13.01.2012

Maître Philippe de Lyon

Roland Marthaler

Nichts findet sich auf Erden, das nicht der Menschen Elend oder die Barmherzigkeit Gottes, das nicht der Menschen Unvermögen ohne Gott oder aber des Menschen Größe mit Gott offenbart. (Blaise Pascal)

I

Im Frankreich des ausgehenden neunzehnten und des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts lebte in bürgerlichem Wohlstand und gesellschaftlicher Bescheidenheit ein Mann, dessen Geistesgröße Welten durchdrang, dessen Taten dem Wunderbaren entsprangen und dessen Kräfte aus Quellen gespeist wurden, deren Unerklärlichkeit Widerstand und Unruhe bei den einen, Dankbarkeit aber und Glauben bei den anderen hervorrief. Abgesehen von einigen Auftritten an den Fürstenhöfen Europas, Russ­lands und Nordafrikas und einem mysteriösen Erscheinen in Amerika, vollzog sich sein irdisches Dasein zur Hauptsache in und um die Stadt Lyon.

Der französische Okkultismus stand in später Blüte. Eliphas Lévy hatte zwar diese Welt verlassen, doch Stanislas da Guaita und Gérard Encausse (Papus), Paul Sédir, René Guénon, René Schwaller de Lubicz u. a. m. waren noch am Leben, schrieben Bücher, gründeten Zeitschriften, experimentierten, waren Mitglieder und Mitgestalter von Geheimgesellschaften, disputierten, waren suchende Schüler an einem Orte, bevor sie Meister wurden, um anderswo wiederum Schüler zu werden …

Ohne Aufhebens zieht derweil in stiller Tätigkeit Anthelme Nizier Philippe seines Weges. Er heilt Kranke, auferweckt Tote, unterstützt Bedürftige und lehrt die Botschaft des Evangeliums. Die Menschen, die ihn kennen und lieben, nennen ihn den Vater der Armen. Alle, die ihn aufsuchen und in engere Beziehung mit ihm treten, nennen ihn Monsieur Philippe. Allein für seine wenigen Schüler ist er der Meister, Maître Philippe. Er selbst bezeichnet sich als Hund des Hirten. In die seltsam verborgene Geschichte der Esoterik ist er als Maître Philippe de Lyon eingegangen, als einer jener Unbekannten Meis­ter und Gesandten aus geistigen Sphären.

Sein Einfluss durchlichtete die düsteren Kammern der Ärms­ten der Armen ebenso wie die geheimen Kabinette des Hochadels. Dem Bettler war er ein Bruder, gleich wie er es dem Zaren war. Was wir heute noch von ihm wissen, verdanken wir den Aufzeichnungen seiner Familie, seiner Schüler, Freunde, Patienten und Gegner. Er selbst hat, von ein paar Briefen abgesehen, keine Dokumente hinterlassen. Es ist uns keine Gewissheit erlaubt, kein wissenschaftliches Ja zu seinem Wirken – aber auch kein Nein. Ein paar Gerichtsurteile und Polizeiberichte, biographische Daten, einige Niederschriften seiner Gespräche und Belehrungen und ein paar Dutzend Beschreibungen von Heilungen und außergewöhnlichen Vorkommnissen – immerhin: die Geschichten sind schriftlich bezeugt, sind his­torisch belegt. Die Heilungen fanden vor Zeugen statt, und die überlieferten Worte richteten sich größtenteils an eine Vielzahl von Zuhörern. Die Aufzeichnungen, die wir besitzen, sind uns von jenen Menschen geschenkt, die im Umkreis von Maître Philippe lebten und in irgendeiner Weise mit ihm verbunden waren. Durch die Kraft ihrer Feder tragen sie sein Licht und sein Geheimnis hinaus in die Welt. Mit Recht schreibt Edouard Bertholet:

Dankbarkeit gebührt all jenen Menschen, die es möglich machten, dass so viele wertvolle Worte mit heiligem Eifer gesammelt wurden. Auf jeden Fall kann man bestätigen, dass die Worte von Maître Philippe in ihrer Wesenhaftigkeit bewahrt worden sind.

Dennoch steht die in den Herzen unzähliger Menschen eindrucksvoll leuchtende Spur des Maître Philippe in seltsamem Gegensatz zur Spärlichkeit seiner Spuren in der Welt. Aber eben: Der Weltenrausch hat kein Zuhause im Reich des Geis­tes, der Weltenlärm dringt dort nicht ein, wo Schweigen Hören ist.

Zum Geburtstag des Meisters am 5. April 1905 stellte Claude Laurent-Bouthier eine Anzahl der damals verfügbaren Dokumente zu einer Gedenkschrift zusammen. Darin führt er unter anderem aus:

Als sicherste Zeugnisse muss man wohl diejenigen seiner engsten Angehörigen betrachten, allen voran jene seiner Tochter Victoire, gewisslich jene seines Bruders Hugues Philippe ‘Monsieur Auguste’, dann die des mystischen Schriftstellers Paul Sédir und jene von Auguste Jacquot, Jean Bap­tiste Ravier und Claude Laurent [er selbst].

Der Vollständigkeit halber seien hier als sichere Gewährsleute noch erwähnt: Papus, Marc Haven, der Schwiegersohn von Maître Philippe, und schließlich und vor allem sein innigster Schüler und vom Meister selbst designierter Nachfolger Jean Chapas. Von ihm sagte der Meister einmal zu Sédir:

Ich habe Chapas gleichviel gegeben wie euch allen, er aber, er ist demütig.

Es ist hier wohl angebracht, kurz jener Menschen zu gedenken, denen wird die Zeugnisse und Publikationen verdanken auf die wir uns im Folgenden beziehen werden. Man wird dabei unschwer feststellen, dass es sich dabei keineswegs um weltfremde Träumer und esoterische Schwärmer handelt, sondern um Menschen, die mit beiden Beinen im Leben standen, den Alltag mit all seinen Nöten kannten, ihn aber – im Unterschied zur Mehrzahl ihrer Mitbürger – durch die Praxis ihrer hohen Lehre zu weihen suchten.

