsten kommt, kann man dennoch nicht sagen, dass sie damit völlig überein stimmt. In den Repliken aller Personen findet sich ein existentielles Element (12) – Bulgakows eigene Seins-Intuitionen. Deshalb handelt es sich bei An den Mauern von Chersonis um Dialoge, die unmittelbar in Bulgakows Innerem stattfinden: Die Wahrheit, wie sie der Denker auffasst, bildet sich im Streitgespräch der fiktiven Gesprächspartner heraus.

Bemerkenswert ist, dass Bulgakow diese Dialoge mit einer künstlerischen Beschreibung des Ortes und der Zeit anfangen lässt, sie also als dramatische Szenen darstellt. Der Philosoph sieht folgende Dekoration auf der fiktiven Bühne: „Mondnacht auf der Krim am Schwarzen Meer, in der Nähe der Ausgrabungen von Chersonis, in Sicht des Klosters von Chersonis. In der Ferne die Umrisse der Landzunge von Fiolent, der Überlieferung nach Ort der Opferstätte der Artemis (13)“.

Die Gestalt der Artemis lässt sofort an Sophia denken. Was die Gründe dafür betrifft, dass Bulgakow den rein spekulativen Inhalt des Traktats an die Ruinen von Chersonis knüpft – an jenen Ort, wo die byzantinischen Priester den russischen Großfürsten getauft haben, so geht es hier darum, dass „die Krise von Chersonis“ als Schürzung des „Sujets“ des Traktats erscheint: Die Wurzel für alles russische Elend, darunter die bolschewistische Revolution und den Bruderkrieg, sieht Bulgakow in der Tatsache, dass Großfürst Wladimir im Jahre 988 gerade von Byzantinern getauft wurde, wodurch das historische Schicksal Russlands an den konservativen Osten gebunden worden sei. Es ist offensichtlich, dass Bulgakow hier beinahe wörtlich seinen Vorläufern folgt: W. Solowjow und P. Tschaadajew.

Ungeachtet des glänzenden Gedankenspiels und der sehr interessanten, auch für die heutige Zeit äußerst kühnen Behauptungen, ist Bulgakows Hauptthese einfach. Beim tragischen Bruch zwischen dem christlichen Osten und dem christlichen Westen im Jahre 1054 ist die Kirche mit ihrer überirdischen, sophianischen Basis im metaphysischen Sinne eine geeinte Kirche geblieben. Diese Einheit, behauptet Bulgakow, ist auch in der Geschichte bereits wieder hergestellt worden, – und zwar auf dem Konzil von Florenz im Jahre 1438 [die sog. Florentinische Union], das als achtes ökumenisches Konzil (14) zu zählen ist und dessen Beschlüsse (insbesondere die Lehre vom filioque und dem Primat des Papstes) als allgemeingültig sowohl für die Katholiken als auch für die Orthodoxen anerkannt werden müssen.

Der Traktat An den Mauern von Chersonis ist am stärksten von allen Werken Bulgakows am Katholizismus orientiert; in der Folgezeit kehrte er sich von den meisten seiner pro-katholischen Schlussfolgerungen ab und seine aktive Teilnahme an der ökumenischen Bewegung bekam eine andere Färbung… So muss man also heute, laut Bulgakow, die kirchliche Einheit realisieren; auf der Basis dieser universalen Kirche wird dann ein weltumfassender Staat entstehen, er ist – das Reich Gottes auf Erden. Der Utopismus und heute auch das Unzeitgemäße dieser Ideologeme Bulgakows sind offensichtlich. Aber einen zweifellosen Wert besitzt seine Idee der geeinten Kirche, die er einige Jahre später in der Bruderschaft der Heiligen Sophia in die Wirklichkeit umzusetzen begann.

Der Traktat An den Mauern von Chersonis ist darüber hinaus wertvoll durch einzelne flüchtige (gleichwohl im Gespräch vorbeihuschende) Intuitionen, die von der erhabenen und edlen Seele des Denkers zeugen. Auch heute hat der folgende Gedanke Bulgakows seine Bedeutung noch nicht verloren: „Die einzige kirchliche Realität ist das geistige Leben, und die reale Vereinigung ist die Einheit dieses geistigen Lebens“(15). Die heutige ökumenische Bewegung ist freilich noch sehr weit von ihren Zielen entfernt, – ganz zu schweigen davon, dass der Einfluss der traditionellen Konfessionen auf die Gesellschaft in der heutigen Welt äußerst unbedeutend ist.

Kirche „von unten“

Gleichzeitig ist das Problem der Einheit des christlichen Europas angesichts des beispiellosen Vorstoßes des Bösen so aktuell wie nie zuvor. Und der vertiefte Aspekt dieser Einheit ist, wie es scheint, verbunden mit der sich – durch den Fall des eisernen Vorhangs – eröffnenden Möglichkeit persönlicher menschlicher Kontakte, bei denen der andere Mensch im Aspekt seines „Ichs“ erlebt wird. Meine Begegnung mit einem anderen Christen einer beliebigen Konfession ist eine Begegnung unserer „Iche“ in Christus, – und dies ist das Samenkorn für eine neue Kirchlichkeit.

Der Kontakt auf der Ebene des vertieften „Ichs“ ist nichts anderes, als jene Einheit des geistigen Lebens, von der Bulgakow spricht. Eine Aktualisierung der Existenz der Universalen Kirche wird von unten her kommen, von den persönlichen Begegnungen, wird sozusagen von einer Mikroebene ausgehen, darüber hinaus auch von Seiten der ökumenischen Aktivitäten der Organisationen. Im Wesentlichen wollte Bulgakow auch gerade auf solchen intimen menschlichen Begegnungen seine Bruderschaft der Heiligen Sophia aufbauen – als Keimzelle für die Universale Kirche.

Bulgakow als Mystiker

Bulgakow wurde nicht nur deshalb allgemein als Leiter der Bruderschaft anerkannt, weil er der Begründer des Systems der Sophiologie war, sondern auch und vor allem, weil er eine geistig führende Persönlichkeit war, ein tiefgründiger Mystiker. Die Bulgakow-Forschung erkannte dies in vollem Ausmaß erst Ende der 1990er Jahre, als der Pariser Bote der Russischen Christlichen Bewegung (Westnik Russkogo Christianskogo Dwischenija) sein Geistiges Tagebuch („Duchownyj Dnewnik, 1924-1925“) zu veröffentlichen begann, das in Emigranten-Archiven aufbewahrt worden war. Die Bedeutung dieser Veröffentlichung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie macht uns nicht nur erstmals richtig mit der Persönlichkeit Bulgakows bekannt, sondern regt auch zu Reflexionen über die Besonderheiten der sophianischen Geistigkeit an, über die Möglichkeiten eines der russischen Sophiologie eigenen geistigen Weges.

