23.10.2013

Entsubstantialisierung, Entmythologisierung und Rationalisierung als Existenzfragen unserer Zeit

Michael Frensch

In den synoptischen Evangelien gibt es eine Stelle, die sich gut als Motto für die folgenden Ausführungen eignet, auch wenn sie im Kontext unserea Themas zunächst etwas befremdlich klingen mag: „Der Menschensohn wird überliefert in die Hände der Menschen, und sie werden ihn töten. Aber in drei Tage wird er auferstehen“ (Mk. 9,31).

Ich möchte zunächst von einer Alltagserfahrung ausgehen und daraus einige Schlüsse ziehen, die für das Vortragsthema von Bedeutung sind. Daran anschließend soll es um eine Klärung der Begriffe Entsubstantialisierung und Entmythologisierung gehen. Und schließlich soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Entsubstantialisierung und Entmythologisierung Existenzfragen unserer Zeit sind. Dabei wird sich die Bedeutung der zitierten Evangelienstelle herausstellen.

Eine Alltagserfahrung

Jeder von uns hat vermutlich schon einmal die folgende Situation erlebt: Man hat in eine Badewanne Wasser einlaufen lassen und streckt nun die Hand oder den Fuß hinein. Da verzieht sich das Gesicht zur Grimasse, dem Mund entfährt ein Aufschrei und eilig zieht man Hand oder Fuß wieder aus dem Wasser heraus, möglicherweise gefolgt von einem kurzen Tanz auf einem Bein. Nach dem Grund ihr das ungewöhnliche Verhalten gefragt, lautet die Antwort: „Das Wasser ist viel zu heiß.“ Jetzt, nach gemachter Erfahrung, ist man in der Lage, sie in Begriffe zu fassen und das Erlebnis anderen als Erklärung oder Warnung mitzuteilen.

Betrachtet man diesen Vorgang genauer, so besteht er aus vier Elementen: Zunächst wird die Hand oder der Fuß in ein anderes Element getaucht: das Wasser, wodurch es zur Berührung mit dem fremden Element kommt. Darauf erfolgt die Vergegenwärtigung der Berührung im entstehenden Gefühl. Dieses Gefühl veranlasst zu einer bestimmten Handlung, d.h. der Äußerung eines bisher rein innerlichen Erlebens. Und schließlich wird der gesamte Vorgang in den Schluss und die Mitteilung zusammengefasst: Das Wasser war zu heiß. Berührung und Gefühl treten in unserem Innern auf, die Reaktion darauf ist äußerlich erkennbar, die begriffliche Beschreibung der Erfahrung schließlich ist intersubjektiv mitteilbar.

Was hier an einem banalen Alltagserlebnis gezeigt worden ist, gilt im Grunde Ihr jede objektive Erfahrung: Immer berühren wir dabei ein zunächst fremdes Element, bzw. werden wir von ihm berührt ‑ etwas, das über unsere in unsere Haut eingeschlossene Subjektivität hinausgeht. Dann vergegenwärtigen wir uns diese Berührung bzw. werden uns ihrer bewusst. Die gemachte Erfahrung äußern wir in bestimmten Handlqngen, die daraus folgen. Und schließlich können wir die gemachte Erfahrung begrifflich durchdringen und sie so anderen mitteilen. Wir haben damit vier Schritte:

Berührung

Vergegenwärtigung

Äußerung

Mitteilung

 

Erfahrungen bei der Meditation

Da diese vier Schritte grundsätzlich für jede begrifflich erfasste Erfahrung konstitutiv sind, treten sie auch bei einem Phänomen au!, das in den letzten Jahrzehnten in der westlichen Welt zunehmend an Bedeutung gewonnen hat ‑ die Meditation. Meditation besteht zunächst darin, dass der von Stress geplagte und von einem Eindruck zum andern hetzende moderne Mensch in bestimmten Augenblicken zu Ruhe und Konzentration zu kommen versucht. Konzentration und Ruhe sind nicht nur Voraussetzungen dafür, mehr „zu sich selbst“ zu finden, sondern auch etwas Höherem, über die eigene Person Hinausgehendem zu begegnen: einer rein seelisch‑geistigen Welt, die mit unseren gewöhnlichen Sinnen nicht wahrnehmbar ist. Um diese unsichtbare Welt wahrzunehmen, muss sich der zur Ruhe gekommene Meditierende offnen und auf Kundgaben aus dieser neuen Welt lauschen. Man führt hierzu gleichsam innere Tasthewegungen aus, um im unsichtbaren Raum etwas zu berühren oder davon berührt zu werden. Wir können also auch hier vier Stufen unterscheiden:

Abschalten der an die Seele herandringenden Wahrnehmungen

Stille, Konzentration oder „Innerung“

Hören und Lauschen

Tasten

 

Vergleicht man sie mit den zuvor genannten vier Stufen, so sind sie eine Art Umkehrung:

Begriffliche Mitteilung ‑ Abschalten

Äußerung ‑ Innerung

Vergegenwärtigung ‑ Lauschen (Hören)

Berührtwerden ‑ Tasten

Einmal angenommen, der stufenweise „Aufstieg“ in. der Meditation würde in der Tat zu einer authentischen Erfahrung von etwas Übersinnlichem, Transsubjektivem führen. Das  geistige „Tasten“ würde also auf ein Gegenüber stoßen, das uns berührt bzw. von dem wir berührt werden. Damit aber diese Berührung zur Erfahrung wird, müssen wir für sie wach sein. Wie oft will uns etwas berühren, wir sind aber nicht aufmerksam, und die Zuwendung und Berührung geht an uns vorüber! Nur wenn wir eine solche Berührung erwarten, sie „erlauschen“, kann es zu ihrer Vergegenwärtigung kommen. Man weiß dann: „Etwas hat mich berührt; etwas, das nicht ich selbst war, ist mir im Innern begegnet.“ Durch das Erleben einer solchen Berührung wird man in einem gewissen Sinne ein anderer als zuvor, was sich in einer größeren Verantwortung, einer Zunahme an Moralität und Kompetenz bekunden kann. Auch die daraufhin erfolgenden eigenen Handlungen erhalten durch derartige Erlebnisse ein anderes Gewicht. Daher kann man die erwähnten Veränderungen als Hinweise auf die Authentizität einer transsubjektiven Erfahrung ansehen. Diese Feststellung der Echtheit oder Unechtheit von rein meditativen, übersinnlichen Erfahrungen kann als Stufe der Beurteilung und der Mitteilbarkeit bezeichnet werden. Was am Anfang dieses Vortrages an einem alltäglichen Vorgang beobachtet wurde, gilt also auch für die tiefsten spirituellen Vorgänge; auch hier gibt es die erwähnten vier Stufen.