Auguste Hugues Philippe (1858-1924)

Ein jüngerer Bruder von Maître Philippe. Er nahm an zahlreichen Sitzungen des Meisters teil. In aller Demut anerkannte er den hohen Geist seines Bruders. Noch in späteren Jahren soll er, wenn dessen Name erwähnt wurde, den Hut vom Kopf genommen haben. Er lebte lange Zeit als Bauer im gemeinsamen Geburtshaus in Loisieux. 1906 zog er mit seiner Frau nach Arbresle bei Lyon, um das Gut von Maître Philippe zu bewirtschaften. Nach dem Tod seiner Gattin zog er sich für den Rest seines Lebens nach Loisieux zurück. Obwohl er den Taufnahmen Hugues erhalten hatte, nannte ihn jedermann Monsieur Auguste.

Auguste Jacquot (1873-1937)

Ein Freund Sédirs und unermüdlicher Teilnehmer an den Sitzungen. Nach dem Tod von Maître Philippe lebte er in der Wüs­te und in den Bergen Nordafrikas, wo er als Ingenieur für die französische Regierung beim Bau des Streckennetzes der Eisenbahn arbeitete. Man sagt von ihm, dass, nachdem er die Sterbesakramente von einem Franziskanermönch erhalten hatte, dieser niederkniete und sich an Auguste Jacquot wendend sprach: „Es ist nun an euch, mich zu segnen.“ Bei seinem Tode am 16. Juni 1937 soll er mit weit geöffneten Armen gesprochen haben: „Herr, da bin ich.“

Dr. Philippe Encausse (1906-1984)

Sohn von Papus, Arzt wie sein Vater. Er wurde nach Maître Philippe benannt. Dank der Verfügbarkeit des Archivs seines Vaters stellte er das ausführlichste Buch über Maître Philippe zusammen, das ihm 198 eine Silbermedallie der Académie Française eintrug.

Alfred Haehl (1870-1957)

Im Jahre 1899 veranlasste Papus dessen Begegnung mit Maître Philippe. Alfred Haehl beschreibt dieses erste Treffen wie folgt:

Wir warteten schon seit geraumer Zeit in dem an das Laboratorium angrenzenden Zimmer, als die Verbindungstür sich öffnete und ein etwa 50 jähriger Mann von durchschnittlicher Größe im hellen Türrahmen erschien. Es war Monsieur Philippe. Diese Erscheinung löste in mir eine tiefe innere Bewegung aus. Mein ganzes Wesen neigte sich ihm zu, als antwortete es auf einen unausgesprochenen Ruf. Zu meinem großen Erstaunen sprach er unverzüglich und mit väterlicher Stimme zu mir: „Ah! Da bist du. Es ist Zeit, dass du kommst.“

Paul Sédir – Yvon Le Loup (1871-1926) Dieser französische Okkultist und Mystiker arbeitete als Bankbeamter in Paris, als er, wie fast alle Schüler des Meisters, von Papus bei Maître Philippe eingeführt wurde. Sein Pseudonym erhielt er von Papus. Es ist ein Anagramm des französischen Wortes Désir, und dies in Anlehnung an das Buch: l’Homme de Désir von Louis Claude de Saint-Martin. Unter der Leitung von Papus ward Sédir nicht nur in die Geheimlehren, sondern zugleich in verschiedene okkulte Kreise eingeführt. Sédir hatte den Ruf eines geachteten und beliebten Lehrers in der von Papus gegründeten École Supérieure libre des Sciences Hermétiques. Auch veröffentlichte er zahlreiche Schriften. Nach seiner Begegnung mit Maître Philippe wandte er sich jedoch vom Okkultismus ab. Er trat aus allen Logen und Bruderschaften aus, um sich hinfort nur noch mit der christlichen Botschaft der Evangelien zu beschäftigen. Er begründete die Vereinigung der Amitiés Sprirituelles, mit Zweigstellen in verschiedenen Städten Frankreichs. Er schreibt:

„Seit 1887 habe ich mich mit mancherlei Studien beschäftigt. Ein unverdientes Glück brachte mich mit den Wortführern der verschiedenen Traditionen in Kontakt. Aus Rücksichten der Konvenienz war es mir nicht möglich, vor aller Welt Dinge preiszugeben, die unbekannte, doch außergewöhnliche Männer als geheim erachteten. Rabbiner haben mir unbekannte Manuskripte geliehen, Alchemisten haben mir Eintritt in ihre Laboratorien gewährt. Mit Sufis, Buddhisten und Taoisten verbrachte ich ganze Nächte im Heiligtum ihrer Götter. Ein Brahmane ließ mich das Buch seiner Mantrams abschreiben, und ein Yogi erklärte mir das Geheimnis der Versenkung. Aber eines Abends, nach einer gewissen Begegnung3, erschien mir alles, was diese bewundernswerten Männer mich gelehrt hatten, wie leichter Dunst, der der abendlich erhitzten Erde entsteigt.

Das Dogma und die Liturgie unserer katholischen Religion sind der vollkommenste Ausdruck der integralen Wahrheit, den es zur Zeit auf Erden gibt. Was die Theologen geschrieben haben, ist nicht der zwanzigste Teil der Wahrheiten, die in diesen Formeln enthalten sind. Alles ist im Katholizismus enthalten, sowohl die Wissenschaft der Mineralien wie jene der Seelen … Erkennen, dass man nichts weiß, erfahren, dass man nichts kann, sich überzeugen, dass der Himmel in uns ist, dass der Freund uns ständig mit seinen gebenedeiten Armen umfasst, das ist die Lehre Jesu.“

Wir verdanken Sédir ein ausführliches, in Romanform verfasstes, Werk über Maître Philippe mit dem Titel: Initiations. Darin lässt er uns an seinen persönlichen Erfahrungen mit seinem Meister teilnehmen. Was diese anbelangt, schreibt er in einem Aufsatz:

„Ich verlange nicht, dass ihr mir glaubt. Stellt euch einfach vor, diese Dinge seien vielleicht möglich. Das ist mir genug. Die Anerkennung dieser Hypothese wird euch später für das Licht empfänglich machen, und damit wird mein Ziel erreicht sein. Ich rede nicht, um einem Wesen gerecht zu werden, das sich nicht kümmerte um das Urteil der Welt; für euch rede ich, für eure Zukunft, auf dass ihr in Zeiten der Erschöpfung den Mut finden möget, trotz allem ein wenig voranzukommen.“

Papus, Dr. Gérard Encausse (1865-1916)

Über Papus selbst wurde so viel geschrieben, dass wir uns im Rahmen unserer Arbeit lediglich auf ein paar von ihm stammende und seinen geistigen Meister betreffende Textstellen beschränken wollen. Aus einem Brief:

„Geliebter Meister. Ich habe Euren Brief erhalten und danke Euch dafür, denn immer ist es eine Freude, Eure so sehr ersehnte Schrift zu sehen. Ihr habt mich Christus kennen und lieben gelehrt, und dafür will ich Euch ewig dankbar sein.“

In seiner Eröffnungsrede an der Schule für Magnetismus in Lyon, zu deren Direktor Monsieur Philippe ernannt wurde, spricht er:

„… mit dem Auftrag nach Lyon entsandt, einen Lehrkörper für die neue Schule zu rekrutieren, erkannte ich rasch und mit Freude, wie viele engagierte und gut ausgebildete Praktiker eure schöne Stadt besitzt. Eine solche Vielzahl, dass man mit Leichtigkeit nicht nur eine, sondern wenn es sein müsste, drei Schulen für Magnetismus eröffnen könnte. Da habe ich mich dann an die Stimme des Volkes gewandt, jene gewaltige Stimme, deren Echo durch die Jahrhunderte tönt, wo sich die Stimme der Akademien kaum über einige Monate zu halten vermag. Von Armen und Demütigen hörte ich Worte der Dankbarkeit, vernahm die Segnung von Müttern, denen ein durch die offizielle Wissenschaft verloren gegebenes Kind wiedergeschenkt worden war, und hörte sie alle den Namen eines einzigen Mannes preisen. Ein gewöhnlicher Name für alle, die ihn nicht kennen, ein mächtiger Name aber für diejenigen, die das Mysterium seiner Werke zu würdigen wissen: Philippe. Ich bin also hingegangen, diesen merkwürdigen Menschen aufzusuchen, diesen Mann, der in aller Einfachheit so große Dinge vollbringt, und habe ihn gefragt: „Wer seid ihr, der ihr solche Kräfte besitzt?“ Und er gab zur Antwort: „Seid versichert, ich bin weniger als ein Stein, und aller Verdienst gehört nur Gott, der zuweilen geruht, das Gebet des letzten seiner Kinder zu erhören. Wahrlich ich sage Euch, ich bin nichts, ich bin weniger als nichts.“

Und in seinen späteren Aufzeichnungen schreibt Papus:

„Er hat mich gelehrt, mich zu bemühen, gut zu sein; er hat mich gelehrt, Nachsicht zu üben; er hat mich die Notwendigkeit gelehrt, nichts Ungutes zu reden, und weiter hat er mich das unbedingte Vertrauen in den Vater gelehrt und das Mitgefühl für den Schmerz des Bruders. Schließlich hat er mich gelehrt, dass man nur weiterkommt, indem man am Leid der anderen teilnimmt, nicht aber dadurch, dass man sich aus Angst, seine Reinheit und seine Weisheit zu verlieren, ein­schließt in einen Elfenbeinturm … Deshalb versuche ich, die Menschheit etwas aufzurütteln und einige Ideen um mich her zu verbreiten, die nicht einem menschlichen Gehirn entsprangen, und bemühe mich, jene beiden großen, uns vom Himmel geschenkten Tugenden in die Welt zu tragen, die da heißen: Güte und Toleranz.“

Marc Haven, Dr. Emmanuel Lalande (1868-1926)

In Anlehnung an den Bericht seines Vaters schreibt Philippe Encausse über die Begegnung von Dr. Lalande mit Maître Philippe:

„Durch Vermittlung von Papus lernte Marc Haven Maître Philippe kennen. Papus hatte ihm, gemeinsam mit anderen Okkultisten seines Kreises, eine Mission aufgetragen: Monsieur Philippe aufzusuchen und über die empfangenen Eindrücke Bericht zu erstatten. Marc Haven begab sich nach Lyon, stellte sich Maître Philippe vor und war von dieser Begegnung so erschüttert, dass er sich in dieser geheimnisvollen und liebenswürdigen Stadt niederließ und täglich den Umgang mit dem von allen geliebten und verehrten Meister suchte. Er, der trotz allem, was er bislang unternommen hatte, daran verzweifelte, kein Heilmittel gegen seine innere Leere zu finden … fühlte sich mit einem Schlag von all seinen moralischen Leiden befreit; zugleich spürte er die Möglichkeit eines endlosen Aufstiegs; er empfand die absolute Überlegenheit des Geistes über die Materie. Die Begegnung mit Maître Philippe verursachte in ihm den Übergang von einem initiatischen Weg zu einem Weg des Herzens, einem mystischen Pfad.“

Und Marc Haven schreibt selbst:

„Übrigens habe ich euch gesagt, dass sich die Lehre von Maître Philippe in einigen wenigen Worten zusammenfassen lässt. Ein einziger Punkt ist es, von dem alles ausgeht: die Verwandlung von sich selbst, das Schmieden, das Modellieren, die Bearbeitung des Ichs, bis es nichts Egoistisches mehr an sich hat, bis es nur noch Liebe ist und gütige Tat für seinen Nächsten. Ohne dies ist alles notwendigerweise falsch und zu sterben berufen, die Wissenschaft wie die Tugend, die Taten wie die Theorien oder Ideen, das Leben wie das Glück, alles! Mit diesem aber wird uns alles geschenkt. Fortschritt, Harmonie, Können, Glück und die Möglichkeit zum Glück der anderen beizutragen, sowie eine stets sich erweiternde Kenntnis von allem, von der Welt, von den Menschen, von Gott … Ich schwöre euch, das ist alles. Nichts anderes als eben dieses hat Maître Philippe gelehrt und gelebt.“

Jean Chapas (1863-193)

Folgende Geschichte ist von Augenzeugen überliefert: Mit 7 Jahren stirbt der kleine Jean Chapas. Der Totenschein wird von zwei Ärtzten ausgestellt. Von den Schreinern, die seinen Sarg zimmern, heißt einer Jean Baptiste Ravier. Er ist es, der das Nachfolgende miterlebt und niederschreibt:

„Maître Philippe stand vor dem Bett des Frühverstorbenen und fragte die Mutter Chapas, mit der er bekannt war: „Gibst du mir jetzt deinen Sohn?“ und auf ihr „Ja“ redete er Jean folgendermaßen an: „Jean, ich gebe dir deine Seele zurück.“ Da öffnete dieser die Augen und ward später der treuste Schüler, der engste Mitarbeiter und der direkte Nachfolger von Maître Philippe.“

Mit diesen knappen Hinweisen auf jene Menschen, die die auf uns überkommenen Zeugnisse des Maître Philippe bewahrten und niederschrieben, hoffen wir zugleich, eine erste, skizzenhafte Darstellung dieses geheimnisvollen Menschen vermittelt zu haben. Der Entwurf soll sich bis zum Ende dieser Einführung noch verdeutlichen und dem Leser den Einstieg in das vorliegende Werk erleichtern.