Einige Worte über den Stil des Tagebuchs: Im orthodoxen Schrifttum des 20. Jahrhunderts ruft dieser das Tagebuch Mein Leben in Christus („Moja schisn wo Christe“) von Pater Johannes von Kronstadt in Erinnerung und ebenfalls die geistig-asketischen Aufzeichnungen des Starez Afon der Weise von Siluan. Das Tagebuch-Schreiben ist für Bulgakow ein betendes Gespräch mit Gott, durchdrungen von einem tiefen Gefühl der Liebe und der Buße; aus dem Element einer derartigen Gebetsklage entstehen theologische und philosophische Gedanken, Sentenzen und Aphorismen. Bulgakow folgt hier der alten orthodoxen Tradition und schreibt all das auf, was beim Verharren im Gebet in den Sinn kommt. Im 19. Jahrhundert hat der hervorragende asketische Autor Ignati Brjantschaninow (Asketische Erfahrungen – Asketitscheskie opyty) ähnlich geschrieben; und wenn man sich in die alte Zeit vertieft, erinnert man sich an die Hymnen von Simeon dem Neuen Theologen (Simeon Nowy Bogoslow, 10. Jahrhundert) und letztendlich an das Psalterium. Man kann behaupten, dass sich das Geistige Tagebuch Bulgakows völlig in die orthodoxe Tradition einfügt.

Um dem Leser dieser Abhandlung den Bulgakowschen Geist deutlicher vor Augen zu führen, bringe ich einige Zitate aus diesem bemerkenswerten Dokument. „O ich unglücklicher Sünder“, – schreibt Bulgakow am 10. Juni 1924 – „welcher großen Gaben und Wohltaten Gottes bin ich würdig befunden worden. Heute Nacht habe ich mich auch wie ein Wurm gewunden, und meine Seele ist im Strömen des Heiligen Geistes vor Glückseligkeit erstorben. Ich habe dieses Strömen gespürt, ich habe ihn erkannt, ich liebte und erfreute mich durch diese überirdische Glückseligkeit an der Freude der Liebe. Und ich erkannte, dass der Heilige Geist die Liebe ist, und dass die Offenbarung des Heiligen Geistes die Glückseligkeit der Liebe ist… Meine Kräfte versagten mir, ich weinte und zitterte, und ich liebte alle und alles, mein Herz wurde weiter; es kochte und verging vor Liebe. Dies kann man nicht mit Worten sagen, der Heilige Geist ist unaussprechlich, aber ich erkenne die Glückseligkeit des zukünftigen Zeitalters, ich erkenne die Erfüllung der Gelübde…“(16).

Und hier eine Aufzeichnung (vom 12. Oktober 1924), die ganz im Geiste der Hymnen des ehrwürdigen Simeon geschrieben ist: „Herr, mein Herr! Du bist die Liebe und gibst Liebe. Wie kann man Dir danken für die Freude der Liebe, dafür, dass Du Liebe gibst. Auf meinem Lager bebt und schmachtet meine Seele vor Liebe zu Dir, zu meinem Gott, und zu Deiner Allerreinsten Gottesmutter, und zu Deinem wunderbaren Geschöpf – dem Menschen… Ich habe keine Worte, keine Gedanken, keine Gefühle, aber in meiner Seele ertönt und brennt Deine glühende Liebe. Ich bin eine Kohle in Deiner Flamme, und wenn ich brenne, werde ich geliebt, gemeinsam mit allen und mit allem von Dir Geschaffenen. Ich möchte brennen, entzünde mich mit Deiner Liebe, Du, der Du so wohltuend gesprochen hast: Wer mir nahesteht, der steht auch dem Feuer nahe…“(17).

Das folgende Zitat (vom 2. September 1925) vermittelt eine Vorstellung davon, was Bulgakow eigentlich geistiges Leben nennt; sein Erlebnis wird hier in ganz allgemeinen Zügen beschrieben: „Das Geheimnis des geistigen Lebens – in seiner Unerschöpflichkeit und in immer neuem Schaffen. Uns Menschen, die wir von den Sorgen dieses Jahrhunderts belastet sind, ist es nicht bestimmt, die Gabe des Einsiedlerlebens oder des Daseins in einer entlegenen Klause zu erlangen, wo der Mensch nur im Geiste lebt und sich von der Kraft aller äußeren Einflüsse lossagen kann. Und von der Seite betrachtet mag es scheinen, dass sein Leben arm, leer und eintönig verläuft, und dass es wunderbar ist, wie man das ertragen kann… Aber so mag es nur so lange erscheinen, solange in der eigenen Seele noch nicht die Quelle des Wassers des Lebens hervorzusprudeln beginnt, die in das ewige Leben hineinfließt, solange noch nicht das tröstende Gebet aufleuchtet, solange der Mensch noch nicht den Schatz seiner eigenen Seele gefunden hat, die in Gott lebt“ (18).

Die geistige Praxis Bulgakows, durch die er in einen übernatürlichen geistigen Zustand gelangte, ist das Gebet, über das er in beinahe jedem Tagebucheintrag spricht, zum Beispiel in dem vom 8. Juni 1924: „Liebe und Gebet, Gebet und Liebe: Nur dies sind die zwei Schwingen des christlichen Lebens. Wenn man im Gebet verharrt und das Herz vor Liebe zu den lieben und teuren Gefährten des Lebens entbrennt, dann geht anschließend dieses Brennen auf die ganze Welt über, und die Seele wird in den Ozean der Liebe eingetaucht, in die Glückseligkeit der Liebe; sie brennt mit einem solchen glückseligen Feuer, dass sie vor lauter Glückseligkeit vergeht. O Wonne der Wonnen, o Freude der Freuden, Jesus meine größte Wonne! Entzünde mich mit Deinem Feuer, entfache meine Seele, verbrenne sie durch Dich!“ (19)

Hier liegt für uns ein gewisses Rätsel des gesamten geistigen Phänomens Bulgakow: In ihm lebten gemeinsam auf unerklärliche Weise Traditionalität und Neuerertum, Ergebenheit in den Kanon der orthodoxen Askese und das Streben zur Sophia. Hier gibt es tatsächlich eine Antinomie, eine Einheit von Unvereinbarem: Traditionelles Entrücktsein von der Welt (das für erfolgreiches Gebet unbedingt notwendig ist) verbindet sich mit der Anerkennung des religiösen Wertes der Welt der Geschöpfe als solcher. Bulgakow ging den Weg der traditionellen orthodoxen Heldentat, auf dem sogar der Begriff Sophia nicht einmal nötig zu sein scheint.