Vier verschiedene geistige Sinne

Es ist interessant, dass diese Stufen in den „Meditationen über die Großen Arcana des Tarot“  erwähnt werden (Anonymus d’Outre Tombe, Die Großen Arcana des Tarot. Meditationen, Basel 1983). Der Verfasser verwendet dafür die folgenden Begriffe:

Berührung ‑  Mystik

Vergegenwärtigung ‑  Gnosis

Äußerung ‑  Magie

Begriffliche Mitteilung ‑ (hermetische) Philosophie

Entsprechend bezeichnet er den spirituellen Tast“sinn“ als „mystischen Sinn“; den spirituellen Gehör‑ oder „Vergegenwärtigungssinn“ als „gnostischen Sinn“; den Sinn für die aufgrund dieser Erfahrungen erfolgenden Äußerungen als „magischen Sinn“; und das Vermögen, aus den gemachten Erfahrungen die richtigen Entschlüsse und Mitteilungen zu ziehen, als „philosophisch‑hermetischen Sinn“.

Die Mystik besteht in der Vereinigung mit der göttlich‑geistigen Welt, in der Einswerdung mit dem Göttlichen. Gnosis ist die Vergegenwärtigung der mystischen Erlebnisse; sie macht sie bewusst, zum Beispiel in einem Hör‑ oder Seherlebnis. Die Magie wiederum besteht in solchen Äußerungen und Handlungen, die ihre Wurzeln in mystischem Erleben und gnostischer Bewusstwerdung haben; hier werden Taten zu „Zeichen und Wundern“. Hier auch ist die Quelle der Kunst, denn wirkliche Kunst hat ihre Wurzeln in mystischem Erleben und gnostischer Bewusstwerdung und sie ist selbst die Darstellung des Geistigen in bestimmten frei geschöpften Zeichen. Der wahre Mythos wiederum ist eine bildhafte Zusammenfassung der gemachten Erlebnisse und Erfahrungen in Gedanke, Bild, Wort oder Schrift. Der echte Mythos bezieht seinen Zauber und seine Kraft aus den drei höheren Stufen, mit denen er untrennbar verbunden ist und die in ihn hineinverwoben sind: Mystik, Gnosis und Magie. Und es sind diese drei höheren Stufen, die ihn von rein begrifflichen Konstruktionen und künstlichen Fiktionen unterscheiden.

Dem Mythos liegt also eine Bewegung zugrunde, die stufenweise von oben herabsteigt. Er stellt damit genau die Gegenbewegung zu den modernen Abstammungslehren dar. In diesen wird die Welt‑ und Menschenentwicklung gemäß dem Darwinschen „trial and error“ so aufgefasst, dass sich das Bewusstsein von unten heraufentwickelt hat ‑ vom Einzeller zum ersten Organismus, von pflanzenhaften zu Tier‑Formen, vom tierischen Bewusstsein zum menschlichen. Der Mythos hingegen geht von einer herabsteigenden Bewegung aus, denen vier Formen von Bewusstsein entsprechen: das mystische, das gnostische, das magische und das eigentlich mythische.

Entwicklungsstufen der Menschheit

Diesen vier Stufen kann man bestimmte Entwicklungsstufen der Menschheit oder Zeitalter zuordnen: Das im wahren Sinne des Wortes ursprüngliche Bewusstsein kann dann als das mystische bezeichnet werden, und das ihm entsprechende Zeitalter das „goldene“. Hier lebte der Mensch in Einheit und ungetrennt von seinem Schöpfer bzw. von seinen Schöpfern. So berichten bestimmte Mythen von einer längst vergangenen Zeit, als die Menschen noch bei den Göttern ein‑ und ausgingen und mit ihnen zu Tische saßen und von ihnen Nahrung, also Substanz erhielten. Ihre Seele befand sich in einer ständigen Berührung mit der göttlichen Sphäre. Diese Berührung vermittelte das im Göttlichen und nur dort anwesende Substantielle in die menschliche Seele und das menschliche Bewusstsein. Aber theses Zeitalter ging zu Ende ‑entweder, weil sich der Mensch nicht mehr zur Höhe des mystischen Bewusstseins aufzuschwingen vermochte, oder weil sich die Götter zurückzogen, so dass des Menschen „spirituelles Tasten“ ins Leere ging.

Dem solchermaßen ärmer gewordenen Menschen blieben aber immer noch die Erinnerungen an die goldenen Zeiten. Sie waren noch so lebhaft in ihm vorhanden, dass er aus den Substanzen, die er bei der einstmaligen Berührung empfangen hatte, weiterhin Kraft, Richtung und Zuversicht schöpfen konnte. Man kann dieses Zeitalter das „silberne“ nennen und das Bewusstsein, welches der Mensch in ihm hatte, als gnostisches bezeichnen. In substanz‑ und erfahrungsgesättigten Bildern und Träumen tauchten die Erinnerungen an die größere Vergangenheit in der Seele auf und bestimmten das Leben der Menschen.