Die von uns verwendeten Schriften, die bislang die wichtigs­ten und vollständigsten sind, haben sich im Großen und Ganzen auf dieselben Dokumente gestützt. Daher finden sich viele Belehrungen und Geschichten gleicherweise in allen vier Büchern. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, das allen Gemeinsame zusammenzustellen, das den jeweiligen Schriften Besondere hinzuzufügen, eine Auswahl zu treffen, die nicht nur repräsentativ ist, sondern auch den größten Teil der Dokumente erfasst, und schließlich den solcherart zusammengestellten Text aus der französischen in die deutsche Sprache zu übertragen.

Im ersten Teil begegnet der Leser den biographischen Zeugnissen von und über Maître Philippe, im zweiten und dritten Teil findet er jene Geschichten beschrieben, die die wunderbare Kraft seiner Lehre zum Ausdruck bringen und – im Rahmen des Möglichen – beweisen. Der vierte Teil beinhaltet Aussagen des Meisters, die man gemeinhin als seine Lehre bezeichnet.

II

Während  Jahren wurden die Sitzungen, in denen Maître Philippe sich der Öffentlichkeit als Heiler und Thaumaturg zur Verfügung stellte, in der Rue Tête d’Or in Lyon durchgeführt. Vor unzähligen Zeugen vollzogen sich dort Tausende von Heilungen. Fast täglich wurde hier gearbeitet, und die um Zutritt besorgten Leute standen in Warteschlangen auf der Straße. Sédir beschreibt den Ablauf der Sitzungen wie folgt:

„Chapas ließ die Zuhörer einzeln eintreten; im großen Salon des Erdgeschosses, dessen Vorhänge zugezogen waren, setzte man sich hin. Dieser Raum fasste bis 00 Personen. Manchmal war man so eng beieinander, stehend und sitzend, dass die Luft fast unerträglich war. Gegen 14 Uhr 30 trat MP ein, schritt die Stuhlreihen entlang und fragte einen jeden nach seinem Begehren. Einiges notierte er. Hernach erhoben sich alle und MP schien während zwei Minuten zu beten. Daraufhin setzte man sich wieder. Nun begann MP im Saale auf und ab zu gehen und die Kranken wie zufällig aufzurufen. Oftmals duzte er sie dabei. Die meisten Teilnehmer spürten zuweilen die unsichtbaren Kräfte des Fiebers, des Wahnsinns, einer heilenden Kraft usw. Der Großteil der Kranken verließ die Sitzung mit merkbarer Erleichterung, und bei jeder Sitzung wurden immer etwa zehn Unheilbare völlig geheilt. Auch abwesende Personen heilte er. Aber er half den Geprüften auch in ihren Geschäften, ihren beruflichen Unternehmungen usw. Die Mehrzahl der Zuhörer bezahlte ein geringes Eintrittsgeld, das Chapas gleich nach den Sitzungen in einem Raum im Untergeschoss an Bedürftige verteilte.“

Claude Laurent schreibt zu demselben Thema:

„Für diejenigen, die nicht an den Sitzungen des Meisters teilgenommen haben, ist es schwierig, sich ein Bild jener Andacht zu machen, die dort herrschte. Nachdem die Menge den Saal betreten hatte, klopfte der Meister dreimal an die Tür und trat inmitten tiefster Stille ein. Alle Anwesenden standen. Er redete zu jedem Einzelnen und, nachdem er ein stilles Gebet gesprochen hatte, befahl er den Lahmen zu gehen. Hernach beantwortete er Fragen, die man an ihn stellte, und unterwies uns im Wort Gottes, ohne je die Empfindlichkeit oder den Glauben eines Teilnehmers zu verletzen. Oft gab es drei aufeinanderfolgende Sitzungen. Immer hatten die Kranken den Vorrang. Trotz der herrschenden Ordnung versuchte sich dennoch jeder zur ersten Sitzung in den Saal zu drängen, aus Furcht nämlich, die Belehrungen des Meisters, der manchmal nur der ersten Sitzung vorstand, nicht mithören zu können. In diesem Falle war es Monsieur Chapas, der die nachfolgenden leitete. Der Meis­ter sprach mit klarer, wohllautender Stimme, und wir alle bewunderten die unaussprechliche Leichtigkeit, mit der er uns das Evangelium lehrte. Besonders vertraut war er mit den Entrechteten und den Armen dieser Welt, und voller Güte gab er Antwort auf alle Fragen. Einmal schien es ihm, als schämte sich ein mit einem schlichten blauen Hemd bekleideter Bauer, dass es ihm nicht möglich war, in einem eleganteren Anzug an der Sitzung teilzunehmen. Da sprach der Meister ihn an: „Du bist sehr gut, wie du bist, und ich mag dich sehr in diesem Hemd.“ Darauf umarmte er ihn zärtlich. Was die Heilung der Kranken anbelangt, sagt Maître Philippe selbst:

„Um Kranke zu heilen, muss man sie seit Jahrhunderten kennen, muss auf ihrer Stirn und in ihrem Herzen lesen und ihnen sagen können: „Gehet hin, eure Sünden sind euch vergeben.“ Dazu aber darf man nicht davor zurückschrecken, wie die Wurzel eines Baumes in die Tiefe zu steigen. Ein Teil von euch selber ist im Himmel und der andere in den Tiefen. Wenn das Leben, die Liebe und das Licht in euch sind, werdet ihr alles wissen und wirken können, ganz wie es euch beliebt.“ (4.3.1903)

Folgendes Verfahren benutzen wir hier (in den Sitzungen). Es ist das Einfachste und das Schwierigste. Ich gehe an euch vorüber, ihr sagt mir, was euch plagt; in dem Augenblick, da ihr mir eure Empfindung mitteilt, geschieht in euch etwas Übernatürliches, und wenn meine Seele eure Rede hört, seid ihr auf der Stelle geheilt. (5.7.1896)

Um den Kranken Linderung zu verschaffen, muss man Gott um die Vergebung ihrer Sünden bitten; alsbald spürt die Seele eine Stärkung, und in der Folge empfindet der Körper die Erleichterung seiner Leiden. Würden wir den Glauben haben, wir vermöchten einander gegenseitig Linderung zu verschaffen. (5.7.1896)