Der folgende Eintrag steht, so scheint es, am stärksten in Übereinstimmung mit den Ideen der russischen Sophiologie (und zwar weniger in der Variante von Solowjew, als vielmehr in der von P. Florenski): „Nichts steht dem Menschen näher, ist dem menschlichen Wesen verwandter als die Mutter Gottes in den Himmeln. Sie umhüllt die Welt, tritt an ihre Stelle, Sie ist mit allen Wesen, über aller Natur. Sie ist über dem Wasser und über dem Festland, über dem Ackerland und dem Wald, über Mensch und Tier. Sie umfasst  alle in sich, vereint alles, ist allen ein liebkosendes Herz. Nach dem Herrn und gemeinsam mit dem Herrn bete Seine Mutter an, die Trägerin des Heiligen Geistes. Und glaube, dass die Gottesmutter flehentlich bitten und dir die Gabe des Heiligen Geistes geben wird, und du wirst den Sohn Gottes sehen, der in Dir lebt“ (16. August 1924) (20). Hier leuchtet gewissermaßen das Bild der Maria-Sophia durch die Ikone der Gottesmutter hindurch, aber dennoch ist auch diese Stelle des Tagebuchs völlig traditionell.

Übrigens charakterisiert dieselbe Vereinigung von Neuerertum und Traditionalität auch Bulgakows Theologie. Ein völlig neuer Inhalt – die Idee der Sophia – ist dort in Kategorien gekleidet, die bereits in den ersten Jahrhunderten des Christentums ausgearbeitet wurden. So ist etwa der Begriff des Göttlichen Wesens („Usia“, griech.), mit dem Bulgakow bisweilen die Sophia gleichsetzt, dem theologischen Arsenal des heiligen Athanasius entnommen. Auf diese Dualität hat bereits Berdjajew hingewiesen: „Bisher war die Lehre von der Sophia“, – so schrieb er im Kapitel „Die Bruderschaft“, – „hauptsächlich Gegenstand der freien christlichen Theosophie. Sie lassen sie zum Gegenstand der allgemeinverbindlichen Theologie werden, und es entstehen große Schwierigkeiten, wenn man dieses Thema in den Kategorien des traditionellen theologischen Gedankenguts ausdrücken will, man spürt den Kampf zwischen der Form und ihrem geistigen Inhalt.“ (21)

Tragik und Glorie

Die Rätselhaftigkeit von Bulgakows innerer Welt, die uns auffällt, verurteilte ihn zur Einsamkeit: Tatsächlich verstanden jene, die an den Traditionen festhielten, nicht, warum Bulgakow irgendeine Sophia brauchte; und den Anhängern freier geistiger Bestrebungen (darunter auch Berdjajew) erschien der orthodoxe Kanon als überlebte Form, als leeres Ritual und tote Formel… Bulgakows Gestalt ist mit einer nicht überbietbaren Tragik umwoben.

Dies gilt jedoch nicht für seine Todesstunde. Der Tod von Pater Sergius (am 13. Juli 1944) war nicht nur der eines heiligen Mannes, sondern einer geistig führenden Persönlichkeit. An die ungewöhnliche Klarheit seines Antlitzes kurz vor seinem Tode erinnert sich seine geistige Tochter, die Nonne Feodosija: „Bereits seit dem Morgen überraschte uns der Gesichtsausdruck von Pater Sergius… Dieser Gesichtsausdruck veränderte sich einige Male, wurde immer bedeutsamer und feierlicher. Es war ungefähr ein Uhr mittags. Das Antlitz von Pater Sergius begann zu leuchten und erstrahlte in einem derartigen überirdischen Licht, dass wir erstarrten, da wir uns fürchteten, das zu glauben, was uns zu sehen beschieden war. Es wurde deutlich, dass die Seele von Pater Sergius, die irgendwelche geheimen Wege durchschritten hatte, sich in diesem Augenblick dem Thron des Herrn näherte und vom Licht seines Ruhms erleuchtet wurde. Beinahe zwei Stunden dauerte diese wunderbare Erscheinung, aber es hätte sowohl ein kurzer Moment als auch eine Ewigkeit sein können – die Zeit stand für uns still. Wir nahmen an einer solch zweifellosen Erleuchtung durch den Geist teil, an einer solch realen Erfahrung von Heiligkeit, dass sie nur schwer zu fassen war.“(22)

Im orthodoxen Verständnis ist das Erstrahlen eines menschlichen Antlitzes in überirdischem Licht ein unbestreitbares Zeugnis für seine Heiligkeit, für die Vereinigung seines Geistes mit Christus (man kann hier an das sonnengleiche Antlitz des heiligen Serafim erinnern, das N. Motowilow gesehen hat). Deshalb hat uns die Ausführung über Bulgakow als Mystiker wie von selbst zu der Vermutung geführt, dass Bulgakow ein bedeutender russischer Heiliger des 20. Jahrhunderts war.