Aber auch theses Bewusstsein verdämmerte mit der Zeit, und an seine Stelle trat, was man magisches Bewusstein nennen kann. Das ihm entsprechende Zeitalter wäre dann als „ehern“ zu bezeichnen. Auf dieser Bewusstseinsstufe tauchten in der Seele des Menschen nicht mehr die substanz‑ und erfahrungsgesättigten Bilder und Träume des einstigen Verkehrs mit den Göttern auf; wohl aber klangen noch deren Kräfte und Wirkungen in der eigenen Seele nach, und auch die ganze ihn umgebende Natur schien ihm noch wie Kundgebungen und Zeichen der einstmals von Angesicht erlebten Götter zu sein. Da sprachen die Götter durch Sturm, Blitz und Donner, durch Feuer, Wasser und Luft, durch Tiere, Bäume, Gebirge und Täler. Die Kunde von diesem Erleben ist uns in den Götter‑ und Heldensagen der Völker, etwa der Griechen und Germanen, aufbewahrt.

Das Bewusstsein, diese Sagen nicht nur mit offenem Herzen als wahre Berichte aufnehmen zu können, sondern auch von ihnen befeuert und im eigenen Handeln angeleitet zu werden, entspricht einer vierten Stufe ‑ dem mythischen oder mythologischen Bewusstsein. Diesem Bewusstsein läßt sich kein eigenes Zeitalter zurechnen, da in dem Augenblick, da auch noch das magische Bewusstsein verdämmerte, auch der Mythos erstarb.

Das bedeutet, dass der Zeitpunkt, da die Fähigkeit, in der äußeren Sinneswelt die Sprache der Götter zu vernehmen, verdämmerte, das von aller Substanz und allem Mythos entleerte, darum entsubstantialisierte und entmythologisierte und deshalb abstrakte Bewusstsein entstand. Und diesem fünften Bewusstseinszustand entspricht ein Zeitalter, das durch Menschen bestimmt ist, die alle Erinnenung an frühere höhere Bewusstseinszustände verloren haben, dafür aber vollständig in und an der sinnentleerten, nur noch für die Sinne wahrnehmbaren Außenwelt erwachen ‑ und das trifft heute mehr oder weniger auf jeden zu.

Wenn man die Weltentwicklung auf diese Weise betrachtet, so könnte man versucht sein, dem abstrakten Bewusstsein und dem materialistischen Zeitalter den Rücken zu kehren, um zu den alten, reicheren Bewusstseinszuständen der Vergangenheit zurückzufinden. Aber schon die schmerzhaften Erfahrungen unseres Jahrhunderts ‑ ich denke an die faschistische Periode in Europa oder an den in jüngster Zeit weltweit aufkommenden Fundamentalismus verschiedener Prägung ‑ können uns klarmachen, dass jeglicher Versuch, die neuere Menschheitsgeschichte als Fehlentwicklung zu betrachten und das Rad der Geschichte zurückzudrehen, in gewaltige humanitäre Katastrophen führt.

Zudem bergen die geschilderten höheren Bewusstseinsstufen auch ihre Gefahren in sich: Das mystische Bewusstsein ist durch die Einheit mit der göttlich‑geistigen Welt gekennzeichnet. Hier war der Mensch ungeschieden mit den Göttern eins. Würde man versuchen, in unserer heutigen Zeit mit irgendwelchen Techniken dieses Bewusstsein zu erreichen, so könnte dies zur Entpersönlichung führen. Denn mit dem Aufgehen in der allumfassenden Einheit ist die Gefahr der Auflösung der Besonderheit und Vereinzelung ‑ das aber ist die einzelne Persönlichkeit ‑ verbunden.

Wie das mystische Erleben von rauschhafter Entgrenzung und Auflösung der Persönlichkeit bedroht ist, so ist das gnostische Schau‑ oder Hörerleben ohne die Kraft der Unterscheidung, die nur das einzelne Gewissen der menschlichen Person aufbringen kann, davon bedroht, für göttlich zu halten, was nicht göttlich ist, und so etwa die eigene Individualität dort für auserwählt und begnadet zu sehen, wo sie bloß einer Illusion zum Opfer gefallen ist.

Steilen wir uns andererseits vor, das magische Bewusstsein würde unvermittelt in unser Gegenwartsbewusstsein durchschlagen, wohin könnte dies führen? ‑ Zum Wahn. Dieser kann sich zum Beispiel darin äußern, dass der Betreffende in allem und jedem Zeichen einer unsichtbaren Welt sieht. Verbindet er diese „Zeichen“ mit einem Sendungsbewusstsein, so wird er sie als Bestätigung seiner Auserwähltheit sehen, während er dann möglicherweise alles, was gegen diese „Auserwählung“ spricht oder ihr im Wege steht, als Anzeichen einer gegen ihn gerichteten Verschwörung deutet. Entpersönlichung, Illusion und Wahn sind Gefahren, wie sie sich bei dem Versuch einstellen können, die geschilderten höheren Bewusstseinsstufen wiederzuerlangen, ohne der modernen Welt‑ und Bewusstseinsentwicklung in der rechten Weise Rechnung zu tragen. Darum soll es jetzt um den Versuch gehen, den Sinn der Entsubstantialisierung und Entmythologisierung zu verstehen. Hierzu ist es notwendig, diese Vorgänge noch von einer anderen Seite aus zu beleuchten.

Verdämmerndes Wesen und erwachendes Personbewusstsein

Vermutlich kennen die meisten den berühmten Philosophenstreit, der das Mittelalter in zwei Lager gespalten hat und zu leidenschaftlich ausgefochtenen Disputationen führte: der Gegensatz von Nominalismus und Realismus. Zunächst soll kurz der Unterschied skizziert werden.

