Michael Frensch
Wer ein Haus baut, weiß, dass hierzu im Wesentlichen eine Idee (die Bestimmung des Bauwerks), der Bauplatz, eine mit dem Architekten erstellte Ausarbeitung der eigenen Vorstellungen (der Bauplan), die ensprechenden finanziellen Mittel und Baumaterialien, sowie qualifizierte Bauarbeiter notwendig sind. Außerdem ist ein Zeitplan nötig, der die einzelnen Schritte auflistet, in denen die Idee zu diesem Haus physische Gestalt annehmen soll. Im Grunde gelten diese Bedingungen für jegliches Gebäude. Nun stelle man sich aber vor, es gehe nicht um die Errichtung eines bestimmten Hauses, sondern um nicht mehr und nicht weniger als die völlige Umgestaltung und Erneuerung des ganzen Weltgebäudes. Genau dies ist die atemberaubende Perspektive und der gewaltige Plan, welche der Apokalypse des Johannes zugrunde liegen. Mit dem fünften Kapitel beginnt der Apokalyptiker, diese Perspektive zu enthüllen und den Bauplan für den neuen Himmel und die neue Erde im wahrsten Sinne des Wortes aufzurollen.
Perspektive, Plan und Ausführung werden besser verständlich, wenn man sich um eine neue Art von Denken und Logik bemüht. Über diese andere Logik wurde anlässlich der Betrachtung des vierten Kapitels gesagt, dass sie sich von der formalen Logik dadurch unterscheidet, dass auf ihr beruhende Schlussfolgerungen nicht nur gedanklich richtig, sondern auch moralisch sind. Ein Mensch, der von dieser Logik Gebrauch macht, wird nur das als wahr anerkennen, was einerseits logisch richtig geschlossen, andererseits aber auch voller moralischer Wärme ist, während das bloß logisch Richtige von ihm als unwahr, irrig und falsch erkannt wird. Die moralische Logik ist auch daran erkennbar, dass bestimmte auf ihr beruhende Äußerungen sich nicht nur durch logische Klarheit, sondern auch durch eine Art „Inlaut-Sprache“ auszeichnen, d.h. es teilt sich in ihnen nicht nur der Inhalt der Gedanken, sondern auch etwas von der seelischen Atmosphäre mit, in welcher sie gebildet wurden. Diese Atmosphäre ist die moralische Wärme und die Liebefähigkeit des Herzens, die zur Klarheit und Folgerichtigkeit der im Haupte gebildeten Gedanken hinzukommen.
Moralische Wärme und Liebe können sich dem Gesprächspartner mitteilen, wenn er aktiv zuhört, d.h. lauschend in das Element des Mitdenkens eintaucht. Er kann dann erleben, dass auf moralischer Logik beruhende Gedanken eine herzerwärmende Kraft besitzen, welche das eigene Denken in das Element des Guten taucht und den ausgesprochenen Gedanken ebenfalls die Qualität des „Inlautens“ verleiht. Mit anderen Worten: Die moralische Logik ermöglicht es, nicht nur – wie die alte, formale Logik – über das Gute zu reden, sondern es selbst auszusprechen und als Substanz mitzuteilen. Daher ist es richtig zu sagen: Die formale Logik ist eindimensional und monologisch, die moralische Logik mehrdimensional und dialogisch. Die eine strukturiert den wissenschaftlichen Diskurs, die andere das Gemeinschaftsgespräch.
Lauschen, aktives Zuhören ist eine wirkliche Kunst; sie setzt die Fähigkeit voraus, den eigenen Standpunkt zurückzustellen, den Anspruch auf das Stehen im Mittelpunkt aufzugeben und sich in den Andern hineinzuversetzen. Um einer Mitteilung des Andern den rechten Empfang zu bereiten, muss man das Eigene opfern.
Was für die interpersonale Begegnung gilt, trifft in einem viel eminenteren Maße auch für den Dialog mit der geistigen Welt zu. Denn da diese Welt etwas Moralisches ist, sind ihre Mitteilungen ganz in der Qualität des Inlautens gewoben. Sie geschehen entweder in der Atmosphäre des lauschenden Empfangens und des Herzdenkens, oder gar nicht. Man empfängt nur in dem Maße authentische geistige Mitteilungen, wie man in der Lage ist, ihnen Raum zu geben, d.h. jegliches Besserwissen zurückzustellen, vom Pochen auf den eigenen Standpunkt abzulassen, die eigenen Vorlieben, Wünsche und Vorurteile aufzugeben und sich dem Gegenüber in Offenheit und Vertrauen zuzuwenden.