 

Der Bau der geistigen Kathedrale

Im Geistigen Tagebuch Bulgakows gibt es eine für uns außerordentlich wichtige Aufzeichnung (vom 25. Oktober 1924) über den heiligen Sergius von Radonesch: „Der ehrwürdige Sergius hat sich heute erneut an die Arbeit gemacht, um die Heimat vom Tatarenjoch zu retten; gemeinsam mit uns rodet und trägt er schwere Holzstämme, mit uns baut er die Kathedrale für die Sophia, die Göttliche Weisheit.“(23) Der Denker betrachtet den ehrwürdigen Sergius als himmlischen Schirmherrn der Bruderschaft der Heiligen Sophia (24); andererseits fasst er die eigentliche Tätigkeit der Bruderschaft im Bau der Sophien-Kathedrale auf. Hier findet sich ein Widerhall der Ideen des Apostels Paulus, die später vom Freimaurertum zugespitzt wurden; hierin klingt ebenfalls die Erinnerung Bulgakows an seinen kürzlichen Besuch bei der entweihten Sophia von Konstantinopel an und sein Wunschtraum, sie wiederherzustellen; dem sollte die geistige Arbeit vorausgehen…

Dies ist jedoch sozusagen das tiefgreifende „esoterische“ Ziel der Bruderschaft, das Bulgakow nicht auf Schritt und Tritt verkündete. Äußerlich trug die Bruderschaft, die am 26. September 1923 in Prag gegründet wurde, den für katholische Orden üblichen, aber in der Orthodoxie gänzlich fehlenden Charakter mit ihrer strengen Disziplin. Die Mitglieder der Bruderschaft mussten der Satzung Folge leisten und eine große Gebetsregel erfüllen, die aus für die Orthodoxie traditionellen Gebeten bestand: Bulgakow, der auf seinem kirchlichen Weg große geistige Gaben erlangt hatte, wollte, dass die Mitglieder der Bruderschaft ebenfalls gemäß dem Kanon der strengen alten Askese lebten. In seiner programmatischen Rede auf einer der ersten Sitzungen der Bruderschaft hat Pater Sergius seine Forderung an die Mitglieder der Bruderschaft deutlich formuliert: „Jeder muss die Heldentat des Verzichts vollbringen, jeder muss sich dazu entschließen, nicht die ganze Komplexität seiner eigenen Persönlichkeit in der Bruderschaft zu verwirklichen, denn die Bruderschaft steht höher und ist tiefgründiger als alles Persönliche, Individuelle.“(25) Die Aufrufe von Pater Sergius zu „tiefer Demut“ erinnerten sehr stark an jenen Stil kirchlicher Predigten, der einer Reihe von Denkern, die die Bruderschaft bildeten, überhaupt nicht nahestand. Und so ist es völlig verständlich, warum Berdjajew bereits im November 1925 aus der Bruderschaft austritt: ihm, der sein ganzes eigenes inneres Leben und Schaffen mit der Verwirklichung des eigenen „Ich“ verbunden hat, der die existentielle Tiefe der konkreten Persönlichkeit schätzt, ihren „freien Geist“, ihm musste die Religiosität der Bruderschaft als „überholt“ erscheinen, als in die Vergangenheit gerichtet, und war somit für ihn inakzeptabel. Als Berdjajew seinen Austritt aus der Bruderschaft erklärte, sagte er: „Das Mitwirken in der Bruderschaft, Gelübde u.ä., ohne aktive Verwirklichung ergeben ein religiöses Minus; das ist eine Annulierung der eigentlichen Idee der kirchlichen Bruderschaft“. (26) Tatsächlich ist es schwierig, sich Berdjajew selbst vorzustellen, wie er die Morgen- und Abendgebete aus dem Gebetsbuch liest, und wie er das Fasten am Mittwoch und am Freitag einhält! Berdjajew wollte keinerlei Druck seiner Umwelt auf sein eigenes „Ich“ ertragen, er hielt es nicht für notwendig, sich irgendeiner Autorität zu unterwerfen, – nicht einmal dem von ihm verehrten Pater Sergius.

Diese Opposition innerhalb der Bruderschaft – „Berdjajew contra Bulgakow“ – scheint mir verhängnisvoll für das Schicksal der Bruderschaft und ein gewisser Indikator für den Grund ihres letztendlichen Misserfolgs gewesen zu sein. Die Idee der Sophia selbst erfordert in erster Linie, dass man sich auf das konkrete „Ich“ stützt, und das muss auch in der Satzung der Bruderschaft vermerkt sein. Hervorragende Persönlichkeiten – zum Ruhm der russischen Nation, in moralischer Hinsicht makellose Menschen, die daran gewöhnt sind, vor Gott stets eine große Verantwortung zu empfinden (das kann man sowohl von Berdjajew, als auch von S. Frank, N. Losski, G. Florowski u.a. sagen), –  hätte man nicht von Anfang an zur Demut aufrufen sollen: sie tragen die Demut organisch und unmittelbar in sich. Anscheinend hat Bulgakow ursprünglich nicht ganz die richtigen Worte für die Satzung und für seine programmatische Rede gewählt: er hat den Anteil der Tradition zu sehr betont und den Aspekt des Kreativen vernachlässigt.

Es scheint übrigens, dass Bulgakow Berdjajews Pathos verstanden hat und verständlicherweise die Mitglieder der Bruderschaft nicht grob „unterdrücken“ wollte: beim Austritt Berdjajews aus der Bruderschaft spielten ebenfalls private Motive eine Rolle (27). Bulgakow betrachtete die Bruderschaft als „Versuch des Kontakts“ mit doch sehr verschiedenartigen Menschen: einerseits gehörte ihr G. Florowski an, ein Anhänger der These „zurück zu den heiligen Vätern“, und andererseits der Neo-Leibnizianer Losski, der die Reinkarnation für möglich hielt, sowie Berdjajew, der den Mystiker J. Böhme für sich als oberste Autorität anerkannte. Dieser „Kontakt“ sollte einen intellektuellen und zugleich einen tief intimen, die Entfaltung jeder Persönlichkeit verlangenden Charakter haben. Er wurde teilweise auf den Sitzungen der Bruderschaft verwirklicht, auf denen völlig aufrichtig und offen sowohl religiös-philosophische Probleme als auch dringliche Fragen des kirchlich-gesellschaftlichen Lebens erörtert wurden.

Und hinter dieser, oberflächlich betrachtet, beinahe „professoralen“ Tätigkeit stand ein bestimmtes, bereits von Solowjow umrissenes Ziel; darüber ist zu Beginn dieses Unterkapitels gesprochen worden. Spürten und teilten alle Mitglieder der Bruderschaft die Idee der Kirche der Sophia?.. Manchmal wurde als Ziel der Bruderschaft eine „intellektuelle geistige Glaubensgemeinschaft“ genannt, es wurde von der mystischen sophianischen Einheit „der intellektuellen Diener der Göttlichen Weisheit“ gesprochen (B. Wyscheslawzew) (28), – aber das ist nichts anderes, als eine Definition der sophianischen Kirche. Die Mitglieder der Bruderschaft empfanden sich wahrhaftig als Sophien-Ritter.