Am 1. Mai 1901 gab er noch einen geheimnisvollen Hinweis, betreffs der wunderbaren Geschehnisse in der Rue Tête d’Or:

Um Sitzungen abzuhalten, muss man gleichzeitig auf anderen Ebenen leben …“

III

Neben dem Miterleben physischer Heilungen nahmen die Anwesenden auch an einer Fülle theoretischer Belehrungen teil. Fragen wurden beantwortet, Experimente durchgeführt und kommentiert und kurze Unterweisungen erteilt. Diese bruchstückhaft anmutenden Lehren sind es, die den vierten und umfangreichsten Teil dieses Buches ausmachen. Marcel Roche gibt mit Recht zu bedenken:

„… damit die Worte von Maître Philippe von all jenen, die sie später vernehmen, verstanden werden können, müssen diese im Rahmen der Zeit, dem Ort und den Umständen, in denen sie gesprochen oder gesammelt worden sind, gesehen werden … Die publizierten Notizen über die Belehrungen des Maître Philippe entstammen meistenteils den Aufzeichnungen von Zeugen. Die Zuhörerschaft setzte sich aus sehr unterschiedlichen Personen zusammen. Es gab Menschen aus dem Volk, aus den verschiedensten sozialen Schichten: Arbeiter, Handwerker, kleine Geschäftsleute, Angestellte usw. Doch gab es auch gebildete Leute: Professoren, Wissenschaftler, Wissende, Eingeweihte … und sogar Adepten. Zweifelsohne war das Bedürfnis nach Aufzeichnungen unter jenen Teilnehmern besonders stark, deren Ausbildung eine intellektuelle war, denn ihrem Verständnis war es ein Bedürfnis, das Vernommene, das ihnen, die an diese Themen gewöhnt waren, beim ersten Hören schon verständlich war, später auch nachlesen zu können.“

Und Maître Philippe selbst fügt dem noch bei, dass seine Aussagen

„… nicht einfach so hingenommen werden dürfen, denn nicht immer sind alle Erklärungen für jeden verständlich. Jedem ist gegeben, was sein Magen zu verdauen fähig ist. Man soll einem Magen nicht mehr zumuten, als was er zu verdauen vermag. Es erträgt ein kleines Kind, das Milch benötigt, keine schwerere Kost.“

Die zu Papier gebrachten Aussagen oder überlieferten Lehren des Maître Philippe lassen keine Methode pädagogischen Aufbaus erkennen. Wenn auch die zahllosen Fragmente von der Erhabenheit des Ganzen zeugen, so sieht sich der Leser dennoch einem Nebeneinander und scheinbaren Durcheinander von Teilen gegenüber. Sie stehen alle da wie Blumen auf der Wiese. Noch keine Hand hat sie gepflückt und zu Sträußen gebunden. Dem Leser steht diese Tat bevor. Hingestreute Gedanken, samenträchtig dem Bereiten, der sich nicht scheut, sie einzusammeln.

Die Worte des Meisters sind wie väterlicher Zuspruch: streng und barmherzig zugleich. Gelegentlich mündet seine Rede in eine ausholende Belehrung, und manchmal fasst sie sich kurz und weist zurecht, dann wieder kommen Antworten auf Fragen, oder es werden Aufgaben an Teilnehmer verteilt. Anstelle einer sich stufenweise entfaltenden Lehre finden wir eine stufenlose Aneinanderreihung von Lektionen, die sich aus unterschiedlichen Zusammenhängen an unterschiedliche Verständnisebenen richten. Einiges kehrt unverändert und in regelmäßiger Folge wieder. Und gerade dieses vom Verstand oftmals als leichtverständlich Wahrgenommene sollte nicht allzu rasch überlesen werden, ist es doch vielleicht gerade das Anspruchsvollste und Höchste, das es zu erkennen und zu verwirklichen gilt. Solch wiederkehrende Hinweise sprechen oft direkt zum Herzen, während anderes – bloß einmal Aufgeführtes – den vorurteilsbeschwerten Kopf bewegen will. Trotz der großen Anzahl der aufgeführten Aussagen wird dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, an welch räumedurchdringende, vertikale Achse diese Worte gebunden sind. Die Rede des Meisters ist präzis, kurz und ungekünstelt, meist ohne lange Nebenrede, und der Hörer selbst muss sie als Einstieg nutzen, um hinunter zu steigen in die eigenen Tiefen, in den ausgetrockneten Brunnenschacht einstigen Wissens. Dort aber suche er nach der Quelle, der bloß scheinbar versiegten.

Die damaligen Zuhörer in der Rue Tête d’Or lauschen den Worten des Lehrers. Sie hören, was ihnen zu hören möglich ist, und sie notieren, was ihrem Verständnis naheliegt. Bisweilen – und dies besonders bei ungeübten Studenten – sind die Aufzeichnungen dem Zusammenhang entrissen und stehen für sich selbst. Manchmal hat wohl auch der Meister selbst, der sich diesen unterschiedlichsten geistigen Voraussetzungen gegenübersah, gewisse Dinge verschwiegen. Denn zu allen spricht er in der ihnen eigenen Sprache, jede Verständnisebene will er berühren und nach Möglichkeit beleben. Bisweilen spricht er in symbolischer Weise, dann wieder ganz eindeutig, scheinbar einfältig, dann wieder lässt er Dinge aus, um Gedanken anzuregen. Immer aber hört und modifiziert der Zuhörer entsprechend seiner geistigen Voraussetzungen. Widersprüche tauchen auf, weil man den Wechsel von einer Ebene auf die andere nicht nachvollzogen hat. Oder etwas, das dem Verstande unzweifelhaft erschien, wird vom Lehrer plötzlich in unerwarteter Weise relativiert und ins Unabsehbare erweitert, und der Schreiber notiert, was ihm zu fassen möglich ist. Manchmal – wenn auch selten – findet sich auch Gegensätzliches in diesen Aufzeichnungen. Kontradiktorisches, das sich zu einem späteren Zeitpunkt als ergänzend herausstellt oder aber als absichtliche Beschränkung, dessen Wiederaufnahme und Erweiterung einer späteren Belehrung vorbehalten ist. Auch der Leser dieses Buches wird zuweilen die unvermittelte Verwandlung eines allerverständlichsten Hinweises in eine überrationale Dimension erleben. Dann steht sein Verstand still an der ihm eigenen Grenze, an der Schwelle zu noch unbekannten Reichen. Das Denken schweigt, weil das Vernommene unmöglich scheint; mit seinen gewohnten Strukturen und Prozessen vermag es dies weder zu fassen noch zu begreifen. Diese Beschränkung anzunehmen, ohne sie mit den Waffen des Intellektes zu verneinen, ist die Voraussetzung höheren Fragens. Die daraus sich ergebenden Antworten werden einst denjenigen zu höherer Erkenntnis führen, der zur rechten Zeit zu schweigen verstand.