Das Mysterium der Liebe
Wo ein Mensch sich zugunsten des andern zurückzunehmen vermag, weil er das Dasein und die Wesensbekundung des andern mehr will als seine eigene Selbstbehauptung, dort hat das Mysterium der Liebe seine Wurzel. Diese Selbstverneinung aus Liebe kann so weit gehen, dass man für andere sein Leben hinzugeben bereit ist, ganz wie es im Johannesevangelium heißt: „Eine größere Liebe als diese hat keiner, dass einer sein Leben gibt für seine Freunde.“ (Joh 15,13) Das göttliche Urbild für die Liebe ist der Zimzum oder das Große Opfer, bei dem die Gottheit sich selbst ganz zurücknahm zugunsten einer freien Welt und ihrer Geschöpfe. Das Mysterium des Rückzuges ist die klare und deutliche Bekundung der Tatsache, dass Gott die Welt nicht durch seine Allmacht und sein Allwissen, sondern allein durch Seine Liebe regiert. Aus Liebe nahm sich der Vater im Urbeginne selbst ganz zurück und sprach aus Seiner göttlichen Verborgenheit Sein Schöpfungs-Wort, durch das die Welt ins Dasein trat. Aus derselben Liebe heraus sandte Er gemäß dem Evangelisten Johannes den Logos, um die Welt zu retten. Und da der in die Zeitenwende inkarnierte Logos die Welt mit der gleichen Liebe liebte wie im Urbeginne der Vater, konnte auch die Rettung der Welt und die Wiederherstellung ihrer Freiheit nur durch die Wiederholung des Zimzum auf Erden geschehen. Darum opferte sich der Sohn, der von sich selbst sagte, dass er nur tue, was er sehe den Vater tun. Er ging also denselben Weg wie im Urbeginne der Vater. So hat das Mysterium des Zimzum, über das hier wiederholt geschrieben wurde, im Symbol des Kreuzes ein für allemal seinen gültigen irdischen Ausdruck gefunden.
Der „Skandal des Kreuzes“ besteht nicht, wie viele meinen, in der Anbetung eines blutigen Leichnams an einem abgestorbenen Stück Holz. Er besteht darin, dass die Gottheit im Urbeginne auf die Offenbarung ihrer Allmacht verzichtet und sich ihrer Allgegenwart und ihres Allwissens begeben hat, um allein aus der göttlichen Liebe heraus eine freie Welt mit freien Geschöpfen zu schaffen und zu regieren. Und nachdem diese Freiheit durch die Auswirkungen des Sündenfalles verspielt war, wurde sie allein durch die sich im Opfer am Kreuz bekundende Liebe des inkarnierten Gottessohnes wiederhergestellt. Folgt man dem Hl. Paulus, so erlangten die Welt und die in ihr lebenden Geschöpfe ihre Freiheit nicht durch die Schlange und ihre Versuchung im Paradies (gemäß Paulus verloren sie diese vielmehr und gerieten unter die „Knechtschaft der Sünde“), sondern durch das Kreuz. Darum geht jenem so oft zitierten Pauluswort „So lebe nun nicht mehr ich, es lebt Christus in mir“ das merkwürdig viel seltener zitierte Zeugnis voran: „Mit Christus bin ich gekreuzigt worden.“ (Gal 2,19-20).