Und ihre Mitglieder und vor allem ihr Leiter verstanden darunter die Teilnahme an der gesamten Tätigkeit der Bruderschaft der Sophia als Persönlichkeiten, als Personen. Am 27. September 1923, dem auf die Gründung der Bruderschaft folgenden Tag, schrieb Bulgakow in sein Tagebuch: „Der Herr segne uns, und die Göttliche Sophia, die Weisheit Gottes, lehre uns selbst. Es ist seltsam, wenn man mit menschlichem Denken an das erfolgte Unternehmen denkt. Wenn der Wille Gottes darauf ruht, dann ist dies ein historisches, ja sogar ein weltumfassend-historisches Ereignis…“. Und erneut betet der schwerkranke Bulgakow an Sophia, wobei er sich gleichzeitig an die Mitglieder der Bruderschaft wendet: „Möge uns die Heilige Sophia erleuchten, die Weisheit Gottes, die über Kummer und Schicksal herrscht, über die Welten und in der Welt. Möge sie Euren Verstand und Eure Herzen vereinen“.(29) Er wollte durchaus keinen „Orden“ innerhalb der Grenzen der orthodoxen Kirche: es ging ihm um die geheime Geburt einer neuen christlich-sophianischen Kirche aus dem Schoße der traditionellen Orthodoxie.

Werke und Tage der Bruderschaft

Das konkrete Leben der Bruderschaft bestand in regelmäßigen Sitzungen, die in gewisser Weise an wissenschaftliche Konferenzen erinnerten. Die Themen, die diskutiert wurden – und insbesondere ihre Interpretation – sind heute insgesamt überwiegend von historischem Interesse, – wobei alle Reden von Mitgliedern der Bruderschaft klug, tiefgründig und in der damaligen Zeit aktuell waren (man kann annehmen, dass die Atmosphäre der Sitzungen angesichts dieses letzten Umstandes tatsächlich sophianisch war). Zum Beispiel wurde die Frage der Zarenherrschaft erörtert, – die Teilnehmer der Sitzungen beschäftigten einerseits Projekte zur Wiederherstellung der Monarchie in Russland, die im Emigrantenmilieu kultiviert worden waren, und andererseits die theokratische Utopie von Solowjow, deren Zentralgestalt der russische „Weiße Zar“ war. Bulgakow war ein prinzipieller Monarchist und hielt die Figur des Zaren für sakral: Zarenherrschaft war für ihn eine Art Gottesdienst. Losski vertrat eine ihm entgegengesetzte Meinung, indem er meinte, dass die Art der staatlichen Regierung gleichgültig für das Schicksal des Christentums sei; und es ist offensichtlich, dass die historische Rechtlichkeit auf Seiten Losskis stand… In Zusammenhang mit dem Problem der Vereinigung der Kirchen wurde vor allem das „Dogma des Vatikans“ von der Unfehlbarkeit des Papstes ex cathedra erörtert: Bulgakow betrachtet dessen Aufhebung als notwendige Bedingung für die Vereinigung (entgegen dem, was er in den Dialogen in An den Mauern von Chersonis geschrieben hatte). Noch utopischer ist Florowskis Gedanke, gemäß dem „die Gesundheit des Westens nur durch die Eingliederung in die Orthodoxie wiederhergestellt werden kann“, – was er auch teilweise selbst einsieht. Nur die metaphysische Idee von der geeinten – ungeachtet der Kirchenspaltung von 1054 – himmlischen Kirche hielt offenbar der Prüfung durch die Zeit stand; sie wurde von allen Mitgliedern der Bruderschaft geteilt… Man diskutierte die Situation der Kirche in Russland und in der Emigration, warf das Problem von Freiheit und Kirchlichkeit auf, – und plagte sich schließlich mit der Frage: Was ist denn eigentlich die Bruderschaft?.. Wie dem auch sei, all diese Streitereien verdeutlichten das Selbstbewusstsein der Mitglieder der Bruderschaft. Sie spürten, dass sie sich nicht nur mit einer leeren Polemik befassten, und schätzten ihre Versammlungen. „Der Geist des zukünftigen Russlands ist dennoch hier, und nicht dort“, – wurde ganz deutlich auf der Sitzung vom 25. Dezember 1925 ausgesprochen. Aber mit tragischer Schärfe stellte sich den Mitgliedern der Bruderschaft, – und vor allem Bulgakow – immer wieder die Frage über die Bruderschaft als verwirklichte geistige Glaubensgemeinschaft: wie kann man bei allen Meinungsverschiedenheiten die Einheit bewahren, wie kann  die Atmosphäre der Liebe beibehalten werden, wenn man deutlich spürt: „die gemeinsame Sache (‚das Sammeln des kirchlichen Verstandes‘) gelingt nicht”? Und allmählich wurde deutlich, dass die Bruderschaft keine Gegebenheit ist, sondern eine Aufgabe, dass die Erfüllung dieser Aufgabe der ganz fernen Zukunft angehört…

Inzwischen brachen auf die Bruderschaft Angriffe der Kritik sowohl von links als auch von rechts herein. Die Kritik „von links“ ging von Berdjajew aus: Für ihn wurde die Bruderschaft zur konservativen Kraft. Die Kritik „von rechts“ wurde von den eurasischen Kreisen betrieben (N. Trubezkoi, P. Sawizki, P. Suwtschinski), die sich anfangs für die Bruderschaft interessiert hatten, da sie ja zu Beginn ihre Rechtsgläubigkeit erklärt hatte. Aber Orthodoxie ist nicht gleich Orthodoxie! In den Augen der Eurasier stellte die Kirche eine Kraft dar, die in der Lage war, den mächtigen russischen Staat wieder erstehen zu lassen; ihre mystischen und metaphysischen Aspekte waren für die Eurasier völlig uninteressant. Sehr schnell verdächtigten sie die Bruderschaft, dass sie einen Hang zum Katholizismus habe, anschließend verdächtigten sie sie der Häresie und sogar des Freimaurertums, beschuldigten sie, dass sie eine Kirchenspaltung und eine gewisse „Parallel-Kirche“ schaffe; wenn Berdjajew sich von der Disziplin der Bruderschaft unter Druck gesetzt fühlte, so fanden die Eurasier dagegen nicht genügend Disziplin in ihr… Die Opposition von Mitgliedern der Bruderschaft und Eurasiern war eine Opposition von Menschen mit „sophianischer“ und „a-sophianischer“ Gesinnung.