Der realistische Philosoph ging etwa von folgender Erwägung aus: Wenn ich die Welt erkennen will, so muss ich sie zunächst wahrnehmen. Hierzu benötige ich meine Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten vermitteln mir Eindrücke, die die Außenwelt auf mich macht. Der realistische Philosoph nannte dieses Wahrnehmungsvermögen und die durch es gegebene Welt Sensus. Nun liefern mir meine Sinne zwar unzählige Eindrücke und Informationen, ich finde darin aber keinerlei Ordnung, solange ich mich rein auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung befinde. Ordnung in diesem Chaos schafft vielmehr eine Instanz in mir, die das Sinnenmaterial als solches unterscheidet und es nach logischen Gesichtspunkten zusammenstellt. Dieses Vermögen nannte der mittelalterliche Realist Ratio. Er meinte damit unseren Verstand oder unser Vermögen der logischen Schlüsse.

Was aber macht, dass zum Beispiel die vielen Tiere mit Fell, Hufen, Schwänzen, Wiehern usw. immer Pferde sind? Was macht die „Pferdheit“ in ihnen aus? Der realistisch orientierte Philosoph hätte geantwortet: die Idee des Pferdes. Diese Idee wird von einer noch höheren Instanz des menschlichen Erkenntnisvermögens erkannt: dem Intellectus, d.h. unserer Vernunft oder unserem Vermögen der Ideen.

Dass es aber diese vielen Ideen gibt, welche the sinnliche Außenwelt in der mannigfaltigsten Mt gestalten, ist dem Schöpfer aller Ideen zu verdanken, jenem universalen Geist also, der alles aus sich hervorbringt: Deus oder Gott.

Dieser vierfachen Stufung unseres Erkenntnisvermögens entsprachen vier Sphären des Seins: die natürliche Welt, die logische oder Verstandeswelt, die ideelle oder Vernunftwelt und schließlich die göttliche „Welt“.

Wenn wir nun diese vier Stufen mit dem Schema vergleichen, das im ersten Teil dieses Vortrages entwickelt wurde, so gibt es eine deutliche Entsprechung:

Gott (Deus) ‑ Mystik (göttliche „Welt‘)

Vernunft (‚Intellectus‘) ‑ Gnosis (vernünftige Welt)

Verstand („Ratio‘) ‑ Magie (magische Welt)

Sinne („Sensus‘) ‑ Mitteilung (physische Welt)

Dies bedeutet: Um wirklich mit Gott in eine substantielle Verbindung zu kommen, muss der Mensch in irgendeiner Form Mystiker sein. Will er sich dieser Verbindung bewusst werden, so muss er Bürger der Vernunftwelt oder Gnostiker sein. Sollen seine Begriffe „seinsmächtig“ sein, d.h. wirklich mit dem Göttlichen und der Welt übereinstimmen, so muss er nicht nur über einen klaren logischen Verstand verfügen, sondern auch Magier sein. Dann lebt in seinen Worten und Taten nicht nur Klarheit und Vernunft, sondern auch etwas von den Ursubstanzen der Welt ‑ das Heilige.

So etwa lässt sich kurz gefasst die Position des sogenannten ‚Universalien-Realismus“ und seiner letztlichen Konsequenzen beschreiben. Der nominalistische Philosoph nun zweifelte daran, dass die „Stufenontologie“ seines realistischen Gesprächspartners zu irgend etwas substantiell Wirklichem fuhrt. So bestritt er, dass Gott als Substanz oder Sein aufzufassen sei. Für den Nominalisten war er eher Person als Sein oder Wesen. Wenn aber der Wesensaspekt Gottes, sein Sein in den Hintergrund rückte, so wurde auch die Herkunft der Ideen zweifelhaft. Wenn sie nicht aus Gott hervorgehen, wer bringt sie dann hervor? Diese Frage war für den nominalistischen Philosophen rein rhetorischer Natur, denn die Antwort lautete ganz klar: der Mensch selbst. Der Mensch bringt mit seinem Vermögen des Intellectus diese Ideen als bloße Abstraktionen von den wirklich vorhandenen Einzelwesen hervor. Für den Nominalisten war das Vermögen der Ideen also nicht, wie für den Realisten, em die Ideen erfassendes, sondern vielmehr ein die Idee verfassendes Erkenntnisprinzip.

Was bedeutet es nun, wenn der Mensch daran zweifelt, in eine wirkliche Verbindung mit dem Göttlichen und der aus ihm hervorgehenden Ideenwelt zu kommen? ‑ Er versperrt sich den Zugang zur Quelle alles Substantiellen in der Welt. Und in der Tat war eine Entsubstantialisierung die Folge der nominalistischen „Versubjektivierung“ des Ideenvermögens oder der Vernunft.

Mit dieser Entsubstantialisierung ging eine Aufwertung des Verstandes einher, der mehr und mehr zum eigentlich zählenden Erkenntnisvermögen aufrückte. Die wichtigste Leistung des menschlichen Verstandes ist die logische Erklärung des Gegebenen, d.h. dessen rationale Durchdringung, die man als Aufklärung bezeichnen kann. So wurde als Folge des nominalistischen Einwandes gegen die sogenannten „Universalien‑Realisten“ die ganze durch die Sinne erfaßbare Natur immer mehr allein nach den Gesetzen der Ratio erforscht und verstanden, was schließlich zur Neuentdeckung der Natur durch die modernen Wissenschaften geführt hat. Im Zuge der nominalistischen Aufklärung verdämmerte also die altere Auffassung der Natur als eines sinnvollen, sprechenden Ganzen, verdämmerte das Erleben ihrer moralischen und magischen Dimension. Wenn zum Beispiel nicht mehr die Sprache der moralisch richtenden Götter in Blitz und Donner empfunden wird, sondern darin ein elektromagnetischer Zusammenhang zum Ausdruck kommt, ist es mit dem magischen Naturerleben aus. In den letzten 150 Jahren wurden auch die in den sogenannten ‚Heiligen Schriften“ oder in den Sagen und Legenden der Völker aufbewahrten ehemaligen substantiellen Erfahrungen Gottes und der geistigen Welt und ihre magische Interpretation immer mehr zum Gegenstand rein rationaler Erklärungen. Auf die Entsubstantialisierung und Rationalisierung folgte zwangsläufig die Entmythologisierung.