Die Wiederherstellung der Freiheit von Mensch und Welt geschah durch die Sendung des Geistes der Wahrheit, die Thema der Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium ist. Der Evangelist wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Sendung des Trösters das göttliche Opfer des Sohnes und dessen Gang zum Vater zur Vorraussetzung hatte. Denn der Heilige Geist konnte erst kommen, nachdem sich die Gottheit im Tod ganz zurückgezogen und einen freien Raum für das Eintreten des Geistes geschaffen hatte. Für dieses Mal jedoch war es nicht der makrokosmische Raum der Sophia, sondern der mikrokosmische Raum der allmenschlichen Seele, die in Maria, ihrer archetypischen Repräsentantin, unter dem Kreuze und bei der Grablegung anwesend war. So stellt das Mysterium von Golgotha eine irdische Wiederholung des ursprünglichen kosmischen Mysteriums dar: Wie im Urbeginne nach vollbrachtem Rückzug der Geist Gottes – Ruah Elohim – den entstandenen kosmischen Leerraum erfüllen konnte und die Mannigfaltigkeit der freien Geschöpfe ins Dasein trat, so bereitete der Tod auf Golgotha zuerst in der Seele der Maria und dann in den Seelen aller daran Anteil nehmenden Menschen (der Jünger wie der weinenden Frauen) einen Raum, in den an Pfingsten der Heilige Geist eintreten konnte. Was im kosmischen Urbeginne durch das Mysterium des göttlichen Rückzuges möglich wurde, fand auf Golgotha und im Pfingstereignis seine irdisch-menschliche Entsprechung – dies ist die Botschaft und der Sinn der Abschiedsreden Jesu im Evangelium der Liebe, dem Johannesevangelium.
Wenn man bedenkt, dass die Apokalypse vom selben Autor verfasst wurde, kann man dann daran zweifeln, dass dieses Buch einzig und allein auf das vollbrachte göttliche Opfer gründet und damit selbst die Offenbarwerdung jenes verheißenen Geistes der Wahrheit ist? Der Apokalyptiker hätte nach seinem eigenem Bekunden seinen Bericht mitten im fünften Kapitel abbrechen müssen, wenn nicht das geopferte Lamm dagewesen wäre, welches das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen vermochte. Hier der betreffende Text in einer möglichst wortgetreuen Übersetzung:
„Und ich sah in der Rechten des Sitzenden auf dem Thron ein Buch, beschrieben innen und hinten, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, verkündend mit lauter Stimme: Wer (ist) würdig, zu öffnen das Buch und zu lösen seine Siegel? Und keiner im Himmel noch auf der Erde noch unter der Erde konnte öffnen das Buch, noch sehen in es. Und ich weinte viel, dass keiner würdig gefunden wurde, zu öffnen das Buch, noch zu sehen in es. Und einer von den Ältesten sagt mir: Weine nicht! Siehe, es siegte der Löwe, der aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, (um) zu öffnen das Buch und seine sieben Siegel. Und ich sah inmitten des Thrones und der vier Lebewesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehend, wie geschlachtet, habend sieben Hörner und sieben Augen, welche sind die [sieben] Geister Gottes, geschickt auf die ganze Erde. Und es kam und empfing (das Buch) aus der Rechten des Sitzenden auf dem Thron. Und als es empfing das Buch, die vier Lebewesen und die vierundzwanzig Ältesten fielen (nieder) vor dem Lamm, habend jeder eine Kithara und goldene Schalen voller Rauchwerk, welche sind die Gebete der Heiligen, und sie singen ein neues Lied, sagend: Würdig bist du, zu empfangen das Buch und zu öffnen seine Siegel, weil du geschlachtet wurdest und kauftest für Gott durch dein Blut (Menschen) aus jedem Stamm und (jeder) Zunge und (jedem) Volk und (jeder) Völkerschaft und machtest sie für unseren Gott zu einem Königtum und zu Priestern, und sie werden herrschen auf der Erde. Und ich sah (auf), und ich hörte eine Stimme von vielen Engeln rings um den Thron und die Lebewesen und die Ältesten, und (es) war ihre Zahl zehntausend (mal) zehntausend und tausend (mal) tausend, sagend mit lauter Stimme: Würdig ist das geschlachtete Lamm, zu empfangen die Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Segen. Und jedes Geschöpf, das im Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer und alles in ihnen, hörte ich sagend: Dem Sitzenden auf dem Thron und dem Lamm der Segen und die Ehre und die Herrlichkeit und die Gewalt in die Aionen der Aionen. Und die vier Lebewesen sagten: Amen. Und die Ältesten fielen (nieder) und huldigten.“ (Apk 5,1-14)
Allein das geopferte Lamm also ist in der Lage das Buch zu öffnen, in dem alle Zukunft enthalten ist. Mit anderen Worten: Ohne Kreuz, ohne Leid und Tod keine Offenbarung der göttlichen Liebe, keine Auferstehung und keine Zukunft. Wer das Kreuz aus der Welt schaffen will, verneint darum nicht nur die Auferstehung und die Liebe, sondern auch die Zukunft – dies ist die klare und unzweideutige Botschaft der Apokalypse. Er mag dieses Buch noch so klug esoterisch, kabbalistisch, numerologisch, astrologisch, theo- oder anthroposophisch auslegen – an der wahren Bedeutung seiner Symbolik wird er solange vorübergehen, wie er an der zentralen Tatsache des Kreuzes vorbeisieht! Und wenn der Autor sich bemüht, einem Verständnis dieses Buches näherzukommen, so bedeutet dies zugleich den Versuch, sich dem Wesen und der Bedeutung des Mysteriums von Golgotha als der höchsten Offenbarung der göttlichen Liebe auf Erden zu nähern.