Die Suche nach einer sophiologischen Sprache und nach neuen Erfahrungen

Parallel zu den Sitzungen der Bruderschaft führte Bulgakow bei sich zu Hause rein theoretische Seminare durch. Zu ihnen wurden Professoren aus dem Pariser Theologischen Institut sowie Pater Sergius geistig nahestehende Menschen eingeladen. Auf den Seminaren wurden die brennendsten theologischen und philosophischen Fragen diskutiert, es herrschte dort eine freie, schöpferische Atmosphäre. Gerade durch diese Seminare kann man die Tiefe der Ziele der Bruderschaft der Heiligen Sophia beurteilen; auf den Sitzungen dieser Seminare wurden vorwiegend dennoch weniger metaphysische und geistige, als vielmehr kirchlich-gesellschaftliche Probleme erörtert.

Die erste Reihe von 10 Seminaren fand im Jahr 1928 statt; ihr Thema war die Lehre von der Sophia, der Weisheit Gottes. Die Aufgabe von Pater Sergius war, den Begriff der Sophia in die traditionelle orthodoxe Theologie einzubauen. Dabei reichten ihm offensichtlich die traditionellen Kategorien und Gedankengänge nicht, so dass auf den Seminaren eine neue Sprache für die Gespräche über die Sophia gesucht wurde, – eine Sprache, die diesem Thema angemessen war. Wie es für die Arbeiten russischer Sophiologen charakteristisch war, erhielt die Sophia bei Pater Sergius eine Vielzahl von Definitionen und ihr Bild blieb letztendlich unklar.

Bulgakow führte die Hörer auf den Seminaren an die wichtigsten Ergebnisse der eigenen Sophiologie heran und beschrieb die Sophia in Begriffen des christlichen Platonismus (als Urbild der Schöpfung in Gott), der Lehre von Grigori Palama (Göttliche Energien), des Goetheanismus (Ideen, Urerscheinungen), der Metaphysik W. Solowjows (stets existierende Menschheit in Gott). Er stellt die Frage, ob die Sophia eine Person sei oder ein Prinzip, das gewissermaßen höher als eine Person steht. In diesem Zusammenhang wendet sich Pater Sergius dem kirchlichen Sophien-Gottesdienst zu, der offenbar im 18. Jahrhundert in Freimaurer-Kreisen aufgeschrieben worden war. Als er an diesen Gottesdienst denkt, bemerkt er, dass „die Kirche zu Ihr einerseits wie zu einer Person in Beziehung steht und zugleich auch nicht wie zu einer Person, sondern wie zu einem gewissen obersten Prinzip“ (30); diese pseudodialektische und, einfacher gesagt, widersprüchliche Behauptung klärt schwerlich die Frage nach der Sophia. Letztendlich sagt Pater Sergius von der Sophia, dass sie „die Offenbarung des lebendigen dreieinigen Gottes“ sei, „die seiende Natur Gottes und in diesem Sinne der Ruhm Gottes“ (31). Diese Definition in den Kategorien des heiligen Grigori Palama ist wohl auch durch Bulgakows eigene mystische Erlebnisse bedingt – durch seine Berührung mit den Göttlichen Energien, „mit dem Ruhm Gottes“ (32). Sophia, die Göttliche Natur, hat kein eigenes hypostatisches Sein in Gott; sie hypostasiert sich in allen drei Göttlichen Erscheinungsformen. Gott schafft die Welt aus sich heraus durch Seine eigene Weisheit, so dass „die Welt dieselbe Weisheit ist, aber eine Weisheit der Geschöpfe, die sich wiederholt, und in sich die Göttliche Weisheit, die außerhalb der Geschöpfe steht, widerspiegelt“ (33).

 

 

Deshalb nennt Pater Sergius seine Lehre „Panentheismus“ – „alles in Gott“.

In Verbindung mit der Sophiologie wollte Pater Sergius doch auf eine gewisse Inkonkretheit hinweisen – auf den Bruch zwischen der geistigen Erfahrung und deren metaphysischer Beschreibung. Nach der Veröffentlichung von Bulgakows Geistigem Tagebuch können wir mit Sicherheit behaupten, dass er selbst eine psychische Erfahrung entsprechend derjenigen von G. Palama hatte. Aber die Metaphysik dieser Erfahrung war bereits im 14. Jahrhundert ausgearbeitet worden. So benötigt man bei der sophianischen Hypothese auch keinen Palama. Andererseits setzen die mannigfaltigen Definitionen der Sophia, die der Denker darbietet, eine ganze Reihe geistiger Wege, die zu ihnen hinführen, voraus, verschiedene experiementelle Praktiken… Die Frage nach einer spezifischen Sophien-Erfahrung stellte sich offenbar auch Bulgakow selbst in aller Schärfe. Und sie wurde vor allem auf den Seminaren über die christliche Askese und die orthodoxe Kultur aufgeworfen, die der Denker dann 1930 durchführte.

Es sind nur zwei Protokolle dieser Seminare erhalten (vom 12. November und 2. Dezember 1930); die Reden Bulgakows und einiger Teilnehmer dieser Versammlungen zeichnen sich durch Glanz und Tiefe aus, wobei sie ganz zeitgemäß klingen. Nicht die Diskussion der damaligen kirchlich-gesellschaftlichen Situation auf den Sitzungen der Bruderschaft und nicht Pater Sergius‘ Erläuterung der Darstellung seiner Sophiologie auf den Seminaren von 1928, sondern gerade die Problematik der Seminare über Askese und Kultur halten bis heute dem Lauf der Zeit stand.

”Die Askese gehört unabdingbar zum Christentum, denn sie ist nichts anderes, als das Bemühen des Menschen, das er unternimmt, um Selbsttranszendenz und die Rückkehr zu Gott zu Erlangen”: so beginnt Pater Sergius seinen Vortrag am 12. November 1930. “Die Askese ist ontologisch: sie ist das Heraustreten der Persönlichkeit aus sich selbst und ihr einsames Stehen vor Gott”. Die asketische Literatur – Werke von Isaak dem Syrer, Abt Dorofei u.a. – unterliegt nicht der Zeit, sie bleibt stets aktuell. Aber die Askese kann heute nicht der einzige Weg im Christentum sein. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt der historischen Kirche (und das ist die Kehrseite der mönchischen Askese) hat zu einem Bruch zwischen Leben und Christentum geführt – zum Phänomen des Neo-Heidentums in der Kultur, zur Säkularisierung des Lebens. Heute muss man unbedingt über die Ontologie der Kultur, des individuellen Schaffens nachsinnen.