Was hier nur kurz angedeutet ist, war der dramatische Vorgang der Entwesentlichung unseres Erkenntnisvermögens und seiner Gegenstände auf dem Wege von Entsubstantialisierung, Rationalisierung und Entmythologisierung. Aber mit dieser „Wesensdämmerung“ ging ein anderer Prozess einher, den Theo Kobusch als Entdeckung der Person bezeichnet (Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg‑Basel‑Wien 1993). Und diese Entstehung und das Sichdurchsetzen unseres abendländischen personalen Bewusstseins wurde mit dem Abbau der mittelalterlichen „Substanzontologie“, d.h. mit dem Verdämmern und schließlichen Verlust des Wesensaspektes der Welt und der Menschen erkauft. Kobusch bringt im Einklang mit der nominalistischen Tradition die Person des Menschen mit dem esse morale ‑ dem moralischen Sein ‑ in Zusammenhang: Indem der Mensch mehr und mehr ein Bewusstsein der Wesensaspekte der Welt und seiner selbst verlor, erwachte er für seine eigene personale Mitte, welche Ursprung des moralischen Handelns und der moralischen Verantwortung ist. So sind wir uns heute zwar in der Regel unserer Personalität und der damit verbundenen Menschenwürde bewusst geworden, wir stehen aber der Natur als etwas gegenüber, von dem wir nur die materielle Außenseite wirklich erfassen. Die heutige Wissenschaft geht weitgehend von der Hypothese aus, Natur und Kosmos seien aus dem Nichts gekommen und würden in das Nichts vergehen. In der Sprache des mittelalterlichen Denkers Johannes Scotus Eriugena (Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur, übers. v. L. Noack, 3. Aufl., Hamburg 1994) vertfügt unser modernes Bewusstsein damit über keine Erfahrung und Erkenntnis der göttlich‑schöpferischen Natur oder der hinter allen Naturerscheinungen wirksamen, sie hervorbringenden unsichtbaren Natur. Da wir in der Regel die geschaffene Natur ohne den Zusammenhang mit ihren höheren Stufen oder Sphären in den Blick nehmen, bewegen wir uns in einem Bereich, den Scotus als ungeschaffene, nichtschaffende Natur bezeichnet, die, weil sie nicht sein könne, das Nichts sei.

Zweifellos ist es dieses von dem mittelalterlichen Denker für unmöglich gehaltene Nichts, das mehr und mehr denjenigen Bereich der „Natur‘ darstellt, den der modern denkende Mensch in den Blick genommen hat. In diesem Nichts, welches frei von allem metaphysischen und moralischen „Ballast“ absolute Machbarkeit und Macht verheißt, sucht er alles nach eigenem Ermessen einzurichten und hervorzubringen ‑ mit der bekannten Folge, dass das Natürliche mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wird und das Künstliche hervortritt: die „Unter‑Natur“.

Der Weg der Entdeckung der Person war mit einem Abstieg des Menschen in die Unter‑Natur verbunden. Wir befinden uns heute schon nicht mehr auf einer oder mehreren der Stufen der Natur im Sinne des Scorns Eriugena und auch nicht in einer der vier Sphären des mittelalterlichen Weltgebäudes (Gott, Engel‑ oder Vernunftwelt, menschlicher Verstand, sinnlich wahrnehmbare Naturreiche), sondern sind noch weiter abgestiegen, in eine fünfte Sphäre, die man als von aller Wesenhafligkeit befreites abstraktes Bewusstsein bezeichnen kann. Und jene Abstraktheit des heutigen Bewusstseins und Denkens war notwendig, damit wir uns unserer Menschenwürde und unserer Existenz als personale moralische Wesen bewusst werden konnten.

Sind wir damit am Ende aller Wege angekommen? Ist das abstrakte Bewusstsein der Weisheit letzter Schluss? ‑‑ Ganz sicher nicht. Denn wenn der hier kurz skizzierte Weg des Bewusstseins zunächst zur methodischen Ausblendung und dann zu dem Verlust der höheren Stufen der Wirklichkeit und der Erkenntnis geführt hat, so kann es sich eigentlich nur darum handeln, diese Stufen und die sich darauf beziehenden Realitäten in einer Weise wiederzugewinnen, welche der neuzeitlichen Entwicklung zur personalen Freiheit Rechnung trägt. Wir haben daher heute auf der fünften Stufe des völlig und ganz abstrakt gewordenen Denkens anzusetzen, um es in einem frei gewählten Schulungsweg neu mit dem geistig Wesenhaften der Welt in Verbindung zu bringen.

Diesen Weg kann man als Spiritualisierung des Denkens bezeichnen. Und da die fünfte Stufe des entsubstantialisierten, entmythologisierten, rationalisierenden und darum abstrakten Bewusstseins zugleich die der Entdeckung der Person als moralisches Sein darstellt, ist der stufenweise Wiederaufstieg des Bewusstseins oder die Spiritualisierung des Denkens ein Prozess, der mit einer weiteren Moralisierung und Personalisierung des Bewusstseins Schritt hält. Wir müssen heute von unserer personalen, moralischen Mitte aus die vier Prinzipien oder Stufen des mittelalterlichen Weltgebäudes neu zu erreichen versuchen. Daraus ergibt sich ein vierstufiger Studienweg entsprechend der Wiedergewinnung dieser vier Sphären der platonisch‑aristotelischen Philosophie des Mittelalters unter neuzeitlichen Bedingungen:

• Der Aufstieg zur (diesen Namen verdienenden) sinnlichen Natur gestaltet sich als die menschliche Personalität und Moralität einbeziehendes Wahrnehmen der verschiedenen Naturreiche im Sinne des ganzheitlichen Ansatzes von J. W. v. Goethe (zum Beispiel in seiner „Farbenlehre“ oder „Die Metamorphose der Pflanze“. Vgl. J.W. v. Goethe, „Die Farbenlehre“ in: Sämtliche Werke, Band 10, München 1989; ders,, „Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie“, in: op. cit., Band 12.) und später von Pavel Florenskij (vgl.Michael Silberer, „Die Trinithtslehre im Werk von Pavel A. Florenskij“, in: Das Östliche Christentum. Abhandlungen im Auftrag des Ostkirchlichen Instituts der deutschen Augustiner, Neue Folge Bd. 36, Augustinus‑Verlag Würzburg 1984, 212) – Florenskij war der „Goetheanist“ unter den russischen Sophiologen. (Die Sophiologie ist eine von Wiadimir Solosew inaugurierte neuere Strömung innerhalb der russischen Philosophie, deren wichtigsten weiteren Repräsentanten Pawel Florenskij und Sergeij Bulgakow sind. Vgl. Michael Frensch, Weisheit in Person. Zur religionsphiloso­phi sehen Begründung der Sophiologie, Schaffhausen 2000), der das schöne Wort von der „sophianischen Einfärbung der Schöpfung“ geprägt hat.

• Der Aufstieg zur Welt der menschlichen Vernunft (Ratio) gestaltet sich vor allem als Aufgabe, die Bedingungen und Grenzen der formalen Logik zu erkennen und das ganze System der dem Computer anheimgefallenen Logik in eine integrale oder moralische Logik umzugestalten, die dabei zu einer individualisierten, personalisierten Logik wird. Wichtige Vorarbeiten hierzu hat zum Beispiel der letzte große platonisierende Denker an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, Nikolaus von Kues, geleistet (vgl. Nikolaus Cusanus, „De Coniecturis“, in: Philosophisch‑Theologische Schriften, hrsg. v. Leo Gabriel, Bd. 11, Wien 1966, 1ff.).

• Der Aufstieg auf die Stufe der Ideenwelt (die mit der im Mittelalter als real erlebten Engelwelt identisch ist) hängt mit demjenigen zusammen, was Wladimir Solowjew (der „Idealist“ unter den russischen Sophiologen) als „mystisches Prinzip“ zum Erleben der Idee der All‑Einheit bezeichnet hat, aus dem nach seiner Ansicht sich in Zukunft die „freie Theosophie“ entwickeln wird (vgl. Wladimir Solowjew, „Kritik der abstrakten Prinzipien“, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Soloivjew, Band 1, München 1978,13 ff.). Sie kann zum Beispiel durch eine Bewusstseinsschulung erreicht werden, wie sie Rudolf Steiner in der von ihm inaugurierten Anthroposophie im einzelnen ausgearbeitet und dargestellt hat.

Die Hinwendung zur vierten Stufe des Weltgebäudes könnte dann im Sinne einer Vertiefung in das Mysterium des individuellen, freien Schöpfertums geschehen ‑ ein Zusammenwirken des Göttlichen und Menschlichen in einer Kunst, die sich in allen Gebieten des Lebens realisiert und in die Zukunft hinein zu einer umfassenden Verwandlung von Erde und Mensch führt.

Der hier skizzierte Weg der Spiritualisierung des Denkens in Richtung eines „integralen Bewusstseins“, wie es Jean Gebser bezeichnet hat, ist also ganz und gar praktisch. Er kann zu schöpferischer Kreativität und zur Bereitschaft fuhren, personale Verantwortung zu übernehmen und sie in alle Gebiete des Seins zu tragen. Eine solche Spiritualisierung des Denkens ist gewiss ein hohes, fernes Ziel. Sie ist aber eine Forderung, die unsere Zeit an jeden stellt, der einsieht, dass das abstrakte, materialistische Bewusstsein nur eine zur Entdeckung der Person und ihrer moralischen Verantwortung notwendige Durchgangsstufe ist.

Bewusstseinsentwicklung vor dem Hintergrund der Bibel

Blickt man auf den skizzierten mittelalterlichen Nominalismus‑Streit und seine neuzeitlichen Folgen, so fällt auf, dass zwei Begriffe im Zentrum stehen, welche die Polarität des Menschseins zum Ausdruck bringen: Person und Wesen. Und die beiden Strömungen des Realismus und des Nominalismus waren Repräsentanten jeweils einer der beiden Pole; ihr „Streit“ war notwendig, damit beide Aspekte des Menschseins zu Bewusstsein kamen.

Diese beiden Aspekte kennt auch die Bibel. So wird im ersten Kapitel der Genesis gesagt, dass der Mensch geschaffen wurde als Gleichnis und Ebenbild Gottes. Das Wesen oder Ebenbild ist dasjenige im Menschen, was die Gottheit vollkommen spiegelt. Es stellt die kontemplative Seite im Menschen dar. Die Person oder das Gleichnis wiederum ist dasjenige im Menschen, was Gott gleicht. Und der Mensch gleicht Gott darin, dass er, wie sein Schöpfer, zu freien schöpferischen Taten befähigt ist, dass er bewusst, frei und moralisch verantwortlich handeln kann. Es macht unser Personsein aus, dass wir in welcher Form auch immer frei handeln könnende und für unsere Handlungen moralisch verantwortliche Menschen sind.

Nun heißt es in der Genesis weiter, dass der Mensch den Sündenfall verursachte. Die frühchristlichen Kirchenväter verstanden darunter die Tatsache, dass Ebenbild und Gleichnis durch die Schuld des Gleichnisses voneinander getrennt wurden, dass das Gleichnis durch die als Sündenfall symbolisierte Tat den Zusammenhang mit dem Ebenbild verlor und dadurch zum „Ungleichnis“, zur dissimilitudo wurde.