Der Plan zu einer neuen Welt
Das Buch in der Rechten des Thronenden ist, so sagt der Apokalyptiker, innen und auf der Rückseite beschrieben, was nur bei einer Buch-Rolle möglich ist. Dass diese Schrift entrollt werden muss, lässt an Ent-Wicklung denken, an das sich aufrollende Schicksal, an den Plan, wie sich die Zukunft entfaltet. Dieser Plan hat eine Außen- und eine Innenseite, denn jedes Ding hat zwei Seiten. Die Außenseite der Dinge ist ihr Gewordensein, ihr Feststehen, ihre Beharrung. Ihre Innenseite ist die Möglichkeit und Bereitschaft zur Verwandlung, zur Veränderung, zum Neuwerden. Auch der Bauplan der neuen Schöpfung, des Neuen Jerusalem, kennt diese beiden Seiten; darum ist er innen und außen beschrieben, und darum geht es in ihm um die Scheidung des Alten, der Verwandlung Entgegenstehenden von dem Neuen, das im Innern keimt und ans Licht hervorbrechen will.
Dieser Plan ist in der Rechten des Thronenden, den die Apokalypse Herr und Gott nennt. Der Bauherr, der die Idee zur Erneuerung des Weltgebäudes hat, und der Architekt, der den Plan erstellt, ist also die Gottheit selbst, und indem sie den Plan in der Rechten (der aktiven Seite) hält, bekundet sie ihre Bereitschaft zum Neuanfang und zum Handeln. Aber der Plan ist noch verschlossen mit sieben Siegeln, allein die Gottheit kennt ihn. Und als ein mächtiger Engel fragt, wer würdig sei, die Siegel zu öffnen und die Buchrolle zu entrollen, ward niemand im ganzen bestehenden Weltgebäude gefunden, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde. Das Neue ist nur neu, wenn es unbekannt und in dem Gewordenen nicht enthalten ist. Darum ist es so wichtig, den Gedanken an die Transzendenz nicht zum Erlöschen zu bringen, denn wenn alles immanent wäre und es nichts Transzendentes gäbe, wäre alles ein großes kosmisches Gefängnis – das Rad der ewigen Wiederkehr des Gleichen, das Nietzsche so treffend analysiert und bejaht hat und über das der Prediger Salomo sagt: „Eitel, alles ist eitel. Nichts Neues gibt es unter der Sonne“. Wenn es aber „unter der Sonne“, d.h. im Gebiet des Tages nichts Neues gibt, so kann doch aus dem Gebiet der Nacht, dem Pralaya der Dinge, etwas Neues kommen. Darum ist es so wichtig, an der mitternächtlichen Geburt des göttlichen Kindes in Bethlehem festzuhalten.
Die Gabe der Tränen
Der Apokalyptiker Johannes weint sehr, dass niemand für würdig befunden wurde, die Buchrolle zu öffnen und Einblick in sie zu nehmen. Weint er, weil ohne den Einblick in die Buchrolle, die vom Neuen berichtet und dessen Tag ankündigt, alles alt, trivial, von der Öde der kosmischen Langeweile bedroht und der Sinnlosigkeit preisgegeben ist? Vielleicht – Jedenfalls sind diese Tränen wichtig, denn wer weint, wird innerlich „weich“; die Härte und Undurchdringlichkeit, die Erstarrung und das Feststehende wird in der Träne aufgelöst und fortgeschwemmt. Wo wirklich Wesenhaftes die Seele von innen her berührt, da beginnt sie, vor Schmerz über ihr Unvermögen und vor Freude über die ihr gewährte Gnade zu weinen.