Es ist bemerkenswert, dass nicht Bulgakow selbst, sondern der Seminarteilnehmer I. Lagowski (34) eine kühne These vorlegt, die dann von Pater Sergius unterstützt und entwickelt wird: „Die Askese ist nicht nur charakteristisch für das geistige Leben, sondern für das Schaffen allgemein“ (35). Bereits auf der nächsten Sitzung führt Bulgakow den Begriff „asketische Kultur“ ein – eine christliche Kultur, die in gewissem Sinne der heidnischen gegenübergestellt wird. Zu diesem Begriff führen tiefgründige Gedanken von Pater Sergius über das Heidentum und das Christentum als zwei prinzipiell verschiedene Arten des Seinserlebens: „Für das Heidentum ist das Leben auf der Welt eine heilige Orgie. Das Heidentum ist eine weltbestätigende und weltvergötternde [d.h. die Welt vergöttlichende] Religion. Erst im vorchristlichen Bewusstsein kommt es zur Tragödie… Als das Christentum auf die Welt kommt, verneint es nicht die Welt, denn ‚das Wort ist Fleisch geworden‘, sondern es hebt die frühere kindliche Beziehung zur Welt auf und macht diese Beziehung komplexer“.(36) Die Komplexität (und die Arbeit) liegt in der Übernahme der asketischen Einstellung gegenüber der Welt. Das Christentum führt die Angelegenheit der Kultur fort, indem es dort auch ein asketisches Element einbringt; und solange es religiöse Werte gibt, ist die Kultur der christlichen Epoche asketisch (so sind es, gemäß des Denkens von Pater Sergius, „die mittelalterliche italienische Renaissance und die russische Kirchenkunst“).

Zu solchen Zeiten hat man im Verhältnis von Schaffen und Askese nicht die Antinomie wahrgenommen, die Krise des christlichen Bewusstseins besteht auch im Verlust dieser Harmonie: „Die asketische Kultur ist eine Tatsache, die wir verloren haben, deren Geheimnis wir suchen und nach der wir uns sehnen“.(37) Die Vereinigung von Askese und Schaffen ist für uns „zur Frage der Sphinx“ geworden. Und da Kultur und Schaffen in der sophianischen Welt wurzeln (38), ist diese Frage aus dem Gebiet der Sophiologie – eine Frage der sophianischen Erfahrung, des Erlebens von Sophias Inspiration. Das ist das bemerkenswerte Ergebnis nicht nur von Pater Sergius, sondern tatsächlich von allen Seminarteilnehmern, die hier zu einer geistigen Bewusstseins- und Glaubensgemeinschaft gelangt sind.

Und hier macht Bulgakow einen erstaunlichen intellektuellen Schritt: Obwohl die sophianische Erfahrung für ihn selbst mit der traditionell asketischen zusammenfällt, wendet er sich an die kreativen Persönlichkeiten (faktisch an alle Anwesenden) mit dem Appell, von ihrer geistigen Erfahrung im Schaffensprozess zu berichten: „Mein Wunsch ist, dass die bewusst religiös-kulturell Schaffenden dieser Welt mitteilen, was sich im Geheimen ihrer Seelen vollzieht. Das ist eine gemeinsame Angelegenheit, denn in unseren Tagen durchleben wir ein anderes Bild des Christentums, das uns von unserer Zeit gegeben wird… Die Kräfte des Guten und die Kräfte des Schaffens müssen erkannt werden“ (39). Die Tiefe der menschlichen Seele, von der diese Schaffensimpulse ausgehen, berührt sich insgeheim mit der objektiven Sphäre der Sophia; deshalb ist kreatives Schaffen nichts anderes, als ein nicht bis zu Ende reflektierter Kontakt mit der Sophia. Gerade darüber spricht die Seminarteilnehmerin W. Sander eindringlich: „Außer den sichtbaren Gestalten und Farben, den hörbaren Tönen und den wahrnehmbaren Formen, gibt es in der Seele des Menschen, in ihrem tiefsten Inneren, noch eine unsichtbare, nicht sinnliche Welt, die dennoch real ist, die aller-realste Welt, wo himmlische Musik ertönt, wo ein bestimmter Gebetsritus vollzogen und der ‚Himmel‘ selbst geschaut wird“.(40)

Und wenn der Mensch im Schaffensprozess bis zu diesen seelischen Ursprüngen gelangt, findet nicht nur das Erschaffen von allgemeingültigen kulturellen Werten statt, sondern auch der Bau der eigenen Seele des Menschen. Man kann diese kreative Tätigkeit „geistige Kultur“ nennen; zu allen Zeiten war gerade sie Sinn und Ziel des asketischen Tuns. Hier, im tiefen, geheimen Ursprung der Kultur, werden Schaffen und Askese zusammengeschlossen und erscheinen als ein und dieselbe Tätigkeit… Und in diesen Gedanken liegt offenbar der Höhepunkt und das Ende jener geistiger Spekulationen, mit denen sich Pater Sergius Bulgakow gemeinsam mit seinen Schülern und Anhängern befasste.

 

Schlussbetrachtung: „Viel zu frühe Vorboten…“

 

Unverständlich sind unsere Reden,

Und zum Tode verurteilt sind

Die viel zu frühen Vorboten

Des viel zu langsamen Frühlings.

So fühlte und schrieb D. Mereschkowski 1910 und diese Verse kann man mit gutem Grund auf die Mitglieder der Bruderschaft der Heiligen Sophia beziehen. Im Verlauf der 30er Jahre erlosch die Tätigkeit der Bruderschaft allmählich. Bei weitem nicht alle Kräfte der Bruderschaft waren in Paris konzentriert (so lebte zum Beispiel S. Frank in Berlin); die Teilnehmer der Bruderschaft gingen zu alternativen Emigranten-Organisationen; in der Emigration verhielt man sich – wegen der eurasischen Verleumdungen gegenüber der Bruderschaft misstrauisch… Der Weltkrieg begann, und 1944 starb Pater Sergius. Übrigens glimmte, wie W. Senkowski bezeugt, das Leben der Bruderschaft noch etwa bis zum Jahr 1948 weiter.