Das Neue Testament kennt die beiden das Menschsein zum Ausdruck bringenden Polaritäten ebenfalls. Sie kommen zum Beispiel in dem Eingangszitat dieses Vortrages zum Ausdruck. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Bibel mit dem Begriff „Menschensohn“ das Ebenbild Gottes meint, und dass das moralische Handeln Kennzeichen des Gleichnisses ist, kann der zitierte Text auch folgendermaßen gelesen werden: Das Ebenbild wird den handelnden Menschen überliefert, oder: „Das von Gott geschaffene und ihn widerspiegelnde Wesen des Menschen wird in die Hände der Person des Menschen gegeben werden“. Damit aber wäre die frohe Botschaft des Evangeliums die von der Wiedervereinigung von Ebenbild und Gleichnis und damit von der Überwindung des Falles des Gleichnisses in das „Ungleichnis“.

Aber das Evangelium fährt fort: Die handelnden Menschen, werden den Menschensohn töten. Wir können diese drastische Aussage der Bibel heranziehen, um Entsubstantialisierung, Rationalisierung und Entmythologisierung noch von einer anderen Seite aus zu verstehen. Denn das Verdämmern und der schließliche Verlust des Wesensaspektes von Welt und Mensch bedeutet in letzter Konsequenz Tod. Von daher kann man den aktiven Vorgang der Entwesentlichung als ein Töten bezeichnen. Und da der Wesensaspekt des Menschen mit dem Ebenbild zusammenhängt, kommt der Entsubstantialisierung und Entmythologisierung die Tötung des Ebenbildes gleich, das in den Evangelien als „Menschensohn“ bezeichnet wird.

Man kann also die These aufstellen: Die abendländische Bewusstseinsentwicklung der letzten 1200 ‚Jahre bestand in einem zunehmenden Entsubstantialisierungs‑, Rationalisierungs‑ und Entmythologisierungsprozess bzw. in einer sich steigernden Entwesentlichung, die der Tötung des Menschensohnes durch die zu ihrer Personalität erwachenden handelnden Menschen entsprichtt. Diese These lässt sich auch so formulieren: Was in der persönlichen Biographie lesu Christi geschehen ist: dass er den Händen der Menschen überliefert und von ihnen getötet wurde, geschah auf historisch‑menschheitlichem Niveau insbesondere während der letzten 1200 Jahre. Die Passion Christi wiederholte sich ‑ jedoch dieses Mal nicht an einem besonderen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Menschen, sondern auf weltgeschichtlichem Niveau in der ganzen Menschheit.

Man kann mit gutem Grund davon ausgehen, dass dieser Vorgang im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Abschluss gekommen ist: Mit der Heraufkunft von Materialismus und Nihilismus nach der vorangehenden Aufklärung war der Entsubstantialisierungs‑, Rationalisierungs- und Entmythologisieningsprozess in der Tat so weit fortgeschritten, dass mandavon sprechen kann, dass der „Menschensohn von den handelnden Menschen getötet“ worden ist. Materialismus, Nihilismus und Konfrontation mit dem Tod waren der Preis, der gezahlt werden musste, damit der moderne Mensch sein Person‑Bewusstsein entwickeln konnte, über das heute mehr oder weniger fast jeder Mensch frei verfügt. Insofern sind Entsubstantialisierung, Rationalisietung und Entmythologisierung in der Tat zu den wichtigsten Existenzfragen unserer Zeit geworden.

Jedoch bleibt das angeführte Bibelzitat nicht bei einer pessimistischen Prognose stehen. Es verheißt nicht nur die Tötung des Menschensohnes, sondern auch dessen Auferstehung in drei Tagen. In unserem Kontext läßt sich dieser Vorgang folgendermaßen beschreiben: Ab dem 20. Jahrhundert beginnt die Auferstehung des Menschensohnes im Bewusstsein der menschlichen Personen. Diese Auferstehung erstreckt sich über drei Zeitalter, Epochen oder Weltentage, entsprechend den Dimensionen des wiedergewonnenen Magischen, Gnostischen und Mystischen.

 Zusammenfassung

Der Mythos ist Ergebnis eines Erfahrungs‑ und Erkenntnisprozesses, der aus vier Stufen besteht. Die erste Stufe kann als Mystik bezeichnet werden. Die mystische Erfahrung ist das Ergebnis eines spirituellen Tastens, wobei die in Versenkung befindliche Individualität die Begegnung mit einer anderen, rein geistigen Realität sucht. Kommt es zu dieser Begegnung, so kann man sie als gegenseitige Berührung bezeichnen. Es handelt sich dabei um eine substantielle Erfahrung, von welcher der Mystiker weiß, dass dasjenige, was ihn berührt, nicht er selbst ist, sondern etwas „göttlich“ viel Reicheres und Tieferes als er selbst.

Um diese Aussage zu treffen, ist eine zweite Stufe der Bewusstwerdung notwendig: die Vergegenwärtigung des mystischen Erlebens. Man kann diese Stufe als „reine Gnosis“ bezeichnen, weil hier, was sonst unerinnertes mystisches Erleben bleiben müßte, bewusst wird. Auf dieser Ebene ist das Bewusstsein (möglichst) reiner Spiegel der mystischen Erfahrung. Ist, was auf der gnostischen Stufe erfahren wird, wirklich Ergebnis eines echten, substantiellen mystischen Erlebens, so sind darauf beruhende Handlungen im eigentlichen Sinne magisch, weil die Exteriorisation oder das Heraussetzen des in der Gnosis bewusst gewordenen, der Mystik verdankten Inhaltes mehr ist als die Projektion des eigenen Innenlebens. Es bekundet sich darin eine höhere Realität und Kraft, und diese Manifestation einer höheren Kraft auf einer tieferen Ebene ist dasjenige, was man als Magie bezeichnen kann. Wird dieser dreistufige Prozess in Form einer Legende, einer Erzählung oder eines Lehrkodex festgehalten, so haben wir einen wirklichen Mythos oder eine „heilige Schrift“ vor uns. Jeder Mythos hat also drei unsichtbare Stufen über sich, denen er sich verdankt: die Mystik, die Gnosis und die Magie.