Darum ist Vorsicht angebracht bei jenen esoterischen Wegen, auf denen die Augen trocken werden, weil an die Stelle der inneren Erschütterung Übungen zur Selbstbeherrschung und zur Erlangung totaler Gelassenheit treten, die zum Schluss in die völlige Gleichgültigkeit münden können. Auf dem christlichen Wege geht es aber nicht darum, innerlich immer gleichgültiger und unerschütterlicher zu werden, sondern die Fähigkeit zu erlangen, immer tiefer und tiefer gerührt und erschüttert zu werden, die Tränen sich lösen und sie fließen zu lassen. In jeder auf dem geistigen Weg geweinten Träne bekundet sich Neues, das kommen und wachsen will. Wer nicht mehr weinen kann, hat kaum mehr einen Blick für das Neue, Verwandelnde. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, warum nicht nur der Apokalyptiker, sondern auch der Alte in der Chymischen Hochzeit Christiani Rosenkreutz Anno 1459 des öfteren sehr weint, denn die Träne macht uns nicht nur weicher, sondern sie verjüngt uns auch, wenn sie aus echter, tiefer, existentieller Erschütterung hervorquillt. Dann wird sie zur Quelle ewiger Jugend, zum „Jungbrunnen“, über den die Alchemisten so viel geschrieben haben.
Besonders aber ist die Träne geeignet, denjenigen zu erkennen, der im Zentrum des fünften Kapitels steht: das Lamm, das wie geschlachtet ist. Denn die Träne kündet von Leid, und das von der Träne getränkte Leid öffnet die Augen, um das Neue zu erkennen, das aus dem Leiden hervorgegangen und auferstanden ist. So erkannte Maria Magdalena den Auferstandenen, weil sie zu seinen Füßen gelegen und um ihn geweint hatte. Das Erlebnis der Maria Magdalena am leeren Grab verkündet es deutlich: Der neue Baum der Erkenntnis wächst nicht mehr in der durch die vier Ströme des Paradieses bewässerten Erde des Gartens Eden; er wächst auch nicht in den Schulen und Akademien des abstrakten und angewandten Wissens, sondern er wächst auf dem Grund der durch die Tränen getränkten Herzen der Menschen.
Wäre aber die Träne das letzte, was dem Menschen zu tun übrig bliebe, so gingen uns zwar die Augen über, weil wir das verlorene Geliebte beklagen würden, wir könnten es aber niemals aus dem Grabe hervorrufen. Lazarus von Bethanien jedoch wurde aus dem Grabe hervorgerufen, weil Derjenige, der ihn beweint hatte wie kein Anderer („Siehe, wie hat er ihn geliebt!“ sagten die Juden am Grabe), auch um den Trost wusste, den die Träne herbeiruft. So war die laute Stimme des erschütterten Menschensohnes, die den gestorbenen Freund rief („Lazarus, komm heraus!“), ebenso aus der Träne geboren, wie das Kommen des Gestorbenen aus dem Grabe, das den trauernden Anwesenden Trost brachte. Christlicher Trost ist eine neue Qualität – das Erleben einer Gnade, die mehr ist als Freude. Sie ist Freude, die im Leid empfangen, gewachsen, gereift, geläutert ist. Und es ist dieser Trost, welchen der eine unter den Ältesten dem weinenden Johannes zusprach, indem er sagte:
„Weine nicht! Siehe es siegte der Löwe aus dem Stamme Juda, der Wurzelspross Davids, um das Buch und seine sieben Siegel zu öffnen.“
Die Apokalypse gibt uns also eine überraschende Botschaft: Die Sendung Christi, sein Durchgang durch Leid, Kreuzigung und Tod geschahen, um das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen. Zwar bezeugte der Täufer Johannes, dass das Lamm gekommen sei, um die Sünden der Welt zu tragen, der Apokalyptiker Johannes aber ergänzt, dass dieses Kommen eine noch viel umfassendere Dimension hatte: die Verwirklichung einer Neuen Schöpfung, des Neuen Jerusalem, der heiligen Stadt des Friedens, in der die Alte Welt überwunden wird die von Ewigkeit her im Plane Gottes lag – in dem Buch mit den sieben Siegeln.
(aus: Michael Frensch, „Unterscheidung der Geister anhand der Apokalypse des Johannes“, Novalis Verlag 2004, S. 175-181, in einer Artikelserie zuerst abgedruckt in der Zeitschrift Novalis.)
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