In dieser Art und Weise also werden die Aufzeichnungen dem Leser vorgelegt. Es ist eine derart authentische Wiedergabe der Geschehnisse in der Rue Tête d’Or, dass man zuweilen glaubt, man nähme selber daran teil. Wenn dem so ist, dann sei uns – gleich wie den Hörern vor über hundert Jahren – der Auftrag, diesen ungewohnten Worten eine vorurteilslose und wohlwollende Bedenkzeit zu gewähren.

Es werden Thesen vorgetragen, die neu und unerhört sind für den einen, für den anderen jedoch altbekanntes Wissen. Man bedenke aber: Wenn der Verstand das Wort versteht, dann ist damit noch keineswegs gesagt, dass es auch eingegangen ist ins Herz, um an jenem Tempel zu bauen, von dem der Heilige Paulus spricht. Beide Schüler – jener nämlich, der noch nicht weiß, und jener, der zu wissen glaubt – haben noch zu lernen, wenn auch jeweils etwas anderes. Maître Philippe sagt:

„Die Erklärungen, die ich gebe, sind nicht für alle gleich, denn im Hause Gottes sind viele Wohnungen. Vermögt ihr nicht gerade darin den Beweis zu sehen, dass kein Mensch dem andern gleich ist?“

Wenn wir weiter oben sagten, die Lehre sei aus zahllosen Fragmenten zusammengesetzt, so schließt dies mit ein, dass  jedes Teilchen ein Stück Wahrheit in sich trägt, Wortkleid ist von einem Funken Licht. Der Leser verdunkle also nicht mit dem eigenen Vorurteil – das immer eine Verneinung ist der großen Wahrheit – das Licht dieser Lehre.

IV

Was nun den Umgang mit den ungewohnten, zuweilen phantastisch anmutenden Themen angeht, die einen ansehnlichen Teil der vorliegenden Zeugnisse ausmachen, empfehlen wir Ruhe; empfehlen wir, die Dinge einmal so anzunehmen, als wären sie wahr; empfehlen wir, die in weiten Räumen sich bewegenden Worte weder einem schon übervollen Hirnwissen hinzuzufügen noch sie mangels denkerischen Nachvollzugs von sich zu weisen. Wir empfehlen, diese Texte langsam zu lesen, Abschnitt für Abschnitt, ganz so, als würden sie uns gerade jetzt und ganz persönlich zum Studium vorgetragen. Wir wollen zuhören, anhalten, still werden, betrachten.

Die vielen Paragraphen sind wie zerstreute Steinchen eines prächtigen Mosaiks geistiger Bildung, dessen Vorlage zwar nicht in ihrer Ganzheit deutlich ist, dessen Konturen jedoch spürbar sind. Es sind die Umrisse eines lebendigen Glaubens, Spuren der Wahrheit, Spuren, denen man sich anvertrauen kann, meisterliche Spuren, die uns führen. Man wird Worte finden, die gewohntes Wissen zertrümmern, die neue geistige Räume öffnen, die ganze Lehrsysteme in sich enthalten, und man wird auch andere Worte hören, scheinbar sehr einfache, nachvollziehbare. Ein gewaltiges Wissen breitet sich vor uns aus. Manchmal umgibt es uns traulich wie die lauen Wasser eines verschlafenen Meeres, doch unvermutet schwillt es an und bricht sich wie stürmische Brandung überschäumend am harten Verstandesfelsen, um wieder zurückzufluten, abzunehmen, lieblich dahinzuplätschern, bevor es von neuem eskaliert, unheimlich und nah … und doch unendlich weit, unfassbar …

Je weiter wir lesen, desto mehr gewahren wir, wie diese schlichten Worte dem Leben eine Dimension verleihen, die das Große im Kleinen und das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen offenbaren. Es ist der gewaltige Anspruch, das Leben zu heiligen. Damit wohnt jedem Wort auch die Aufforderung inne zur Tat, das Zögern zu lassen dem Bruder zuliebe.

Herrgott, wie ist der Weg so weit! Ihn zu betreten, endlich aufzubrechen ins Unendliche, dem alleinigen Gott zu dienen und zu lieben unseren Nächsten wie uns selbst, das ist in einfachen Worten die gewaltige Botschaft des Maître Philippe de Lyon.

V

Es wird dem achtsamen Leser nicht entgehen, dass die in diesem Buch unter Lehren vorgetragenen Paragraphen einer Wissenschaft angehören, die alle Bildungsschichten und Fachgebiete berührt und durchdringt. Es ist eine Wissenschaft des Geistes. Eine Wissenschaft, die weiß, dass allen Phänomenen und Prozessen eine geistige Gesetzmäßigkeit zu Grunde liegt. Nicht die Erscheinung an sich, sondern das dahinter liegende Wirkprinzip ist ihr Anliegen. Dabei handelt es sich um ein unsichtbares, die menschlichen Sinne übersteigendes Etwas. Der auf Analyse der Phänomene gegründeten Wissenschaft ist dies ein Unding – was es im wahren Sinne des Wortes auch ist!

Die rationale, berechnende, von der Maschine beherrschte Welt geht den Weg der sinnlichen Wahrnehmung und des ‘verlorenen Gefühls’, das sie wiederfinden will. Ich will fühlen, dass ich bin, und ich will sehen, was ich glaube. Eine unstillbare Gier nach Sensationen, nach sinnlicher Empfindung stimuliert die menschliche Kraft und erwürgt sie zugleich. Der Mensch muss die höhere Vernunft, die erst aus dem allmählichen Opfer der Sinnlichkeit erwachsen kann, wiederfinden. Nicht, was ich fühle, ist das Ziel heiliger Lehre, wohl aber was ich bin. Dieses Seiende aber ist jenseits aller Launenhaftigkeit des Körpers, der Gefühle und der Gedanken, es ist ein göttliches Licht, ein Funke des Ewigen.