In Analogie zu dem beschriebenen Bewusstwerdungsvorgang läßt sich die Bewusstseinsgenese der Menschheit als Abstieg beschreiben von einer ursprünglichen mystischen Zeit (in den Legenden verschiedener Völker als ‚goldenes Zeitalter“ bezeichnet) über eine darauffolgende gnostische Zeit („silbernes Zeitalter“) zu einer mehr magisch geprägten Epoche („ehernes Zeitalter“). Wir leben in einem Zeitalter, das man, solange es unter den Vorzeichen von Entsubstantialisierung und Entmythologisierung steht, als „finsteres Zeitalter“ bezeichnen kann, denn es steht mit dem Verdämmern der höheren Stufen des Bewusstseins in Verbindung. Entsubstantialisierung liegt vor, wenn die mystische Stufe verdämmert, d.h. wenn es zu keiner substantiellen Erfahrung des Transsubjektiven, Göttlichen mehr kommt. So wird die Vergegenwärtigung der mystischen Erfahrung mit der Zeit zu einem bloßen Akt der Erinnerung an einen Wahrtraum. In der Folge verlieren auch die Taten der Menschen (im Gegensatz zu den ehemaligen Taten der Helden bzw. der Heiligen) ihre magische Kraft und werden zu eindimensionalen Handlungen. An die Stelle des geschichtsmächtigen Mythos tritt dann die bloße Erzählung, die man auf ihre verschiedenen Elemente hin analysieren und deren frühere Kraft und Wirkung man rational erklären kann. Die Entsubstantialisierung fuhrt zum Verlust des Mystischen und Gnostischen; die Rationalisierung zur Tilgung der verbliebenen Spuren des Magischen und des Mythischen, so dass man sich den Entmythologisierungsprozess als einen vierstufigen Abbau des Bewusstwerdungsprozesses vorstellen kann. Am Ende dieses Abbauprozesses steht das abstrakte Bewusstsein, von Jean Gebser als mentales Bewusstsein bezeichnet.

Der Entmythologisierungsprozess trat mit historischer Notwendigkeit auf; weil er das von Gebser als „integral“ bezeichnete Bewusstsein vorbereitet, welches die genannten vier Bewusstseinsstufen von der personalen Mitte aus integriert. Das „integrale Bewusstsein“ ist nicht durch Reminiszenz an die verloren gegangenen Bewusstseinsstufen vergangener Zeitalter zu haben, denn da diese durch den „Nullpunkt“ oder das „Nadelöhr“ des abstrakten Bewusstseins geffihrt worden sind, bedarf es einer Auferweckung und Auferstehung dieser Bewusstseinsstufen durch eine neue Kraft.

Diese Kraft trat mit Christus in die Welt. Die Selbstaussage Christi: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert. Sie werden ihn töten. Und nach drei Tagen wird er auferstehen“ bezieht sich auf diesen Sachverhalt. Was the Bibel den „Menschensohn“ nennt, ist das Ebenbild Gottes oder das Wesen des Menschen. Dessen Überlieferung in die Hände der Menschen meint den Vorgang, durch den die höheren Bewusstseinsstufen der handelnden menschlichen Person verfügbar werden. Die Gefahr ist, dass der Mensch sie sich egoistisch anzueignen oder sie zu verleugnen versucht, wodurch es zum Vorgang der Entsubstantialisiening und Entmythologisierung kommt, d.h. der Menschensohn getötet wird.

In den Zeiten nach Christus jedoch erkennt sich der Mensch am Ende des Entsubstantialisierungsprozesses als Urheber dieses Vorganges; er entdeckt sich als Person, die mit ihrem abstrakten Bewusstsein der völligen Wesenlosigkeit, d.h. dem Nichts gegenübersteht. Der Vorgang der Auferweckung der höheren Stufen kann sich nur nach der Entdeckung der Person und der damit verbundenen existentiellen Erfahrung des Nichts in der und durch die solcherart mit dem Tode konfrontierten Person vollziehen; nur sie selbst kann die höheren Stufen in sich integrieren,

Von Seiten derjenigen Realität, welche sich in den genannten höheren Bewusstseinsstufen manifestiert, kommt ihr dabei jene Hilfe entgegen, die durch das Ostermysterium geboren wurde, so dass der Mensch die dreie drei Bewusstseinsstufen des Magischen, Gnostischen und Mystischen in sein Alltagsbewusstsein integriert, wobei sie in drei Welten“tagen“ oder Zeitaltem  in ganz neuer Gestalt in der Person des Menschen auferstehen können. Dies ist u.a. mit der Evangelienaussage gemeint: In (oder nach) drei Tagen wird er auferstehen.“

Mit anderen Worten: Was sich im Leben und Erleben des einen Menschen Jesus Christus von Karfreitag bis Ostern abgespielt hat, hat eine gesamtmenschheitliche, zukünftige Dimension. Dies bedeutet unter anderem, dass es in Zukunft neue Mythen geben kann, geschaffen von einem taghellen, glasklaren, logischen, personalen Bewusstsein ‑ wenn der Mensch es will und an der Spiritualisierung seines Denkens arbeitet. Solche aus der Freiheit der christlichen Person neu geborenen Mythen können sich dann durch ihre magischen, gnostischen und mystischen Dimensionen ebenso als geschichtsmächtig erweisen, wie es die auf uns überkommenen, entsubstantialisierten und entmythologisierten Mythen einst gewesen sind.

(Erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem XVIII. Internationalen Jean Gebser Symposium 21. und 22. September 1996 in Schaffhausen)

 

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