Die Dokumente über die Tätigkeit der Bruderschaft warten auf ihre Erforscher. Die Bruderschaft ist einer der ersten Versuche (und dabei der bedeutendste), Solowjows Projekt in der Praxis zu verwirklichen. Das weiterlebende Gedankengut der Bruderschaft wurde in Russland gleich nach dem Zusammenbruch des Bolschewismus aufgegriffen: 1995 entstand in Moskau der christliche Radiosender „Sophia“, der sich ebenfalls an der Idee der Universalen Kirche Solowjows orientiert. Um „Sophia“ herum versammeln sich Geistliche (orthodoxe und katholische) der neuen Kirchengeneration, und ebenfalls die humanistisch gebildete Intelligenz, die von der russischen religiösen Philosophie begeistert ist… Das ist jedoch schon ein Thema für ein neues weiteres Gespräch.

Anmerkungen und Hinweise

1) Die Übersetzerin folgt hier der Schreibweise der Autorin. In anderen Arbeiten wird häufig die Namensform Sergéi verwendet [Anm. d. Übers].

2) Vgl.: Bratstwo Swjatoi Sofii. Materialy i dokumenty (1923-1939), Moskwa – Paris, 2000; „Protoijerei Sergi Bulgakow. Dnewnik duchowny“, in: Westnik Russkogo Christianskogo Dwischenija, Nr. 74 (1996), S. 5-51; Nr. 75 (1997), S. 20-75; Nr. 76 (1997), S. 54-70; Ders.: „U sten Chersona“, in: Simwol, Nr. 25 (1991), Paris, S. 169-342; Protoijerei Sergi Bulgakow. Awtobiografitscheskie sametki, Dnewniki. Statji. Orjol, 1998.

3) Patriarch Tichon (Belawin) war per Los auf der Landesversammlung der Russischen Kirche 1917-1918 gewählt worden. Zu Beginn seiner Patriarchenschaft stand er in scharfer Opposition zur Regierung der Bolschewiken. Einer Version nach wurde er 1924 auf Befehl der Regierung ermordet. Heute zählt er zu den Heiligen. Als ein Mensch von goßer orthodoxer Tiefe und Anmut genoss Patriarch Tichon stets eine große Beliebtheit und besondere Autorität beim Volk.

4) So hat W. Senkowski – Denker, Geistlicher, Mitglied der Bruderschaft der Heiligen Sophia – später diese geistigen Haltungen definiert.

5) Man kann z.B. bereits hinsichtlich der Tätigkeit russischer Freimaurer im 18. Jahrhundert (Nowikow, Gamaleja, Schwarz) mit ihrer offensichtlichen Opposition gegen die traditionelle Orthodoxie von analogen Prozessen sprechen.

6) Brief von S. Frank an den Oberpriester S. Bulgakow vom 4. November 1925. – In der Ausgabe: Bratstwo Swjatoi Sofii, S. 223.

7) Vor kurzem ist auf Iwaschetschkas Grab ein Kreuz errichtet worden nach Vorbildern alter Fotografien. Zwischen den Platten der Gruft der Tokmakows hängen Zypressen, die gepflanzt wurden, als Bulgakow noch auf der Krim war. Im Sommer 2002 gelang es der Autorin dieser Zeilen endlich, die Gruft zu finden und Blumen auf Iwaschetschkas Grab niederzulegen.

8) Das Haus ist erhalten; es steht in der heutigen Straße „Uliza Lessi Ukrainki“.

9) Deutsch im Original (Anm. d. Übers.).

10) „Protoijerei Sergi Bulgakow. Konstantinopolski dnevnik“, in: Protoijerei Sergi Bulgakow. Awtobiografitscheskie sametki…, S. 125.

11) Bulgakows Wunschtraum ist slavophil gefärbt und steht unter starkem Einfluss der theokratischen Utopie Solowjews. Letzterer glaubte, dass der römische Papst und der russische Zar einst die zwei Stützen der universalen Theokratie werden; Bulgakow spricht von einem „Weißen Zaren“, durch eine geeinte Kirche gezeugt – einer weniger politischen als vielmehr sakralen Gestalt.

12) Heute gehört Chersones mit seinen Ruinen (bereits aus der christlichen Zeit) zum Stadtgebiet von Sewastopol.

13) „Protokolle der Seminare von Pater Sergius Bulgakow über die Sophia als Göttliche Weisheit“, in: Bratstwo Swjatoj Sofii, S. 135.

14) Die russische orthodoxe Kirche zählt nur sieben ökumenische Konzile, dessen letztes im 8. Jahrhundert stattfand.

15) Bulgakow S. N.: U sten Chersonisa, S. 296.

16) Westnik RChD, Nr. 174, S. 7f.

17) Ebenda, S. 28.

18) Westnik RChD, Nr. 175, S. 63.

19) Westnik RChD, Nr. 176, S. 62.

20) Westnik RChD, Nr. 174, S. 13f.

21) Brief von N. Berdjajew an Bulgakow vom Mai 1929, in: Bratstwo Sw. Sofii, S. 247.

22) „Sapis materi Feodosii“, in: Protoijerei Sergi Bulgakow. Awtobiografitscheskie sametki…, S. 420.

23) Westnik RChD, Nr. 174, S. 34.

24) Das ist kein Zufall, da dieser altrussische Heilige auf seine Weise ein Vorläufer der russischen Sophiologie des 20. Jahrhunderts war.

25) Bratstwo Sw. Sofii, S. 22f.

26) Ebenda, S. 101.

27) Der Konflikt mit P. Struwe.

28) Das Protokoll der Sitzung der Bruderschaft der Heiligen Sophia vom 12. Dezember 1925. – In: Bratstwo Sw. Sofii, S.104.

29) Brief Bulgakows an die Mitglieder der Bruderschaft vom 5. Februar 1926. – In: Bratstwo Sw. Sofii, S. 232.

30) Bratstwo Sw. Sofii, S. 141.

31) Ebenda, S. 142.

32) Vgl. das Unterkapitel der vorliegenden Arbeit: „Bulgakow als Mystiker“.

33) Bratstwo Sw. Sofii, S. 142.

34) Historiker, Lehrer am Pariser Theologischen Institut. Wurde 1941 in Leningrad erschossen.

35) Bratstwo Sw. Sofii, S. 154.

36) Ebenda, S. 156.

37) Ebenda, S. 158.

38) Ebenda, S. 162: die Worte des Philosophen G. Fedotow („Die Kultur wurzelt in der Engel-Welt, in der sophianischen Welt“).

39) Ebenda, S. 159f.

40) Ebenda, S. 163.