 

VI

Viele von uns glauben, der Zeitumstände Opfer zu sein. Die Ungeduld rast uns im Blut, das Auge begehrt nach Formen und Gestalten und Bewegung, die Sinne verlangen Nahrung, und es müssen sich fügen der Geist und die Seele. Die Sinne regieren den inneren Menschen, halten ihn fest in einer vergänglichen Welt, und dabei denkt sich der Mensch einen, seiner Vorstellung gemäßen und seinem Verstand begreifbaren, Sinn. Wohl dauert es seine Zeit, bis Überdruss und Langeweile und vor allem Leid die Lust nach Welt entkraften und der Geist erkennt, wie sehr sich seine lichte Welt im emotionalen Nebel von Gier und Sinnendurst verdunkelt hat. Dann erschrickt der Mensch. Angst und Trauer fassen ihn am Hals. Wer bin ich wirklich?, fragt er sich und nähert sich einem vielversprechenden Anfang … doch allzuoft vergisst er’s wieder und anstatt, dass er Altes lässt für immer, sucht sein Denken sich – wir haben’s oben schon gesagt – mit alten Waffen neuem Kampf zu stellen.

Doch manchmal hängt noch – wie das Kind am Rockzipfel der Mutter – die heilträchtige Frage nach dem Sinn im Gedächtnis des Leidenden, und er ahnt, dass es nicht um Vergangenes geht, dass aber ein unerkannt Künftiges das Seiende ins Werden ziehen will.

Aber auch diesem Erkenntnisimpuls droht Wirrnis und Verführung. Denn allsogleich umfängt ihn der dichte Wald psychologischer Systeme und esoterischen Halbwissens. Der solcherlei Bedrängte dreht sich rund um seine Qual herum und kreist und denkt, dass dies und jenes ihm geschehen, weil er da und dort gefehlt. Das Böse sei ihm widerfahren, weil er zu viel von diesem und von jenem allzu wenig… und bessern will er sich, auf dass solches niemals wiederkehre, dass der Lohn ihm werde und alles sei, wie er sich’s wünscht. Es ist jene teuflische Verkehrung des: ich muss Gutes tun, damit ich das erhalte, was ich wünsche, anstelle der Erkenntnis: um Gutes tun zu können, muss ich mich selber lassen, muss geben anstatt nehmen.

So lebt der Mensch in seinem Eigenbild gefangen und will es ändernd bessern, anstatt dass er es sterben lässt! Der tragische Knoten, sich selbst als das Maß zu sehen aller Dinge, ist eine jener irrlichtigen Sichten, die unsere Welt mit falschem Licht erhellt – das Drama des verblendeten Menschen. Denn damit hat sich der Verstand eine Norm erkoren, an der er fortan alles misst, nach der er alles ausrichtet und die er im eigenen Unmaß selber ist! Vermessene Menschen! Dies führt uns in die Welt sterilen Psychologisierens, in die Welt der Selbstbespiegelung, des Suchens nach Gründen und scheinbaren Findens biographischer Umstände für Zustände, die uns selbst zuwider sind, und all dies mit dem illusionären Ziel, dass, wenn wir fündig werden, wir fürderhin dem Leid entgehen. Ein Trugschluss sondergleichen, denn es ist solange keine Aussicht auf wahre Heilung möglich, als tief unten im Be­wusst­sein jener Götze angebetet wird, der schreit: Der Mensch ist das Maß aller Dinge; werde, der du zu sein begehrst, sei dir selbst der Nächste, verliebe dich in dich, usw. Das ist die große Lüge, der Verrat an der Wahrheit! Maître Philippe weist uns hoch und heilig jenes andere Maß, das da besagt: Nein, nicht der irdische Mensch, Gott ist das Maß aller Dinge!

Wenn wir aber Gott nicht kennen? Ihn nicht denken können? Wie soll er da unser Maßstab sein?

Undenkbar, sagt der Verstand! In der Tat, undenkbar. Undenkbar heißt, dass wir etwas nicht denken können. Was heißt das schon! Den Duft der Rose können wir auch nicht denken! Dennoch gibt es ihn. Wir können ihn auch nicht sehen, dennoch vermögen wir ihn wahrzunehmen: Wir können ihn riechen. Desgleichen sind auch dem Geiste andere Erkenntnisfähigkeiten eigen, als es der geistig wenig entwickelte Mensch für möglich hält.

So ist auch für das geistige Verständnis eines Großteils der vorliegenden Aufzeichnungen das Gewohnheitsdenken ungenügend. Es ist übervoll vom Eigenen und somit allzu sehr der Beschränkung unterworfen. Erst die Verneinung von sich selber ist das Ja zu Gott.

 

VII

Um einen Text exegetisch zu bearbeiten, ist es daher wichtig, ihm nicht das eigene Wissen überzustülpen und ihn in eine Form zu zwängen, die in unserem rationalen Gedächtnis ein strukturelles Vorbild hat. Es wäre dies, als würde man das Neue solange bearbeiten, bis es, mit dem Messer alten Vorurteils zurechtgestutzt, dem Verständnis bereits vorhandenen Wissens assimilierbar ist. Dadurch ginge alles Neue, Unbekannte – um das es ja gerade geht – verloren. Im besten Falle ergäbe sich ein Zuwachs an Information im Gedächtnis. Doch Texte wie die vorliegenden suchen die Transformation des Lesers, die Evolution im Geiste, sie wollen den Menschen vorwärts bringen. Deshalb soll der Leser die ungewohnten, seinem Weltbild fremden Textstellen nicht nur bedenken, sondern bebrüten, betrachten, achten auf deren Wirkung innen. Was aber heißt bebrüten, was heißt betrachten?

Bebrütet wird das Ei durch gleichmäßiges Erwärmen, und zwar solange, bis seine Schale brechend stirbt und neues Leben sichtbar wird. Diese stete Wärme, einem unbeirrbaren Interesse vergleichbar, ist es, mit der wir solche Schriften aufnehmen und für eine gewisse Zeit umfassen sollten, im Gedächtnis erst … und dann im Herzen. Urteilslos nehmen wir sie in uns hinein und lassen werden, anstatt uns nach außen hin zu denken, um analysierend zu begreifen, was uns dünkt zu sein. Nicht die Schale gilt es zu beschreiben, sondern das Küken will geboren werden.

Was wir Betrachtung nennen, ist die tätige Erwartung von einem Etwas, das in uns geschieht. Dabei sind wir vorerst passiv im Denken und aktiv im Betrachten. Dies im Gegensatz zum Alltagsdenken, das aktiv ist und linear, das sich nach außen begibt, das dreidimensionale Objekt – oder die Aussage – beschnuppert und Schlüsse zieht, diskursiv oder synthetisch. Das gewöhnliche Denken stößt und zieht und dreht das Objekt, weil es mental begreifen und erfassen will. Es gehorcht einer Willensanstrengung. Demgegenüber verläuft die Betrachtung vertikal, sie holt das Objekt nach innen, und dieses untersteht dann einem Werdeprozess jenseits intellektueller Bedrängnis. Ihr – der Betrachtung – Gesetz heißt Stirb und Werde. Dabei geschieht eine wesentliche Veränderung im Betrachter. So führe das Denken zur Betrachtung, die Betrachtung aber zu offenbarender Erkenntnis.

Zusammengefasst: Wir bebrüten den Text wie die Henne ihr Ei – schweigend, achtsam und unermüdlich. Das Objekt der Betrachtung in uns tragend, tragen wir es aus. Wir hegen und ernähren es mit dem notwendigen Maß an Wärme, an Hingabe, nicht zu wenig, nicht zu viel, aber ununterbrochen! Zu ihrer Zeit wird die Schale brechen, und das Geborene wird etwas bisher Unbekanntes, etwas Neues sein. Nicht die Schale ist uns die Hauptsache, sondern das in ihr potentiell Enthaltene. Doch unverzichtbar, wie die Gebärmutter dem Kinde, ist unserem geistigen Werden die Schale. Wir nehmen sie dankbar an und schaffen – nach bestem Vermögen – die Voraussetzungen zur Geburt des neuen Lebens, das, wenn einmal geboren, ein Werdendes ist.

 

VIII

Immer steht das Eigene einem Fremden gegenüber und es entsteht die Wahlfreiheit: Wem gilt nun meine Sorge, um wen soll ich mich kümmern? Um mich selber oder um das andere?

Eigenliebe oder Nächstenliebe … Geistiges Betrachten, wie wir es eben beschrieben, ist eine Art von Nächstenliebe! Das andere aufnehmen, es als ein Stück Ich-selber lieben, setzt aber voraus, dass ich mich in einem gewissem Grade von mir selber löse, mich hingebe an das andere. Das Ich wird kleiner, geringer. Ich bin der Geringste … der Kleinste, sagt Maître Philippe von sich selber und offenbart uns ein Geheimnis: Der Geringste, der aller Eitelkeiten, aller eigennützigen Umhüllung Ledige, ist Gott am nächsten. Die Schale der Eigenliebe ist zerbrochen. Der Liebesfunke entströmt und verbindet sich Ihm, der Liebe ist, von der wir uns im Wahn des Sonderseins so lange schon getrennt und abgewendet hatten.

Wer Seinem Willen keine Hindernisse mehr entgegensetzt, sich Ihm hingibt, auf dass Er in ihm und durch ihn wirke, der … wird seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Aufgehoben ist die Trennung, befreit ist er und wieder eins geworden, und sein Bewusstsein lebt und west in allem, weil er selber alles ist3. So spricht Maître Philippe: Wer seinen Nächsten liebt, weiß alles.

An diesem Lebensbrunnen füllt Maître Philippe den Becher, den er uns zur Labung reicht, auf dass wir bestehen mögen auf unserem Weg, und er weist uns die Richtung, beweist uns das Undenkbare, dennoch Mögliche, geht uns voran und wünscht, dass wir ihm folgen. Drehen wir uns aber einmal nicht mehr karussellig um uns selber, wird der gerade Weg uns sichtbar, der zum Ziel des Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selber führt. Dann dreht sich alles um Gott! Und wenn man bislang sagte: Ich schenke Liebe, taucht nun die Frage auf: wie sollte das denn gehen, da doch Gott allein die Liebe ist und Er uns nicht gehört, solange als wir Ich-selber sind? Und wir vernehmen die Antwort: Alles, was Odem hat, ist göttlich! Alles Lebendige hat seinen Ursprung in Gott. Alles enthält in dem Maße, wie es lebendig ist, den Hauch göttlicher Liebe.

Auch dem Menschen ist ein Stück Göttlichkeit eigen. Im Gegensatz zur Natur, die sich stets verschenken muss, kann er frei über diese Liebe verfügen. Er kann sie behalten und beschränken, er kann sie zur Eigenliebe verkümmern lassen und einsperren in sein zeitliches Daseinsgehäuse, oder er kann sie verschenken, indem er die Schranke der Eigenliebe niederreißt, sie auf dem Altar der Nächstenliebe opfert, damit, solang er lebt – nicht nur in dieser Welt –, seine befreite Liebe Flamme sei, die, auch wenn sich tausend Lichter an ihr entzünden, niemals schwächer wird. So schenkt der werdende Mensch seinem Bruder ein Licht … und es wird heller.

Wer liebt, verringert seine Eigenliebe. Wo Du warst, wird Ich, und wo bloß Ich war, wird ein Stück Du. Das ist der Anfang der Wiedereinswerdung des Getrennten. Was wir also hingeben müssen, zuallererst und ohne Vorbehalte, ist unsere Eigenliebe, und dann, nur dann, tritt Göttliches hervor, eint sich das Göttliche in uns mit dem Göttlichen im Geliebten, denn Göttliches erkennt Göttliches, Göttliches liebt Göttliches!

 

IX

Wer kennt die Mühen dieses Pfades? Wer kennt die Tücken, die Gefahren? Wer kennt seine wahre Dimension? Und wer kennt die Höhe dieses heiligen Berges?

Eins nur wissen wir: Viele Wegstücke können allein an der Hand eines Meisters gegangen werden, eines Wesens, das diesen Weg hinter sich hat; und wenn dieser Meister redet, schweigt der Schüler, hört zu und fasst, was ihm zu fassen möglich ist … und er vernimmt die Worte:

Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst.

Das ist der Auftrag; das ist die Arbeit … Das ist das Große Werk!

 

Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter.

Darum bittet den Herrn der Ernte,

dass er Arbeiter in seine Ernte sende.

Matthäus 9,37-38

 

Vorwort zum Buch über Maître Philippe, das 2009 im Novalis Verlag Quern-Neukirchen erschienen ist.

 

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